Die Charlie Chaplin-Story



Wie die Leute lachen lernten

1916 steht Charlie am New Yorker Times Square und liest die riesige Laufschrift am Gebäude des Magazins: „Charlie Chaplin mit 650000 Dollar Jahresgage von Mutual engagiert.“ In der Tat, mit jedem neuen Vertrag stieg seine Gage. Er lieferte dafür auch einen Bombenstreifen nach dem anderen: „The Floorwalker“ (Der Ladenaufseher) mit irren Gags an einer Rolltreppe; als „The Fireman“, dem unfähigsten der ganzen Station; als Betrunkener in „One A.M.“ (Ein Uhr nachts), den der berühmte Tucholsky so beschrieb: „So viele verschiedene Arten, eine Treppe herunterzufallen, habe ich noch nie gesehen. Er rollt herauf und trudelt herunter, er steigt O-beinig nach oben und kommt kopfüber nach unten, er kämpft, er haßt, er streichelt die Treppe, er versucht es mit Gewalt und mit Pathos, mit letzter Verzweiflung und mit Koketterie — es geht nicht. Einmal setzt er alles auf eine Karte und auf seine zwei Spiritusbeine und tobt nach oben, als hätte es nie Schwierigkeiten gegeben . . . Und kommt mit dem ganzen Treppenläufer wieder unten an, liegt eingewickelt da und trinkt sofort, noch auf der Erde, einen kleinen Erholungsschnaps . . . Und was dann noch alles mit dem Uhrpendel und unter der Brause geschah, das weiß ich nicht mehr denn ich habe mich aus dem Leim gelacht.“

Charlie bringt Gags am laufenden Filmmeter. In „Easy Street“‚ biegt er einem dicken Raufbold die Gaslaterne über den Kopf und bläst ihn mit Gas an. Er steckt voller Ideen. So meinte er einmal beim Anblick einer riesigen Zugbrücke auf dem Außengelände einer Filmfirma: „Großartig. Das wäre ein herrlicher Anfang für eine meiner Filmkomödien: Die Zugbrücke geht herunter, ich komme heraus, lasse die Katze an die Luft und hole die Milch „rein.“

Noch 1917 bezieht Charlie ein eigenes Atelier in Hollywood; endlich ist er unabhängig und kann arbeiten, wann und wie er will. Als erstes entsteht „A Dog’s Life“, eine Parallele zwischen dem Dasein eines herrenlosen Hundes und dem Leben des Tramp. Nun zeigt der sonst rennende, springende, boxende, blödelnde und auch tolpatschig-naive Tramp Gefühle. Chaplin hatte die Figur erweitert und sich so eine gute Möglichkeit geschaffen, komplexere Handlungen zu realisieren. In späteren Filmen wie „Goldrausch“ oder „Die feinen Leute“ ergeben sich Verwicklungen und Situationskomik dann auch aus versagter oder verheimlichter Liebe.

Chaplins Ideenrezept

Wer Chaplin in einem (oder am besten in vielen) seiner Filme gesehen hat, wundert sich stets aufs neue über die Ideenfülle. Nie wendet er einen Trick zweimal an, nie wiederholt sich ein Gag. Als hätte er erstklassige Gagmen beschäftigt, jene hochbezahlten Ideenbrüter, von denen spätere Hollywoodkomiker leben. Doch bei Charlie ist alles Eigenbau. Er erklärt das so: „Im Laufe der Jahre habe ich entdeckt, daß Einfälle kommen, wenn man sie intensiv genug herbeiwünscht; durch das unablässige Wünschen verwandelt sich der Verstand in einen Späher, der von seinem Ausguck nach allen Geschehnissen Ausschau hält, die die Einbildungskraft anregen könnten – Musik, ein Sonnenuntergang, alles, was Stimmung schafft. Grundsätzlich würde ich sagen: Man nehme einen anregenden Gegenstand, betrachte und befühle ihn aufmerksam von allen Seiten, und falls man nichts daraus machen kann, werfe man ihn fort und ergreife einen anderen. Aus dem Zusammengetragenen auswählen — das ist die Methode, das zu finden, was man braucht.“

Man kann das getrost als Gebrauchsanleitung für Kreativität nehmen. Was Chaplin hier ohne Studium aber aus unermeßlicher Erfahrung vermutet, ist nichts anderes als das, was auch die moderne Psychologie in punkto Ideenproduktion zu sagen hat.

Im Dienste des Friedens

A propos Produktion und zurück zur Biographie: Nach „A Dog’s Life“ dreht Chaplin im Herbst 1918 einen Propagandafilm für die amerikanischen Kriegsanleihen. Dazu macht er eine Werbereise in den Süden der Vereinigten Staaten und trifft den ehrwürdigen Richter Henshaw in Augusta/Georgia, eine Figur, die seinen Filmen entsprungen sein könnte.

Jener Bilderbuch-Gentleman, grauhaarig, in würdevolles schwarz gekleidet, versichert Chaplin auf der Fahrt vom Bahnhof zum Festempfang: „Wissen Sie, weshalb ich Ihre Komödien schätze? Sie kennen sich mit fundamentalen Grundwahrheiten aus – Sie wissen, daß der würdeloseste Teil der Anatomie eines Mannes der Arsch ist, und ihre Komödien beweisen das.“ In der Tat, keiner seiner Filmgegner sah gut aus, nachdem ihm Charlie einen kräftigen Tritt versetzt hatte.

Nach der regierungsfreundlichen Tournee arbeitet Chaplin mit eigenen Mitteln gegen den unsinnigen Krieg: mit Unsinn. In „Shoulder Arms“ (Gewehre über!) schafft er den gelungensten Anti-Kriegsfilm der Zeit; nur er kann ungestraft und erfolgreich mit dem Entsetzen Scherz treiben und Staatsoberhäupter aller Farben und Himmelsrichtungen durch den Kakao ziehen. Zusammen mit drei Freunden und Kollegen wurde inzwischen die United Artists, die eigene Filmfirma, gegründet. 1920 beginnen die Dreharbeiten zu „The Kid“. Chaplins erstem Langfilm. Und damit auch ein neuer Abschnitt im Leben und Schaffen des großen Künstlers.

The Kid

Wie gesagt, Charlie Chaplin war, als er 1920 im eigenen Studio mit den Dreharbeiten für seinen ersten Langfilm begann, bereits so berühmt, daß allein ein Schild „Heute Chaplin“ jedes Kino in den USA randvoll machte.

Mit dem vierjährigen Jackie Coogan als Partner entsteht „The Kid“, „ein Film mit einem Lächeln, vielleicht auch mit einer Träne“ wie Chaplin selbst im Vorspann ankündigt. Charly, der Tramp, findet ein Baby, zieht es groß und läßt sich dann von dem Kind ‚bei der Arbeit helfen‘. Als Glaser repariert er die Scheiben, die der Benge! begeistert und treffsicher einwirft. Später finden beide die Mutter des Jungen, die sie einlädt, bei ihr zu bleiben.

Wie alle vorherigen Chaplin-Streifen wird auch dieser Film ein riesiger Erfolg – wenn auch nach einigen Aufregungen, die aus dem Drehbuch einer Charlie-Komödie stammen könnten. Zur Zeit der Fertigstellung kriselt es kräftig in Chaplins Ehe; es geht drunter und drüber, wie der Filmchronist Terry Ramsaye berichtet: „Da die Gefahr bestand, daß das Negativ des noch ungeborenen ‚Kid‘ durch die Alimenten-Klage gepfändet wurde, eilte Chaplin mit dem Negativ gen Osten. In New York verfolgten die Beauftragten der Anwälte Chaplin von Hotel zu Hotel und treppauf, treppab. Das Negativ war währenddessen in einem durch die Stadt kreuzenden Taxi verstaut, von Chaplins Presse-Agent Carlyle Robinson bei dem unaufhörlichen Transit sorgsam bewacht. Wenn es bei der Jagd nach ‚The Kid“ zu brenzlig wurde, wechselte das filmbeladene Taxi in benachbarte Staaten über, nach New Jersey, nach Connecticut, Berg ‚rauf und Berg ‚runter und über Brücken und Fähren. Diese Blechbüchsen enthielten eine Welt des Lachens, und für Chaplin ein Vermögen. Sie kamen schließlich zur Ruhe im fernen Utah, wo die regionalen Gesetze den Griff nach ihnen etwas erschwerten. Hier kam Chaplin wieder zu Atem und schnitt in Frieden seine Komödie, während die Anwälte in Los Angeles verhandelten“.

Neues vom Tramp

Der realen folgt die filmische Komödie. In „The Idle Class“ (Die feinen Leute) erlebt der Tramp alle Vergnügen der reichen Klasse. Er reist in den Süden – unter den Eisenbahnwaggons statt in ihnen; er spielt Golf – mit Bällen, die er auf dem Golfplatz findet; eine Dame verwechselt ihn in seinem Aufzug bei einem Kostümfest mit ihrem Mann — bis der Schwindel auffliegt.

Nach Abschluß der Dreharbeiten unternimmt Chaplin eine ausgedehnte Europareise und wird überall wie ein König empfangen. Selbst auf Bahnhöfen, wo sein Zug nicht hält, finden sich unzählige Fans ein; in Paris verleiht man ihm das Kreuz der Ehrenlegion, in London trifft er berühmte Autoren wie Shaw und Wells. Europa hat Chaplin-Fieber.

Zurück in den USA beginnt Chaplin nach „Woman Of Paris“ 1924 mit den Arbeiten zu „Goldrush“ (Goldrausch). Fotos von Goldschürfern, die vereiste Abhänge in Alaska erklettern und fast unmenschliche Strapazen auf sich nehmen, hatten ihn zu dem Film über den Goldrausch am Klondyke-Fluß inspiriert. Der Sache liegt eines der größten Dramen des amerikanischen Westens zugrunde: Eine Gruppe von 87 Siedlern wird auf ihrem Weg nach Kalifornien von einem Schneesturm überrascht. Als man sie schließlich retten kommt, hat sich inzwischen die eine Hälfte der Gruppe von der anderen ernährt.

Charlie macht daraus einige seiner berühmtesten Gags (ohne direkt auf die Siedler anzuspielen; bei ihm dreht es sich um Goldsucher): wie der Tramp, von Hunger geplagt, seinen Schuh kocht und frißt und dabei in der Art eines Feinschmeckers die Schuhnägel wie Knochen abnagt; wie der Tramp sich in den Augen seines hungrigen Kameraden in ein gebratenes Hühnchen verwandelt oder wie er nach einem Schuß auf ein Wild sofort Teller, Besteck und Salz auf den Tisch stellt.

Tonfilm ohne Charlie

Es kam der 6. Oktober 1927, und in New York spielte man „The Jazz Singer“ mit AI Jolson in der Hauptrolle. Eine Sensation war da, denn Jolson sang nicht nur sein berühmtes „Dirty Hands, Dirty Face“, er sprach auch direkt von der Leinwand zum Publikum. Von da an war der Film nicht mehr derselbe. Überall in Hollywood sprach man vom Tonfilm, die Kinos ließen sich Zusatzgeräte einbauen, neue Stars, vor allem von den Broadway-Bühnen, suchten ihre Chance, die Helden des Stummfilm zitterten. Nur Charlie blieb ungerührt. Er konnte nicht so recht an die große Zukunft des Tonfilms glauben, nachdem er ein paar Probeaufnahmen gehört hatte: ein Ritter in voller Rüstung machte den Krach einer Maschine, und goß jemand Wasser in ein Glas, so erklang eine Tonfolge bis zum hohen C. Die Startschwierigkeiten waren groß; man behalf sich à la Hollywood: MGM präsentierte mit der ersten „Broadway Melody“ eine abgefilmte Bühnenshow, die mehr der Zugkraft der Bühnenstars als den Möglichkeiten des neuen Mediums vertraute und eine Lawine ähnlicher Streifen auslöste.

Chaplin drehte 1928 „The Circus“, drei Jahre später „City Lights“ (Lichter der Großstadt) und weitere fünf Jahre später „Modern Times“ (Moderne Zeiten) – als Stummfilme. Selbst Freunde zweifelten an Chaplins sonst so wachem Geschäftsverstand, da alle Welt mit Ton drehte. Schließlich erwies sich seine Ansicht als richtig, er konnte sogar erhöhte Eintrittsgelder kassieren und hatte wirklich gute Gründe vorzuweisen: „Tonfilm würde bedeuten, daß ich mich von der Rolle des Tramp ein für allemal lösen müßte. Es gab Leute, die vorschlugen, daß der Tramp sprechen soll. Das war undenkbar, denn mit dem ersten Wort, das er ausspräche, würde sich seine Persönlichkeit ändern. Die geistige Schablone, aus der er geboren war, war ebenso stumm wie die Lumpen, die ertrug.“

Zum anderen hatte sich das ganze Klima der Filmmetropole geändert: „Mit dem Erscheinen des Tonfilms war der Charme und die Sorglosigkeit Hollywoods verschwunden. Über Nacht war aus der Filmproduktion eine kalte, berechnende und ernsthafte Industrie geworden. „Das läßt sich schon daher erklären, daß mit den hohen Investionskosten für den Tonfilm Finanzgruppen auf den Plan traten und die meisten Filmgesellschaften in den Besitz von Banken übergingen.

Chaplin hatte in all den Jahren Glück. Nie hatte er sein persönlich investiertes Geld durch einen seiner Filme verloren; solange er auf sich baute, hatte er alle Trumpfkarten der Traumfabrik in der Hand. Amerikas Zeitungszar Hearst hingegen, der mit unbegrenzten Möglichkeiten eine Favoritin zum Star machen wollte, verlor über 7 Millionen Dollar . . .