Die großen Trends gibt’s derzeit nicht


Dieter Gorny, 45 und als Chef von VIVA der deutsche Pop-Papst, über unterschätzte Kids, große Chancen und die Tragik fehlender Trends.

Herr Gorny, wie ist Ihr Jahr verlaufen?

„Das muß ich in zwei Teile unterteilen. Der erste Teil war (grinst) – wie immer – erfolgreich, allerdings begleitet von leichten Signalen, die auf Veränderung hindeuten. Nicht nur für die VIVA-Sender selbst, auch bezogen auf die Plattenindustrie und die generell aufbrechende Medienlandschaft. Richtig greifbar wurde dies aber erst im zweiten Teil des Jahres: 1998 ist das Jahr der großen Veränderungen. Wir arbeiten in einer sehr personenbezogenen Branche – und auf einmal merkt man, wie Personen, die man lange kannte, plötzlich verschwinden.“

Von Ihnen stammt der Satz, Pop habe ausgedient als Tragermedium für gesellschaftliche Gegenentwürfe. Das trifft angesichts der aktuellen Katerstimmung in Bonn offenbar auch auf die SPD zu.

„Das ist gar nicht mal so falsch. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß wir jetzt wieder einen Schritt zurückgehen sollten. Vielleicht müssen wir dafür sorgen, daß Pop – als winziger Teilbereich dieses Gesamtgebildes der gesellschaftlichen Kultur – wieder gegenentwurfsfähig wird.“

Auch Gerhard Schröder ist nach der Wahl auf einmal nicht mehr der Pop-Star, zu dem er vorher aufgebaut wurde.

„Das hat damit zu tun, daß die Hoffnung auf einen Aufbruch derzeit betrogen wird, weil es keinen wirklichen gesellschaftlichen Aufbruch gibt. Ich hoffe allerdings, daß Schröder sich durchsetzt.“

Immerhin hatten sich bei dieser Wahl wesentlich weniger Pop-Stars vor den SPD-Wahlkampfszug spannen lassen als vor ein paar Jahren zum Beispiel bei der „Grünen Raupe“.

„Dafür haben hinter den Kulissen wesentlich mehr Gespräche zwischen Schröder und den Kreativen stattgefunden, als das früher üblich war. Aber das, was bislang rausgekommen ist, hat noch keine Bewegung erzeugt. Das Problem ist doch, daß wir plötzlich wieder auf einen restaurativen Kulturansatz stoßen, der die große Chance vertut, diese wohlfeilen Marketing- begriffe wie „lugend“, „Zukunft“ oder „Aufbruch“ nicht nur auf wirtschaftliche, sondern auch auf tatsächlich kulturelle Aspekte hin zu definieren. Das vermisse ich.“

Da muß ich dem SPD-Mitglied Dieter Gorny die Gretchenfrage stellen: Wo, bitte schön, ist denn heutzutage links?

„Ich bin nicht als SPD-Mitglied aktiv, sondern als Medienunternehmer. Und weil ich Medien-Machen nicht nur darüber definiere, wie ich meine unternehmerische Position verbessern kann, sondern einen gesellschaftspolitischen Ansatz habe, engagiere ich mich auch weitergehend. Zu Ihrer Frage: Ich würde eher unterscheiden zwischen politisch bewahrendem Denken und politisch visionärem Denken – vielleicht sogar mit einem Stück Illusion und Hoffnung. Das hat man früher als links bezeichnet, aber der Begriff und die potentiellen Vorzeigemodelle passen nicht mehr.“

Immerhin: Kohls Lieblingsmusiker ist Franz Lambert, Schröder steht wenigstens schon auf die Scorpions.

„Ob es nun Franz Lambert oder Klaus Meine ist – das ist in der Tat ein Fortschritt. Aber wir sind noch immer meilenweit von dem entfernt, was für die lugendlichen die Zukunft ausmacht. Es gibt doch auch Bereiche zeitgenössischer Kunst, die sperrig sind, damit aber Impulse setzen. Ich habe kein Problem mit Kommerzialität. Immer, wenn aus Kultur Kunst wird, ist der Markt im Spiel. Das nimmt dem künstlerischen Produkt doch nicht seine Aussagekraft. Eine Band, die drei Millionen CDs verkauft, muß deshalb nicht scheiße sein. Was wir aber finden müssen, ist ein besseres Vehikel, in dem Kunst, Politik und Gegenwart verbunden werden können. Der Kanzlerkandidat war kurz vor der Wahl 54 Jahre alt – genau so alt wie Mick lagger. Mit jugendlicher Sozialisation hat das nichts zu tun. Wenn man sich aber die Studie ansieht, die die Kollegen von der „Bravo“ bei den 14- bis 18jährigen gemacht haben, erkennt man einen gigantischen Vertrauensvorschuß, den die Politik bei der Wahl bekommen hat. Man sieht ein konkretes Interesse an und eine ganz große Hoffnung in dieser Politik. Das kann man nicht einfach abtun.“

Wie soll die Diskussion von Pop und Politik anlaufen. Es reicht doch nicht, Ricky, Nena und Peter Maffay beim Bundespräsidenten zum Nachmittagstee einzuladen?

„Grundsätzlich ist die Politik gut beraten, wenn sie mit den Kreativen in einen Diskurs tritt. Das kann die Garage oder der Klub sein, genauso auch der etablierte Künstler. Aber dahinter darf nicht das Denken stehen, daß Kultur nur ein Ornament ist, das eigentlich nichts mit Politik zu tun hat. Dann nämlich bekommen wir eine Situation wie in England, wo sich die Pop-Musiker von Blair inzwischen verarscht fühlen und sich abwenden. Aber: Ist es hierzulande vorstellbar, daß sich Peter Maffay mit Oskar Lafontaine über die Steuerpolitik streitet? Es fehlt also der Diskurs, in dem der Pop-Musiker jetzt sagen könnte: „Das ist eine Scheiß-Steuerpolitik, Oskar, das kannst du nicht machen!““

Die Musiker in Deutschland scheinen mit den Jahren ohnehin immer unpolitischer geworden zu sein?

„Ja, aber ich bin mir ganz sicher: Hätte man rechtzeitig bei ihnen auf den richtigen Knopf gedrückt, hätten sie geredet. Ein paar haben sich eingemischt, wenn auch nur kurz.“

Erstaunlich, wie dreist sich Politiker bei der Eigenwerbung der Mechanismen des Pop-Marketings bedienen, ohne diese vermeintliche Modernität dann in konkrete Politik umzusetzen.

„Das Problem ist doch: Mit der Politik verhält es sich wie mit einem duften Pop-Song. Die Botschaft muß so nivelliert sein, daß sie – wie beim Pop-Song – von Millionen Leuten gekauft wird. Sobald aus diesem nivellierten Ansatz ein individualisierter wird, schrumpft der Markt, und es wird für den Politiker wie für den Künstler schwierig. Beim Künstler ist das in Ordnung. Der kann eckig und unangepaßt sein. Der Politiker hat diese Chance nicht.“

Vorschlag: Jeden zweiten Montag im Monat trifft sich die Regierung in Dieter Gornys Büro mit den Künstlern des Landes?

„Was wir aber brauchen, ist eine Renaissance der Gesprächskultur: Leute treffen sich, die sonst nicht miteinander sprechen. Alle jungen Kreativen: Kunst, Mode, Film, Fotografie, Musik, Labels. Wenn wir unseren Wirtschaftsstandort behalten wollen, brauchen wir Inhalte und Emotionen. Die Leute interessiert doch einen Dreck, worauf z.B. Musik gepreßt wird -CD, Chips oder was weiß ich. Wir diskutieren zu viel über Lötstellen, anstatt z.B. sich Leute zu holen, die Internet als echte Vision betreiben. Du brauchst eher den Erfinder von Lara Croft als einen Programmierer, der „Windows“ verbessern kann, eher den jungen Designer als Karl Lagerfeld, eher den kleinen, unabhängigen Labelchef als den großen Industrieboss.“

Statt dessen diskutiert man stundenlang darüber, wie das Internet und das deutsche Urheberrecht in Einklang gebracht werden können.

„Das ist zweifelsohne wichtig. Zunächst bleibt es ja aber bei dem physikalischen Produkt – der CD. Die wird erst einmal über ein weiteres Medium – das Internet – vertrieben. Das ist nichts Schlimmes. So könnte man auch bei VIVA im laufenden Programm später einmal einen Link in ein VIVA-Kaufhaus schalten, in dem man sich die Musik gleich bestellen kann. Es wird sich nämlich der Computer ins Fernsehen hineinentwickeln und nicht – wie bei der D-Box – das Fernsehen computerisieren. Bei der anderen Geschichte, den MP4-Playern, die man mit Musikdaten direkt aus dem Internet füttert, bin ich eher naiv und sage: Naja, solange es cool ist, den neuen Prince-Song im Internet zu performen, ist das chic. Prince, Aerosmith oder die Stones haben Songs zum Runterladen im Netz und sagen: „Boah – bin ich zukunftsträchtig!“ Sobald es aber dazu führt, daß die Künstler selbst kein Geld mehr verdienen können, weil ihre Produkte überall kostenlos im Web herumschwirren, dann werden sie die ersten sein, die gemeinsam mit der Industrie einen Sperr-Riegel vorschieben werden. Es kann doch nicht deren Ziel sein, ausgeraubt zu werden. Dann hört es auf mit der Demokratisierung dieses Mediums.“

Warum ist VIVA eigentlich noch nicht im Web?

„Mit dem Geld, das ein Internet-Auftritt kosten würde, kann ich im Moment wesentlich sinnvoller eine interaktive Call-ln-Sendung produzieren. Im Grunde sind wir viel analoger, als wir immer tun.“

Und viel braver, als es die bunten TV-Bildchen glauben machen.

„Ach, es gibt schon noch ganz guten Krach: Guano Apes, Marilyn Manson, Rage Against The Machine. Man kann noch ! mmer so viel Krach machen, daß die breile Konsumentengeneration abschaltet.“

VIVA dudelt den ganzen Tag nette Musik vor sich hin. Das brachte dem Sender die Kritik ein, die Kids würden keine CDs mehr kaufen, weil sie die Musik rund um die Uhr kostenlos ins Haus gesendet bekommen.

„Ich mußte feststellen, daß dies nichts daran ändert, daß die Kids auf ganz bestimmte Sachen sehr scharf sind. Erst gestern hatte ich eine erregte Diskussion im Hause Gorny, weil die Lieblings-CD von meiner Tochter – Xavier Naidoo – verschwunden war. Ich glaube nicht, daß VTVA ein Ersatz sein kann für eine klare, produktbezogene Emotion. Im Dance-Bereich mag das zum Teil anders sein. Dance irgendwo hören und Dance kaufen, muß nicht so sehr miteinander verknüpft sein. Aber wenn ich mir die Jugend ansehe, spüre ich, daß solche Bewegungen in Zyklen ablaufen. Als Romantiker und Optimist glaube ich daran, daß es einen Backdrop gibt. Daß die Leute wieder in die Oper gehen, wieder Zeitschriften lesen, wieder konkrete musikalische Botschaften bevorzugen werden.“

Damit stirbt Techno.

„Soziologisch gesehen war Techno richtig spannend: Leute rotten sich unter einer Klangglocke zusammen, kommunizieren miteinander, und ehe man daraus kommerziell was machen kann, sind sie schon wieder weg. Vom Demokratisierungsaspekt der Musik war das genau so spannend wie von den Kompositionsstrukturen her. Trotzdem merkt man jetzt: Die Spannung legt sich. Schon jetzt schießen wieder personalisierte Acts wie R.E.M. oder Alanis Morissette in den Charts hoch. Wir haben Pendelbewegungen, Zyklen. Dance ist eine Musik, die unheimlich spannende Momente hervorgebracht hat, die aber wie alle Wellen am Ende auch wieder abebben wird.“

Dance war die Pop-Musik der 90er. Aber dieses Jahrzehnt geht nun zu Ende.

„Genau. Das wesentlich spannendere Phänomen war für mich die Entwicklung des deutschen HipHop in den letzten fünf Jahren. Das ist ein eigenständiges Stück Musik, bei dem die Leute am Wort interessiert sind, es sogar verstehen, und das massenhaft in der Lage ist, unsere Zeit zu prägen.“

Deutsch-Rap hat auch deshalb Erfolg, weil die Musik selbst 30jährige nicht abschreckt.

„Richtig – er hört das, es stört ihn nicht, und er kann sich dabei jung fühlen. Dahinter steckt zwar noch derTeen Spirit, es beschränkt sich aber bei weitem nicht auf die Barbie-Generation.“

1998 gab es massenhaft Beispiele für Musik, die allein wegen ihrer deutschen Texte mehr Aufmerksamkeit erforderte: Die Ärzte, Xavier Naidoo, Falco, Westernhagen und so weiter.

„Und das ist doch ein Zeichen dafür, daß der gemeine Konsument eben doch nicht nur rumhopst und deshalb keine Matten kauft. Der verstärkte deutschsprachige Faktor im deutschen Musikmarkt ist im europäischen Vergleich nichts anderes als eine gesunde Normalisierung. Wir passen uns an das an, was in ganz Kontinentaleuropa üblich ist: 50 Prozent nationale Produkte in den Charts. VIVA kam exakt zu dem Zeitpunkt, als es in Deutschland die erste Nachkriegsgeneration gab, die mit deutscher Musik vorurteilsfrei umging. Lind deshalb haben die neuen deutschsprachigen Musiker auch verdutzt geguckt, als Heinz Rudolf Kunze mit seiner Quotenforderung kam. Die sagten zu Recht: „Wieso das denn? Wir singen deutsch – und die Leute kaufen unsere Musik.““

Dann muß man auch damit leben, daß einer wie Moses P. das Maul ein bißchen zu weit aufreißt.

„Der Konflikt zwischen Moses und Stefan Raab hatte ja nichts mit der Qualität seiner Musik zu tun, sondern mit einem persönlichem Problem eines Künstlers mit einem unserer Künstler. Die Sony hat sich zu Recht vor ihren Künstler gestellt, und auch wir haben uns vor unseren Künstler gestellt. Mittlerweile haben wir uns in aller Ruhe mit Moses und seiner Firma zusammengesetzt und festgestellt, daß eine beiderseitige Dämonisierung keinen von uns weiterbringt. Wir streiten uns im Sender über ganz andere Dinge, wie zum Beispiel: Ist ein kurzer Ausschnitt aus einem Film von Leni Riefenstahl einem potentiell rechtsauslegenden Deutschland zuträglich oder nicht?“

Wie diese Diskussion ausging, war täglich auf VIVA zu sehen: Der Rammstein-Clip lief rauf und runter.

„Trotzdem geht die Diskussion weiter – Rammstein ist für mich zunächst einmal eine sehr, sehr typische Transformation einer Ost-Band in den deutschen Markt einer „Berliner Republik“. Mit allen Marketing-Wassern gewaschen, aber trotzdem sehr ehrlich bezüglich ihrer Herkunft. Ein paar Menschen springen da schon noch entrüstet auf. Aber im Vergleich zu dem, was man tagtäglich im Fernsehen sehen kann, ist das doch harmlos.“

Zu dem Riefenstahl-Video gab es, vor allem im Ausland, sehr kritische Stimmen zu hören.

„Ich glaube aber nicht, daß dies von den Jugendlichen in einem Nazi-Kontext gesehen wird. Ästhetisch steht das für sie so weit daneben, daß sie es einfach anschauen, ohne daraus eine politische Haltung abzuleiten. Wir haben diese Verantwortung und diese Vergangenheit. Aber wir haben am Ende – und da werde ich jetzt sicher wieder mißverstanden – weniger Probleme mit tatsächlich meßbarer Rechtsradikalität als andere europäische Länder. Das Gute an unserer Vergangenheit ist, daß sie uns ungeheuer hellhörig macht. Und aufpassen müssen wir auch weiterhin.“

Dafür finden jetzt alle, daß es Kult ist, wenn Verona Feldbusch im tief ausgeschnittenen Kleidchen vor der Kamera herumstammelt.

„Sie war halt an der richtigen Stelle auf der richtigen Welle. Das ist Trash, Comedy. Das kommt und geht. Das ist so, wie es ist, taugt aber nicht als ein in die Tiefe interpretierbarer Indikator für den momentanen gesellschaftlichen Zustand. Dafür ist das letztlich doch viel zu belanglos. Allerdings zeigt der Comedy-ßoom, daß es wohl auch in diesem Bereich einen wirklichen Nachholbedarf für eigengemachtes, also nicht synchronisiertes Fernsehen gegeben hat, über das man auch lachen kann.“

Trash scheint zumindest nicht bis in die Tiefen der deutschen Geldbörsen zu reichen – sonst hätte Guildo Horn deutlich mehr Platten verkaufen müssen.

„Klar – das war ja auch nur ein Hype. Jetzt kehrt Horn wieder zurück in die Szene, aus der er kam und freut sich über einen prozentualen Zuwachs, den er ohne diesen Hype nie bekommen hätte. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß er selbst ernsthaft daran geglaubt hat, zu einer echten Keimzelle eines neuen bundesrepublikanischen Stils werden zu können. Klar, wenn ich jetzt zum Beispiel den Fernseher lauter mache (greift sich die Fernbedienung und dreht den neuen VIVA-Clip von Alanis Morissette auf), merke ich sofort: Donnerwetter, tolle Songs, neues Album, möchte ich hören. Bei Guildo Horn dagegen ist es wie mit dem T-Shirt das ich nach einem Konzert kaufen könnte. Könnte ich, muß ich aber nicht, weil es mir vielleicht zu teuer ist. Die Horn-Platte kann ich nach dem Ereignis, dem Grand Prix, auch kaufen, muß ich aber nicht. Ähnlich funktioniert das mit den Soundtracks. Daß die sich immer besser verkaufen, liegt einfach daran, daß sie gute Musik bieten und nicht mehr, wie früher, aus beliebig zusammengewürfeltem Back-Katalog bestehen.“

Daran zeigt sich, daß die Konsumenten noch immer viel zu sehr unterschätzt werden.

„Auch die Kids werden ja dauernd unterschätzt. Man glaubt, sie sind eine unpolitische, beliebig manipulierbare amorphe Masse, die sich ständig von irgendwelchen hippen Marketingexperten völlig neu durchkneten läßt. Das ist Quatsch – die wissen meistens schon ganz genau, was sie wollen und warum sie das wollen. Wenn die andere Seite das wüßte, dann gebe es ja nur noch Hits.“

Alle reden zum Beispiel davon, daß es völlig out ist, Gefühle zu zeigen. Und dann rennen Millionen in einen Schmachtfetzen wie „Titanic“.

„Klar – das ist ein Produkt, das die Leute bewegt. Eine Liebesgeschichte, wie es sie im echten Leben nicht geben kann, denn dort sind Liebesbeziehungen nicht ganz so spektakulär. Aber dafür gibt es ja auch das Kino. Vielleicht ist das ja auch eine Altersfrage – meine Tochter war in dem Film und konnte gar nicht verstehen, daß meine Frau hinterher gesagt hat: „Na hör mal, wer wird sich denn allen Ernstes in einen Zwölfjährigen verlieben?““

Noch dazu in so einen kantenlosen Milchbubi wie Leonardo DiCaprio?

„Na und? Der paßt aber doch für die Zielgruppe. Leonardo ist eine Art filmgewordener Backstreet Boy.“

Wir dachten, Boygroups sind ausgestorben?

„Ja, das ebbt ab. Aber Teenie-Idole wird es immer geben. Es wird immer Musik geben, die den ersten Schritt der Teenager aus der Pubertät in die Sexualität hinein erleichtert. Wie ein Teddybär – in den kann ich mich ohne Konsequenzen verknallen. Das ist nie Aerosmith, immer so etwas wie die Backstreet Boys. Allenfalls noch ein bißchen Robbie Williams, wobei der jetzt schon etwas düsterer ist. Der leckt mit der Zunge – igittigitt! Auch Natalie Imbruglia paßt in diesen Kontext. Ein süßes Mädchen mit guten Songs – in die kann man sich als Junge bedenkenlos verlieben.“

Die Teenie-Presse hat auflagentechnisch sehr unter dem Boygroup-Sterben gelitten.

„Bei der BRAVO ist der Kaufimpuls auch direkt von den Typen auf dem Cover abhängig. VIVA hat es leichter. Wir können zum Beispiel Gruppen wie Mr. President spielen, aber BRAVO hat damit ein Problem, weil die Leute in diesen Gruppen alle gleich aussehen. Und Videos sind letztendlich nun mal interessanter als das immer gleiche Foto der immer gleichen Boygroup-Konstruktion.“

Hat Dieter Gorny geweint, als sich Tic Tac Toe nach öffentlich ausgetragenem Streit auflösten?

„Nee, warum? Es ist vielleicht Geschmackssache, aber ich denke, es wäre von der Kreativität her bestimmt schlimmer, wenn sich andere Cruppen auflösen würden – R.E.M., U2 oder Die Ärzte zum Beispiel.“

Oder Falco?

„Das war auf jeden Fall ein tragischer Verlust. Ich kannte ihn ja recht gut und finde es auch tragisch, wie er jetzt, nach seinem Tod, wieder richtig erfolgreich wird. Er war ein Pop-Star par excellence, in seiner Exzentrik ein absolutes Unikat.“

Und in seiner Exzessivität. Immerhin scheint 1998 die Heroinwelle wieder etwas abgeebbt zu sein.

„Rauschmittel – ob erlaubte wie Alkohol oder verbotene wie Heroin – sind immer Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Ich denke aber, es ist ein gutes Zeichen, daß nicht mehr so selbstverständlich damit herumhantiert wird. Ganz schlimm war es ja auf den Laufstegen, mit all den Heroin-Chic-Models. Hinter all dem steckt etwas, das ich für eine der schlimmsten Sachen überhaupt halte: Abhängigkeit.“

Auch Courtney Love hat ja erfolgreich die Nadel mit dem Collier vertauscht.

„In diesem Business zählt ja nicht, was du bist, sondern das, was du zu sein scheinst. Man macht aus bestimmten Gründen einen bestimmten Schwenk in eine andere Richtung und fängt plötzlich an, auf eine bestimmte An ganz professionell zu arbeiten. Da geht es doch nicht um Authentizität. Es spricht vielleicht eher für das Talent dieser Frau, diesen Schwenk so wasserdicht darzustellen – und für die Branche, die das so begierig auflutscht. Was immer das bedeuten mag.“

Es mangelt andererseits auch hierzulande nicht an kreativen Künstlern.

„Das glaube ich auch. Wir haben so viel Kreativität im Land. Dort, wo Breite entsteht, entsteht auch Spitze. Die Frage doch ist nur, waaim sie sich nicht so entfalten kann.“

Warum denn?

„Das hat viel mit Zentralisierung zu tun. Ein Handel, in dem der Mittelstand keine Rolle mehr spielt, eine Radiolandschaft, in der Eigenständigkeit keine Rolle mehr spielt.“

Sind wir Globalisierungsopfer?

„Nein. Ich sehe im Gegenteil, daß die Produkte immer stärker auf die national-emotionalen Grundhaltungen zugeschnitten werden. In der Musik genau so wie beim Fernsehen mit seinem drastisch gesteigerten Anteil nationaler Produktionen.“

Vielleicht werden einfach zu viele Platten veröffentlicht?

„Das stimmt zum Teil schon. Der Markt wird mit Produkten regelrecht zugeschissen. Ich kann ja auch nicht zu Aldi gehen und fordern, daß sie neben den drei dort verkauften Mehlsorten auch noch meine vier Sorten zusätzlich anbieten – Dreikorn, Sechskorn, Siebenkorn, graues, weißes und noch weißeres Mehl. Herr Albrecht wird mir zu Recht sagen: „Hau ab, Mensch!““

Was hört Dieter Gorny daheim?

„Querbeet. Im Moment viel U2, weil ich die Band mag. Von Madonnas neuer Platte war ich völlig überrascht. Guano Apes begeistern mich, auf die neue Metallica warte ich mit Spannung (zum Zeitpunkt des Interviews/Anm. der Red). Ich finde, daß Public Enemy auch nicht mehr so laut sind wie früher. Ab und zu gehe ich auch in die Oper. Ich nehme mir heraus, rein emotional mit Musik umzugehen. In diesem Sinne bin ich so eine Art autonomer Musterkonsument. Ich mag genauso, wenn bei Musik die Boxen dröhnen, wie auch Musik, die sophisticated ist. Ich mag Klassik, Schmalz, Bon Jovi, Anthrax. Ich höre, was ich will.“

Was wird nach Auffassung von Dieter Gorny der nächste große Trend am Ende des Jahrtausends?

„Was weiß ich? Der Marketing-Gorny sagt: „VIVA ZWEI“. Der Gorny-Gorny sagt: „Wir werden wohl noch eine Zeitlang damit leben müssen, daß es die großen Trends nicht mehr gibt.“ Unsere Gesellschaft wird zwar als Mainstream tituliert, ist aber längst nicht mehr dieser kalkulierbare Mainstream. Wir haben noch nie in einer Epoche gelebt, in der wir einen derart demokratischen Zugriff auf jegliche Information hatten wie heute. Schau dir die Mode an: Wo ist der nächste große Modetrend? Es ist doch ein klares Zeichen, daß dir das keiner sagen kann. Das trifft doch nur die Teens, die gerade erwachsen werden. Die sind natürlich anders, die schnüren sich in enge Klamotten ein. Für die anderen gibt es alles mögliche parallel. Ich muß in der letzten Zeit ja öfter mal Krawatte tragen und habe gesehen, daß es zwar viele verschiedene Hemdkragen-Arten gibt, die aber alle in einem klar eingegrenzten Range bleiben. Die Opinion Leader tragen jetzt vielleicht wieder Kragen, die ein kleines bißchen spitzer sind, dann gibt es den sportlichen Typ, der immer Button Down tragen wird, Leute, die alle Polo tragen, die Kent-Kragenträger, aber alle sind sich ziemlich ähnlich. Natürlich gibt es ein paar Leute, die wieder engere Anzüge tragen, oder kleinere Gruppen, die 80er Jahre-Sachen kaufen. Aber diese großen, allumfassenden Modetrends wie früher gibt es nicht mehr. Die Leute sagen jetzt: „Eyh – ich bin 45 und zieh‘ so einen Scheiß doch nicht an! Ich möchte bequeme Klamotten.“ Lind schon schiebt der Modemacher ruckzuck eine bequeme Linie ein. Diese Chance der Individualität ist gleichzeitig die Tragik, keine großen Trends mehr ZU haben.“