Boris Grebenshikov


Gorbi war schon da, jetzt kommt Boris Grebenshikow. Obwohl er jahrelang nur im musikalischen Untergrund arbeiten konnte, ist der 36jährige für die 80er Jahre in Rußland dasselbe, was Bob Dylan für die 60er in Amerika war: Superstar, Idol und Guru. Inzwischen darf sich Boris nicht bloß ungehindert zwischen Ost und West bewegen - er Ist auch der erste Sowjet-Musiker, der eine amerikanische Platte aufgenommen hat: RADIO SILENCE, produziert von Eurythmic Dave Stewart. Rolf Lenz traf den "Darling of Glasnost," wie er in den USA schon genannt wird, zum ME/Sounds-Interview in Paris.

ME/SOUNDS: In der Sowjetunion warst du ein sogenannter „inoffizieller“ Musiker – worin liegen eigentlich die Unterschiede zum „offiziellen“ Sowjet-Musiker?

GREBENSHIKOV: „Als russischer Musiker kommst du irgendwann an einen Punkt, wo du dich entscheiden mußt, entweder ehrlich dein Ding weiterzumachen oder dich von den offiziellen Musik-Organisationen wie dem Staatslabel Melodiya vereinnahmen lassen. Die offiziellen Musiker werden propper angezogen, bekommen einen netten Haarschnitt, dürfen in richtigen Konzerthallen spielen, kriegen die Mädchen, die Popularität und ein bißchen Geld – haben aber nie wieder die Chance, das zu spielen, was sie wirklich spielen wollen, und das zu sagen, was sie wirklich denken: alles wird kontrolliert und zensiert, und wer irgendetwas sagt oder singt, was nicht mit der offiziellen Auffassung übereinstimmt, riskiert Job und Karriere.

Ein inoffizieller Musiker war dagegen jemand, der mit den staatlichen Organisationen absolut nichts zu tun, dafür aber auch keinerlei Möglichkeit hatte, seinen Lebensunterhalt legal zu verdienen. Er mußte der Polizei ein Schnippchen schlagen, er mußte so tun, als ob er irgendwo arbeiten würde und hatte jede Menge Alltags-Schwierigkeiten – dafür konnte er sich seinen ureigenen Rock’n’Roll bewahren.“‚

ME/SOUNDS: 1972 hast du deine Band Aquarium gegründet – zog das Repressalien nach sich?

GREBENSHIKOV: „Das kommt darauf an, was man Repressalien nennt. Man hat nicht versucht, mich für 25 Jahre nach Sibirien zu schicken – andererseits war Rockmusiker sicher nicht der angesehenste Beruf, den ich mir aussuchen konnte. Ich habe die Musik gespielt, die mir Spaß gemacht hat – alles andere war mir egal. Es wäre mir nicht egal gewesen, wenn ich ins Gefängnis gemußt hätte, aber es war mehr die Frage, ob man eine Menge dafür riskieren soll, seine Musik zu spielen.

Ich hätte Computer-Ingenieur werden können, einen normalen Beruf haben, gutes Geld, eine nette Familie, vielleicht eine Wohnung – nichts Besonderes, aber das, womit die meisten Leute zufrieden gewesen wären. Stattdessen hat sich meine Band auf einem Festival den Beinamen ,Väter des russischen Punk‘ eingehandelt. Und das, was wir da gemacht haben, hat einer Menge Leute so wenig gefallen, daß sie sich mächtig ins Zeug gelegt haben, um mir einen reinzuwürgen. Sie haben es geschafft: Ich verlor meinen Job und wurde in eine Außenseiter-Rolle gedrängt.

Das war allerdings gar nicht so schlecht, wahrscheinlich sogar das Beste, was mir überhaupt passieren konnte. Von diesem Moment an hatte ich das Gefühl, gegenüber der normalen Gesellschaft keinerlei Verantwortung mehr zu haben, da ich das, was ich tat, eh außerhalb ihrer Normen tun mußte.

Wenn du von richtig gefährlichen Aktionen die Finger läßt, kannst du dich auf diese Art und Weise innerhalb deiner eigenen Welt bewegen, nach deinen eigenen Gesetzen. Du verdienst zwar auch kein Geld, aber das läßt sich immer irgendwie auftreiben. Dafür lassen sie dich in Frieden.“

ME/SOUNDS: Ein Problem, daß wir uns im Westen ebenfalls nur ansatzweise vorstellen können, ist die Beschaffung von Anlagen und Instrumenten.

GREBENSHIKOV: „Es ist immer noch schwierig, etwas wenigstens relativ Gutes zu finden. Sowas kann man in Rußland nicht im Laden kaufen. Dafür bekommt man dort wirklich interessante Instrumente: rare Stücke für jede Sammlung! Nur spielen kann man leider nicht drauf, weil z.B. die Saiten 10 cm vom Hals entfernt sind. Sehen aber ungeheuer beeindruckend aus, die Dinger.“

ME/SOUNDS: Da ihr mit der Monopol-Plattenfirma nicht zusammenarbeiten konntet, gab es eure Musik nicht auf Platten, sondern auf Tonbändern und Cassetten.

GREBENSHIKOV: „Ich habe mit meinen eigenen Händen etwa 70 bis 80 Bänder gezogen, Covers drumgemacht und sie Freunden weitergegeben oder versucht, sie für zwei bis drei Rubel zu verkaufen. Heute kursiert jedes unserer zehn Alben in einer Auflage von zwei bis drei Millionen Kopien – multipliziert mit zehn Alben sind das 30 Millionen. Nicht schlecht für das kleinste Independent-Label der Welt.“

ME/SOUNDS. In welcher Sprache habt ihr gesungen?

GREBENSHIKOV: „Auf Russisch. Ich mußte den russischen Rock’n’Roll erst erfinden, weil alle anderen meinten, sowas könne es nicht geben. Sie behaupteten, die russische Sprache sei für Rock ’n‘ Roll nicht geeignet. Dasselbe haben sie schon Puschkin über russische Dichtung erzählt: Dichtung könne nicht russisch, sondern müsse französisch sein.“

ME/SOUNDS: Die anderen Bands sangen auf Englisch?

GREBENSHIKOV: „Die meisten Moskauer Bands, ja. Eine Menge Leute probierten zwar, Songs auf Russisch zu schreiben, gingen aber von der Prämisse aus, daß die Texte – genauso wie in der üblichen offiziellen Musik – keine Aussage haben sollten. Ich ging von einer völlig anderen Prämisse aus: der des Dichters. Meine Texte sollten eine Aussage haben, und ich wollte mir nicht wie ein Idiot vorkommen, wenn ich sie sang.“

ME/SOUNDS: Nach zehn Underground-Alben seid ihr dann doch beim Staatslabel Melodiya gelandet …

GREBENSHIKOV: „… bei uns haben sie sich aber in keiner Weise eingemischt. Wir haben nur die fertigen Bänder abgegeben. Da hätte ich auch keine Einmischung zugelassen – in alles andere, aber nicht in meine Musik.“

ME/SOUNDS: War diese Nicht-Einmischung der erste Beweis, daß sich in der UdSSR etwas verändert hat?

GREBENSHIKOV: „Absolut. Viele Leute fragen mich, inwieweit Glasnost und Perestroika mich verändert haben. Sie haben mich nicht verändert – ich war schon immer so. Die offizielle Ebene hat sich verändert, und das ist gut so. Mein Kompliment an Herrn Gorbatschow. Gute Arbeit, nach wie vor. Er hat Rußland den Rock’n’Roll-Standards angeglichen.“

ME/SOUNDS: Kenny Schaffer, der New Yorker Kultur-Manager, der dich in den Westen geholt hat, hat die Situation in der UdSSR mal so beschrieben: „Früher war alles verboten, bis auf das, was ausdrücklich erlaubt war. Jetzt ist alles erlaubt, bis auf das was ausdrücklich verboten ist – und was das ist, hat noch keiner festgelegt.“ Teilst du diese Ansicht?

GREBENSHIKOV: „Kenny denkt sehr idealistisch. Wenn es so wäre wie er sagt, wäre Rußland wie New York oder längst im Eimer. Daß nicht mehr alles verboten ist, heißt noch nicht, daß jetzt alles erlaubt ist. Die Leute gehen fast immer den sichersten Weg: Selbst wenn etwas erlaubt ist, warten sie lieber erstmal ab, ob’s jemand anderer probiert und wie es dem dabei ergeht.

Theoretisch sind jetzt freie Unternehmen möglich, sogenannte Kooperativen – praktisch versuchen meine alten Freunde aus der Band seit einem Jahr sowas aufzuziehen, sie haben auch schon die richtigen Leute angestellt, trotzdem klappt es nicht, weil jeder sagt: Jaaaaaa, aber…! Laßt uns lieber warten. Noch zwei Monate. Und noch zwei Monate …“ Nur die Mutigsten machen wirklich etwas: meist die, die gute Connections haben oder ihr ganzes Leben auf dem Schwarzmarkt tätig waren – die haben nichts zu verlieren.“

ME/SOUNDS: Hattest du bestimmte Erwartungen, als du Ende 1987 zum ersten Mal in die USA geflogen bist?

GREBENSHIKOV: „Ich hatte überhaupt keine Erwartungen; ich konnte es auch gar nicht glauben. Erst als ich im Flugzeug saß, fing ich an es zu glauben, aber da war ich immer noch nicht sicher, wo wir landen würden. Nachdem ich in Washington ausgestiegen war, hab ich dann erstmal tief durchgeatmet.

Ich habe allerdings nie große Erwartungen – was passiert, passiert. Was brauche ich die Zukunft? Ich habe die Gegenwart, das ist schon mehr als genug.“

ME/SOUNDS: Gleich bei deinen ersten Besuchen hast du jede Menge Prominenz kennengelernt, von Mike Tyson bis David Bowie…

GREBENSHIKOV: „Kenny hat mich mit vielen Leuten bekanntgemacht – hauptsächlich als Vorwand, um sie selber kennenzulernen. Er hat mich einfach als Eintrittskarte benutzt. Ich kam mir unsäglich blöd vor, das ging immer nach dem Motto: ,Und hier haben wir diesen russischen Exoten.. .‘ Wenn mir irgendwer einen unbekannten chinesischen oder mongolischen Rockmusiker vorstellen würde, würde ich fragen: ,Na und?“

Wenn sie schon mal von mir gehört hätten, wäre es ja okay gewesen, aber so? Nur David Bowie kannte mich, der hatte sogar schon Sachen von Aquarium gehört, er wußte Bescheid und war tatsächlich an mir interessiert.“

ME/SOUNDS: Für deinen jetzigen Produzenten Dave Stewart hast du schon in Leningrad geschwärmt.

GREBENSHIKOV: „Ja, ich bewundere die Eurythmics immer noch. Sie sind eine der ganz wenigen Bands in den 80ern, die wirklich etwas bewegen – gar nicht mal so sehr musikalisch; die Musik ist mir völlig wurscht dabei. Musik war und ist immer nur ein Vehikel.

Meine Vorstellung von Musik und allem, was damit zu tun hat, ist ähnlich der des sechsten, siebten Jahrhunderts, als es noch Barden gab. Ich bin mit der keltischen Tradition großgeworden. Ein Musiker ist für mich wie ein Barde: einer, der viel weiß und deshalb viel zu sagen hat. Er gibt den Leuten etwas, und zwar in Form eines Lieds. Die Musik übermittelt und – wenn sie gut ist – verstärkt die Botschaft des Barden.

Aber auch wenn ich nur der Musik und nicht dem Text zuhöre, erfahre ich schon eine ganze Menge: durch die Art wie die Melodie strukturiert ist, durch die Harmonien und das Arrangement.“

ME/SOUNDS: Das sagst du ausgerechnet hier im Westen, wo es immer mehr Musik gibt, die tatsächlich allenfalls noch Unterhaltungs-Wert hat.

GREBENSHIKOV: „99 Prozent – aber was soll’s? Wenn die Leute das kaputtmachen wollen, was eigentlich in ihnen steckt, indem sie sich wie Arschlöcher benehmen – bitte, mich juckt’s nicht. Ich kann mich nicht für jeden verantwortlich fühlen, ohne genau zu wissen, was sie da eigentlich tun, müssen sie auch die Folgen tragen. Guck dir doch die Sterblichkeitsrate unter Rock’n’Rollern an – sowas kommt davon.“

ME/SOUNDS: Stichwort Sterblichkeit: Mit welchen Drogen bringt man sich in Rußland um?

GREBENSHIKOV: „Die mit Abstand populärste Droge ist der Alkohol. Und wenn du erstmal genug Erfahrung damit hast, kannst du auf Alkohol genauso high werden wie auf Acid oder Ecstasy. Du mußt bloß deine Aufmerksamkeit auf die richtige Dinge konzentrieren. Ecstasy mag die perfekte Droge sein, aber dasselbe kann ich mit Single Malt-Whisky auch erreichen, wenn ich ihn richtig einsetze.“ ME/SOUNDS: Kennt man in Rußland Acid und Ecstasy? Wird bei euch gekifft?

GREBENSHIKOV: „Ecstasy kennt keiner, und von Acid haben ein paar Leute schonmal was gehört – aber höchstens einer unter 10000 hat’s je probiert. Haschisch kommt hauptsächlich aus Afghanistan, das war schon vor dem Krieg so. Und in all unseren asiatischen Republiken gibt’s das natürlich, in Kasachstan und so. Da ist jeder, den du auf der Straße triffst, stoned: Bullen rauchen, Bonzen rauchen, alle rauchen. Das geht aber auch schon jahrhundertelang so, die kennen das gar nicht anders.“

ME/SOUNDS: Du hast dein „West“-Album mit russischen und englisch/amerikanischen Musikern aufgenommen. Bestehen wesentliche Unterschiede?

GREBENSHIKOV: „Ich hasse die Musiker in Rußland – ich hasse sie, weil ich sie liebe. Ich kann mich einfach nicht mit der Tatsache abfinden, daß sich praktisch jeder russische Rockmusiker für zweitklassig hält. ,Die wirklich Großen sind eh im Westen, und wir probieren nur, sie nachzumachen.‘ Fuck You! Ich habe mich darüber schon so oft mit meinem Cello-Spieler gestritten, der immer meinte:, Wir müssen üben, üben, üben, und vielleicht sind wir dann in 12 Jahren mal soweit wie die Leute im Westen.‘ Scheiße!“

ME/SOUNDS: Die Reise-Bedingungen scheinen sich deutlich vereinfacht zu haben.

GREBENSHIKOV: „Das wird immer besser. Ich bin in einer vollkommen einzigartigen Position: der erste Russe überhaupt, der wie eine normale Person ein- und ausreisen darf. Ich muß gar nicht mehr lange um ein Visum betteln – wenn ich raus will, kriege ich eins. Dafür soll ich ihnen Geld ins Land bringen.“

ME/SOUNDS: Hat dein neues Leben zwischen den Machtblöcken alte Freunde in Rußland vergrätzt – hast du zu Hause Neider?

GREBENSHIKOV: „Ich weiß nicht, ob es da Neid gibt; wahrscheinlich gibt’s ihn, aber sie zeigen ihn nicht. Die Leute stehen auf alles, was wir gemacht haben – sie behandeln mich und die Band fast wie Gurus. Selbst wenn ihnen das, was jetzt passiert, nicht gefallen würde, würden sie’s nie laut sagen.

Die Leute sind sich natürlich nicht sicher, ob ich mich jetzt verkaufen werde, ob ich zum Westler werde und sie vergesse. Ich werde sie nie vergessen! Natürlich interessiert sie, was bei alldem jetzt herauskommt. Die Tatsache, daß ich jetzt hier sitze, Interviews gebe und westliche Alben in englischer Sprache aufnehme, schmeckt sicher einer Menge Leute überhaupt nicht. Die meinen, ich sollte lieber dort sein, Konzerte in Sibirien geben und russische Sachen aufnehmen.“

ME/SOUNDS: Manche westliche Kritiker finden dagegen, du solltest ruhig ein bißchen „russischer“ und „eigener“ sein. In einer Konzertkritik der New York Times stand, daß du dich von der Band unterbuttern lassen hast und damit wie jeder xbeliebige Ami-Rocker gewirkt hast. Der Schreiber empfiehlt dir, solltest jetzt die Chance nutzen und deine Nonkonformität ausspielen.

GREBENSHIKOV: „Ja, verstehe ich, aber darum ging’s mir ja gar nicht. Ich weiß, was ich musikalisch draufhabe, und wurde jahrelang daran gehindert, es so zu machen, daß es nach westlichen, speziell amerikanischen Standards eingängig klingt. Natürlich hätte ich hier jetzt auch Sachen bringen können, bei denen sich die Leute an den Kopf langen, aber ich wollte nicht in die Exoten-Ecke. Ich möchte einfach nur ein Rockmusiker sein wie alle anderen, bloß daß ich halt aus Rußland komme. Daß meine Songs anders wirken, werden die Leute spätestens merken, wenn sie sie zum zweiten oder dritten Mal hören.

Es gibt einfach bestimmte Gesetze in der Musik und bestimmte Gesetze in der Dichtung. Niemand behandelt Rock’n’Roll wie Dichtung – vielleicht ein Prozent denkt ernsthaft so, Morrissey und solche Leute. Aber es gibt bestimmte Gesetze in der Dichtung, die mit dem menschlichen Hirn bestimmte Dinge anstellen. Das ist wieder wie mit Zaubersprüchen: bestimmte Vokale in der richtigen Reihenfolge, Eindeutigkeiten, Zweideutigkeiten, Dreideutigkeiten. Und man muß brutal ehrlich zu sich selber sein. Einen guten Song zu schreiben, heißt für mich, mich zu schneiden, wie mit dem Rasierer. Jedesmal, wenn’s blutet und weh tut, weiß ich, daß ich zu mir selbst durchgedrungen bin und damit auch zu denen durchdringen werde, die den Song dann hören.“