Der zweite Bildungsweg


War Rockmusik nur das Vehikel für seine Texte? Inzwischen fordert der Dichter in Lou Reed immer mehr sein Recht.

Er steht auf Pünktlichkeit — und haßt kaum etwas mehr als Interviews. Fast auf die Minute genau zum vereinbarten Termin schlendert er in die Lobby eines New Yorker Nobel-Hotels und grummelt ein paar Begrüßungsworte. Er taut erst auf, als er mit sichtlichem Stolz von seinem jüngsten Opus berichtet: Ein New Yorker Verlag gab ihm die Möglichkeit, im Gedichtband „Between Thought And Expression“ seine Lieblingstexte zusammenzustellen. „Ich habe 400, 500 Songs durchgeackert und die ausgewählt, die auch ohne Musik für sich stehen“, erklärt der Ex-Poetik-Student, der sich schon immer zu Höherem berufen fühlte. „Ich wollte den großen, klassischen amerikanischen Roman schreiben — und dafür einen Rock-Song als Vehikel benutzen. Ich sah Rock ’n’Roll als ernstzunehmende Kunstform. „

Dem Buch hat der verhinderte Romancier gleich noch auf Vinyl gepreßte neue Lyrik hinterhergeschoben. Auf seinem jüngsten Album MAGIC AND LOSS leistet Reed „Trauerarbeit“: In den Texten setzt er sich mit dem Schicksal zweier Freunde auseinander, die 1991 an Krebs starben: Songwriter-Veteran DOC Pomus („Save The Last Dance For Me“) und eine nur unter ihrem Vornamen Rita bekannte New Yorker Szene-Größe. Reed, der früher so ziemlich alles schluckte und spritzte, das high macht, reflektiert über sein Leben: „Ich bin jemand, der schon 500 Mal hätte sterben sollen … mindestens 500 Mal — irgendwann zählte ich nicht mehr mit! Man sagt, daß Gott Narren und Betrunkene beschützt. Vielleicht trifft auf mich immer noch der erste Begriff zu, der zweite scheidet auf jeden Fall aus. “ Der fast 50jährige Rock ’n‘ Roll-Survivor wird seine Einsichten künftig auch live an mehreren Kultur-Fronten verkünden. Neben seinen Konzerten („Ich nenne sie nicht mehr Shows, sondern Performances!“) will Reed seinem Publikum verstärkt Dichterlesungen anbieten, wobei es ihn in diesem Jahr auch in deutsche Lande zieht. Die Frage, ob die deutschen Zuhörer dabei eine Simultanübersetzung benötigen, bewegt den Meister so sehr, daß er den Terminplan für die folgenden Interviews kurzerhand über den Haufen wirft.

Zwei Erlebnisse haben Lou Reeds Verständnis für die Bedürfnisse der Journalisten-Zunft ganz erheblich vergrößert. Bei Interviews mit seinen beiden Dichter-Kollegen Vaclav Havel (im Nebenberuf CSFR-Präsident) und Hubert Selby („Last Exil To Brooklyn“) trat er selbst als Fragesteller auf: „Diese Interviews waren so nervenaufreibend, daß ich es kaum aushallen konnte! Es ist schlimm genug, interviewt zu werden — aber selbst Interviewer zu sein, war unerträglich. Ich dachte die ganze Zeit, die Batterien des Aufnahmegerätes würden den Geist aufgeben.“

Vaclav Havel überreichte Reed beim Treffen in Prag ein handgedrucktes Büchlein mit 200 seiner Song-Texte, die ins Tschechische übersetzt worden waren und deren Besitz laut Havel lange unter Strafe stand. „Ich konnte mir kein größeres Kompliment vorstellen, ich war sprachlos!“, erinnert sich Reed.

„In diesem Stil ging es damals in der Tschechoslowakei weher: Da saß ich in einem Club und hörte mir an, wie meine Songs von Leuten gespielt wurden, die diese Sachen bis ins Knochenmark verinnerlicht hauen. Sogar jetzt kann ich es immer noch nicht glauben! Zum Glück war meine Frau dabei. Das ist einer der Vorteile, verheiratet zu sein: Meine Frau war dabei, es ist wirklich passiert, ich bin nicht verrückt geworden!“

Die Frage nach dem Verhältnis zu seiner Heimatstadt New York, wo er mit Frau Sylvia und seinem Hund Champion Mr. Sox lebt, bringt wieder den Grantier zum Vorschein. Nach einer Lobeshymne auf New York City („Es gibt keine andere Siadt — so ist es nun mal“) schießt er sich schnell auf den Regisseur Oliver Stone ein. „Es war eine Schande, wie er meine Musik in seinem Doors-Film verwendet hat. Wenn ich gewußt hätte, daß im Film Leute wie Andy Warhol bloßgestellt werden und im Hintergrund meine Musik läuft, um dem noch mehr Glaubwürdigkeit hinzuzufügen, hätte ich nie im Leben mit Stone zusammengearbeitet! Wenn sein Film über John F. Kennedy all die Sensibilität und Wahrheitsliebe des Doors-Film enthüllt, dann braucht sich wirklich keiner den neuen Streifen anzutun. Er wird wohl eher in die Fantasy-Ecke gehören.“