Geiler Tyler


Es gibt wenig Künstler, die mehr Sex Appeal auf der Bühne ausstrahlen wie Steve Tyler. Dabei ist der Mann immerhin 46 Jahre alt, hat zwei erwachsene Töchter. Es gibt wenige Künstler, Bands, Musiker, die so länge dabei sind wie Aerosmith. Und noch leben. Obwohl es früher nicht immer ganz sicher war, ob Mr. Tyler, der charismatische der Bostoner Band am nächsten Morgen noch aufstehen würde. Über zwei Jahrzehnte geht die Ächterbahnfahrt schon. Über 15 Alben und weiß Gott wieviel Singles haben sie hinter sich. Martin s Wimmer sprach mit Steven Tyler während seiner laufenden US-Tour, um für ME/ Sounds heraus zu finden, wohin die Fahrt noch gehen soll.

Zweiundzwanzig Jahre im selben Job sind normalerweise die besten Voraussetzungen für eine massive Midlife-Krise. Doch bei Aerosmith gehen die Uhren anders. Keine Band mit einem ähnlichen Herstellungsdatum feiert momentan solche Erfolge wie die Unverwüstlichen aus Boston. Ihr aktuelles Album ‚Get A Grip‘ hat in den USA die vierfache Platinmarke (4 Millionen) übersprungen, die weltweiten Verkäufe belaufen sich nochmal auf das doppelte. Die laufende Tour ist der größte Triumphzug ihrer Geschichte, mit außergewöhnlichen Stationen: Headliner in Woodstock und 1995 ein Auftritt zum Erntedankfest am Brandenburger Tor. Den zweiten Hochsommer feiern Aerosmith mit einem Greatest Hits Album und demnächst wackeln sie als Helden eines Computerspiels über die Bildschirme dieser Welt. Eine CD-Rom ist gebastelt, und ein neuer Song wird über Computernetz unter das amerikanische Volk gebracht werden. ME/Sounds wollte wissen, ob all der Erfolg einem alten Profi noch in den Kopf steigen kann. Selbst nach all den Jahren.

ME: Aerosmith ist heute erfolgreicher denn je. Wie fühlt sich das an, seinen Karrierehöhepunkt dann zu erreichen, wenn die meisten Zeitgenossen mit der ersten Midlife-Crisis kämpfen oder am dritten Comeback-Versuch scheitern?

Tyler: Insgesamt ist das ein überwältigendes Gefühl. Auf der anderen Seite ist jedes Album für uns ein Neuanfang. Wir versuchen immer, neue Sounds zu kreieren, neuartige Songs zu schreiben. So hat man nie den Eindruck, schon zwanzig Jahre dabei zu sein. Wie lange das alles schon geht, fällt mir immer nur auf, wenn nach den Shows die Mädchen hinter die Bühne kommen. Die meisten von denen waren noch nicht mal auf der Welt, als wir unser erstes Album veröffentlicht haben. Unser Publikum reicht mitlerweile von neun bis fünfunddreißig…

ME: Wie erklärst du dir, daß Aerosmith Leute in jedem Alter anspricht? Ihr scheint außer den Rolling Stones die einzige Band über vierzig zu sein, die man noch mögen darf, ohne peinlich zu wirken..

Tyler: Wir haben uns nie auf einen Stil festgelegt. Jedes Mal, wenn wir einen Song schreiben, nehmen wir dazu – bildlich gesprochen – eine andere Gitarre. Aerosmith sind mehr als ein Song, wir sind nicht Iran Butterfly, wir haben mehr zu bieten als ‚In A Gadda Da Vida‘.

ME: Ihr hattet auch schon weniger rosige Zeiten. In euren Krisenjahren, als Joe Perry nicht mehr mitspielte und du mit deinen Drogenproblemen beschäftigt warst. Hättest du jemals gedacht, daß alles nochmal so positiv für euch werden könnte? Tyler: Nein, aber sowas kann man natürlich nie voraussehen. Heute weiß ich auf jeden Fall, daß ich ein verdammter Glückspilz bin. Manchmal denke ich mir tatsächlich, daß ich mit meinen Wünschen vorsichtig sein muß, weil sie möglicherweise sofort in Erfüllung gehen. Wenn ich meine geistige Energie auf etwas konzentriere, kann ich fast alles geschehen lassen.

ME: Seit wann weißt du das?

Tyler: Das ist mir klar geworden, als ich zum ersten Mal all die Murmeln gezählt habe, die ich in meiner Hosentasche hatte. Und die ist ziemlich voll. Damals, in meiner schlechten

Phase, hatte ich alle Murmeln verloren. Das gute Gefühl, das einem der Erfolg gibt, war mir damals nicht genug. Ich wollte mehr, also fing ich an zu trinken. Und damit verschwand die Magie, die man Inspiration nennt. Als ich sah, was ich verloren hatte, wurde mir klar, daß ich alles wiederfinden könnte, wenn ich nur mit dem anderen Mist aufhören würde. Es hat funktioniert, und heute bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Manchmal glaube ich, die Band und ich befinden uns auf einer übernatürlichen Reise.

ME/S: Du hast also deine Exzesse um der Kunst willen aufgegeben?

Tyler: Nein, natürlich wollte ich in aller erste Linie mich selber retten. Ich hatte mich völlig verloren. Wenn man um sich herum sein Leben in die Brüche gehen sieht, muß man sich darüber klar sein, daß man zuallererst sich selber auf die Reihe bringen muß, sonst ändert sich überhaupt nichts.

ME/S: In Anbetracht all der Jahre und der harten Zeiten ist es immer wieder ungtaublich, wieviel Energie du auf der Bühne versprühst. Wie schaffst du das nur?

Tyler: Keine Ahnung. Ich halte Diät und ich trainiere regelmäßig. Ich funktioniere wie eine Autobatterie, die sich beim Fahren selber auflädt. Man braucht nur einen Funken, um zu starten und dann geht alles von alleine. Natürlich gibt es auch Nächte, an denen ich überhaupt keine Lust habe, da oben zu stehen. Aber sobald der Vorhang fällt, ist es damit vorbei. Wenn ich krank bin oder sowas, dann sagt mein Kopf eine Stunde vor dem Auftritt: Du kannst hier jetzt nicht rein, in diesen Körper, nicht für die zwei Stunden auf der Bühne. Ich vertreibe die Krankheit aus meinem System.

ME/S: Bist du eigentlich immer noch nervös, bevor du auf die Bühne gehst?

Tyler: Jedes Mal! Die ersten paar Wochen auf einer Tour geht’s mir manchmal sogar auf den Magen, das legt sich aber nach einer Weile. Danach bin ich nur noch aufgeregt und ungeduldig. Wenn da draußen Leute warten, die sich extra geduscht haben und vielleicht noch eine Stunde gefahren sind, um dich zu sehen, ist das ein aufregendes Gefühl. Der Energieschub, wenn der Vorhang hoch geht, ist unglaublich. Das ist die einzige Droge, die ich heute noch brauche. Adrenalin. Ich bin Adrenalin-Junkie. Extrem aufgeregt und nervös werde ich nur, wenn jemand Berühmtes im Publikum sitzt.

ME/S: Wer zum Beispiel?

Tyler: Jean Claude van Damme, Ringo Starr, Sylvester Stallone, Cher irgend jemand ist immer da.

ME/S: Und warum bist du bei denen nervöser?

Tyler: Ich bilde mir ein, ich müßte für die besser sein als sonst. Es ist dumm, ich weiß, aber so ist das eben. Ich will die Leute immer beeindrucken.

ME/S: Ihr habt gerade wieder Auszeichnungen bei den MTV-Video-Awards abgesahnt, und dein Trophäenregal dürfte mittlerweile ziemlich voll sein. Bei der Masse, bedeuten dir da solche Preise überhaupt noch etwas?

Tyler: Oh ja. Ich glaube nicht, daß sowas jemals zur Routine werden kann. Als Musiker wird man selten so gelobt. Es gibt so viele Musiker, die wunderbare Lieder schreiben und dafür nie belohnt werden. Höchstens sagt ihre Frau oder Freundin mal, das ist ein sehr schönes Stück. So fing doch auch bei uns alles an, wir haben irgendwann mal unser erstes Stück geschrieben, fanden es gut und wollten, daß so viele Leute wie möglich es hören. Ich kann bis heute nicht erklären, wie es funktioniert hat, wo Stücke wie ‚Jamie’s Got A Gun‘ oder ‚Dream On‘ herkamen. Es ist ein Geschenk Gottes, es ist ein Geschenk all der anderen Musiker, die jemals eine Note auf diesem Planeten gespielt haben, deren Musik ich gehört habe, es ist ein Geschenk meiner Eltern, des Klavierspiels meines Vaters, des Gesangs meiner Mutter. Man kann es auf viel zurückführen. Alles ist von der Vergangenheit geprägt, alles war schon mal da. Ich meine, das einzige Mal, daß auf diesem Planeten jemand was zum ersten Mal ausgesprochen hat, war als Eva zu Adam sagte: „Ah, aaah.aah!“

ME/S: Das hat sie gesagt?

Tyler: Ich nehme an, sie hat das gesagt, nachdem Mister Snake vorbeigeschaut hatte. Was glaubst du, war die Schlange sein Penis oder war da wirklich was im Baum?

ME/S: Ich wurde katholisch erzogen, da kommt erstere Interpretation nicht in Frage Tyler: Dann solltest du mal darüber nachdenken. Die Geschichte mit der Schlange ist doch nur ein Vorwand – es ging dabei ums Vögeln.

ME/S: Das ist also deiner Meinung nach die Ursünde?

Tyler: Neee, zuallererst: Adam und Eva gab’s überhaupt nicht. Ich glaube wir sind aus irgendeiner höheren Zivilisation entstanden, die möglicherweise von einem anderen Planeten kam. Die haben sich mit den Affen gepaart und im Laufe der Evolution sind dabei irgendwann wir rausgekommen. Das hat aber lange gedauert, da war nicht irgendwann ein Junge und ein Mädchen, die aus dem Paradies geflogen sind. Das scheint mir ein wenig weit hergeholt. Es ist eine nette Geschichte, aber nicht die Basis für eine gesamte Weltanschauung.

ME/S: Wenn wir schon beim Philosophieren sind – hast du in deinem Leben noch unerfüllte Hoffnungen und Wünsche?

Tyler: Ich wünsche mir den Weltfrieden, und daß unsere Regierung mehr Geld für Erziehung und Bildung ausgibt, damit Kinder, denen ihre Eltern nichts beibringen, trotzdem was lernen. Ich wünschte, man würde ihnen beibringen, andere Menschen zu respektieren und zu lieben. Ich wünschte, daß alle Lehrer eine psychologische Ausbildung haben, damit sie mit den Problemen der Kinder besser umgehen können. Ich wünschte, wir würden unseren technischen Fortschritt in den Dienst des Friedens stellen. Ich wünschte, alle Kinder in Bosnien könnten auf wundersame Weise dort weggebracht werden, dann könnten sich die sturen, alten Männer dort die Köpfe einschlagen, so lange sie wollen.

ME/S: Und was wünscht du für dich?

Tyler: Nichts, ich habe alles, was ich mir wünsche. Ich bin verdammt glücklich.

ME: Apropos technischer Fortschritt – Aerosmith mischt da kräftig mit. Ihr seid die Hauptfiguren eines neuen Videospiels. Ihr habt einen neuen Song über ein amerikanisches Computer-Netz an die Leute gebracht, ihr werdet eine CD-ROM veröffentlichen. Bist du ein Computer-Freak?

Tyler: Ja. Es ist eine sehr aufregende Geschichte, man darf nicht den Anschluß verlieren. Es ist ein neuer Weg, Menschen zu erreichen.

ME: Das hört sich alles nicht so an, als würdest du jemals einen Gedanken an den Ruhestand verschwenden?

Tyler: Ja, doch manchmal. Wenn eine Tour zu lange dauert, wenn wir nicht genug Off-Days haben. Aber dann arbeiten wir dagegen, geben uns mehr Zeit. Man denkt generell nicht gerne an den Ruhe stand, vor allem wenn man eine Menge Spaß hat bei dem, was man macht. In Ruhestand geht man, wenn Junge nachkommen, die besser sind. Aerosmith ist aber eine Größe für sich geworden. Keiner kann mehr nachkommen und unseren Platz einnehmen. Ich sehe nicht kommen, daß ich irgendwann keinen Song mehr schreiben kann, der gut ist und mich selber überrascht.

ME: Was würdest Du tun wollen, wenn du doch mal in Rente gehst?

Tyler: Ich würde vielleicht gerne in ein paar Filmen mitspielen, oder andere Bands produzieren. Ich könnte auch Förster werden. Und oft träume ich davon, eine Farm zu haben, mit vielen Tieren, um die ich mich kümmern könnte, und den ganzen Tag draußen zu verbringen. Ich bin auf einer Farm aufgewachsen, in New Hampshire. Wir hatten vier Häuser auf zehn Quadratkilometer Grund, mit einem eigenen Wald.

ME: Hast du dich da nicht manchmal auch gelangweilt, so fernab von der Welt?

Tyler: Manchmal, aber es gab ja auch Autos und ein Kino ein paar Kilometer entfernt. Vielleicht würde mich das heute ja auch verrückt machen, aber es könnte auch eine nette Abwechslung sein. Wenn du 1 1/2 Jahre auf Tour bist, brauchst du immer mindestens vier Wochen, um auf ein normales Level zu kommen. Das strengt auch an.

ME: Du hast zwei Töchter, eine davon macht gerade Karriere als Model und Schauspielerin. Wie ist Dein Verhältnis zu Deinen Kindern?

Tyler: Großartig, leider sehe ich sie viel zu selten.

ME: Eine letzte Frage zum fortgeschrittenen Alter, diesmal aber nicht zu deinem: Habt ihr Eure Kollegen von den Rolling Stones auf dieser Tour schon gesehen?

Tyler: Oh, ja, es war verdammt fantastisch. Die reden sich alle den Mund fusslig darüber, daß Mick alt wird und das neue Album langweilig ist. Fuck That! Die Platte ist geil und du siehst ihn auf der Bühne. Das ist als würde lesus wiederkehren. Die Leute verstehen ihn. Mick Jagger ist Gott. Was kümmern einen die Falten, jeder wird älter, Mick Jagger, ich, und vor allem auch die Leute, die uns alten Säcke am liebsten schon jetzt begraben würden.