Hurts


Vor 18 Monaten lebten Theo Hutchcraft und Adam Anderson noch auf Kosten der englischen Steuerzahler. Woche für Woche kassierten sie ihr Arbeitslosengeld. Sie saßen in einem Kellerloch und träumten davon, Popstars zu werden. Dann schrieben sie "Wonderful Life" - und einen Sommer später feiern wir HURTS als die Newcomer des Jahres 2010. Zeit für ein Gespräch.

Herr Hutchcraft, Herr Anderson, warum findet man im Internet so wenig über Hurts?

Theo Hutchcraft: Das ist ja das Tolle: Man kann uns kaum googeln. Man findet eine Zusammenfassung des Films „Hurt Locker“ …

Adam Anderson: … und stolpert darüber, dass Hurts auf schwedisch „kleiner Tisch“ bedeutet.

Verraten Sie uns dennoch drei Dinge, die man nicht über Hurts ergoogeln kann?

AA: Mein Vater spielte Banjo für die Queen.

TH: Unsere Plattenfirma bekam den Zuschlag, weil sie uns zwei Tickets zum Eurovision Song Contest besorgte.

Mehr wollten Sie nicht?

TH: Doch! Einen Kamm, einen Regenschirm …

AA: … und eine Karte für Manchester United.

Sie haben angeblich einen der höchstdotierten Verträge der letzten Jahre unterschrieben.

TH: Dazu kann ich nichts sagen.

Auch sonst geben Sie sich eher schweigsam, keine stündlichen Twitter-Updates, kein Blog auf MySpace. Dabei gehören Sie rein altersmäßig doch der Generation Facebook an.

TH: Aber nur als Privatpersonen. In der Welt der Popmusik geben heute die meisten Kollegen für meinen Geschmack viel zu viel von sich preis.

AA: Wer interessiert sich schon dafür, was wir frühstücken, wann wir aufs Klo gehen, wann ich mit meiner Mum telefoniere?

TH: Wenn ich mich für eine Band interessiere, dann für deren Musik, eventuell noch für die Videos, mehr will ich gar nicht wissen. In gewisser Weise raubt einem zu viel Information auch den Glauben an eine Band. Ein großer Künstler wie Jacko war immer unnahbar, weit weg, geradezu überirdisch. Das fasziniert die Menschen.

AA: Lady Gaga ist eine der ganz wenigen Künstler, die diese Unberührbarkeit eines klassischen Popstars heute noch bieten. Aber genau darum geht es doch in der Popmusik: Um Unerreichbares, um Traumwelten, um Sehnsüchte. Deshalb kaufen sich Fans auch T-Shirts, Bettwäsche und Poster ihrer Stars: Weil sie Teil einer Welt werden wollen.

TH: Und diese Magie geht verloren, wenn man jeden Furz über einen Künstler weiß. In gewisser Weise gehört das auch zur Verantwortung eines Musikers, den Fans die Träume nicht zu zerstören. In den Nullerjahren war Pop teilweise zu greifbar, weswegen es irgendwann gar keine großen Popstars mehr gab.

Haben Sie sich deshalb von Anfang an nur in Anzügen und distanzierter Pose auf die Bühne gestellt?

TH: In gewisser Weise schon. Wenn man unsere Art von Musik macht und über solch schwere Gefühle singt, kann man das nicht lustig darbieten. Man kann es nur ernsthaft und klassisch inszenieren, alles andere schadet der Musik.

AA: Außerdem besitzen wir gar keine anderen Klamotten.

Sie tragen nach wie vor die Anzüge, die Sie vor 18 Monaten anhatten, wenn Sie beim Sozialamt Ihre Arbeitslosenschecks abholten?

TH: Durchaus. Wissen Sie: Wenn man wie wir ein paar Jahre lang von der Stütze lebt, ist ein Anzug das einzige Kleidungsstück, das einem den letzten Rest Würde bewahrt.

Anfangs dachte ich, die Anzüge passen so schön zum 80er-Synthie-Pop. Dann fiel mir jedoch auf, dass Sie dafür eigentlich zu jung sind.

TH: Natürlich. Und es ist auch ziemlich ärgerlich, dass wir immer in diese Achtziger-Schublade gesteckt werden. Klar: Wir mögen Depeche Mode, Tears For Fears, Bowie, Japan. Aber: Was uns viel mehr inspirierte als die Achtziger waren die großen Movie-Soundtracks der Neunziger: „Robin Hood“ von Bryan Adams, „Bodyguard“ von Whitney Houston, das ganz große Kitsch-Kino, damit sind wir groß geworden.

AA: Und mit Dance Music …

TH: … Oasis …

AA: … Take That.

TH: Wenn uns irgendetwas beeinflusst hat, dann die Neunziger. Auch im Glauben daran, dass man nicht mehr braucht als einen Laptop, ein Keyboard und ein Mikrofon.

AA: Oasis waren der Grund, warum ich überhaupt Musik machen wollte. Ein paar Lads, die nichts hatten außer einem überzogenen Ego – und den Anspruch, die Welt zu erobern.

TH: Uns war von Anfang an klar, dass unsere Musik groß werden wird, groß werden muss – Widescreen. Etwas, dass dich wegbläst. Mächtig genug, um von unserem kleinen, miserablen Leben abzulenken.

Wie lange waren Sie arbeitslos, bevor es mit Hurts losging?

AA: Ziemlich genau drei Jahre. Es war furchtbar. Ich kam mir so nutzlos vor. Man wacht auf und weiß nicht, wofür. Man steht auf, schaltet den Fernseher an, das Gehirn ab. Oder geht ins Studio und arbeitet an Songs, die nie jemand hört.

Kein schöner Anblick für Eltern.

AA: Der Horror.

TH: Deshalb habe ich auch Ingenieurswesen und Akustik studiert. Ich wäre irgendwann ein langweiliger Nerd geworden, wenn mir Adam nicht über den Weg gelaufen wäre.

So geschehen auf einem Parkplatz vor einem Club in Manchester.

TH: Es war vier Uhr morgens und unsere Freunde waren gerade dabei, sich die Schädel einzuschlagen. Ein klassischer Abend: Zu viel zu trinken, ein mieser Club namens „42nd Street“, furchtbare Frauen, es musste so enden.

AA. Wir standen etwas abseits, schauten uns an und wussten nicht, was jetzt gleich passiert: Entweder wir schlagen uns, wie es unsere Freunde von uns erwarten …

TH: … oder wir trinken noch ein letztes Bier. Wir entschieden uns für das Bier und fingen an, über Musik zu reden. Unsere Freunde prügelten sich noch ein wenig, dann zogen sie ab, wir blieben sitzen und entschieden in jener Nacht, dass wir eine Popband gründen, die die Welt erobern wird. Wir waren sehr betrunken.

AA: Am nächsten Tag emailte Theo mir dann tatsächlich und fragte, wann wir uns denn nun treffen, um Musik zu machen. Da wusste ich: Der Kerl meint es ernst. Natürlich wusste keiner mehr, was der eigentliche Plan war.

Die erste Zeit spielten Sie dann gemeinsam in einer Band, die sich später wegen mangelnder Perspektive auflöste.

AA: Wir waren nicht unerfolgreich, aber wir wussten wirklich nicht, was daraus werden soll. Also lösten wir die Band auf – was arbeitslos sein noch schlimmer macht: Du hast nicht einmal mehr deine mäßig erfolgreiche Band, die dich über den Tag rettet.

TH: Wir trafen uns am selben Nachmittag und entschieden, es von nun an zu zweit zu versuchen. Erstaunlicherweise führte die Ausweglosigkeit der Situation dazu, dass wir plötzlich genau wussten, wie wir unseren Weltschmerz musikalisch umsetzen würden. Groß, theatralisch, bombastisch. Leider hatten wir keine Ahnung, wie man solche Musik an einem Laptop schreiben kann. Das mussten wir erst lernen.

AA: Dazu mieteten wir uns einen fensterlosen Kellerraum, hängten die Wände voller nackter Mädchen, verkabelten Midi-Keyboard und Mikrofon mit dem Laptop und begannen, die Musik Spur um Spur zu arrangieren.

TH: Es war furchtbar: In den Räumen über uns war ein Street-Dance-Studio untergebracht. Wir mussten ständig R. Kelly ertragen, während wir an den Stücken feilten. Selbst als wir den Plattenvertrag in der Tasche hatten, kauften wir keine Geräte hinzu, keine tollen Retro-Synthesizer, nichts. Man braucht das heute nicht mehr. In meinem Kopf sah ich immer die ganzen Musiker, die jemand wie Phil Spector zur Verfügung hatte, um seine Stücke groß klingen zu lassen. Wir hingegen saßen zu zweit vor einem 15-Zoll-Monitor und wollten trotzdem grand klingen. Das war die größte Herausforderung.

TH: Dann schrieben wir „Wonderful Life“: Wir saßen in unserem Kellerloch und wussten, dass dies unser Ticket nach Draußen sein wird.

AA: Allerdings hatten wir keine Ahnung, wie wir dieses Ticket einlösen könnten: Das Stück lebte im Laptop. Wir hatten ja keine Möglichkeit, es live vorzuspielen. Deshalb entschieden wir uns, ein Video für YouTube zu drehen.

Das sich auch der Hurts-Ästhetik bedient: Schwarz-Weiß, ernsthaft, klassisch, zeitlos. War das von Anfang an Ihr ästhetisches Konzept?

TH: Es war eher eine Notgeburt. Wir hatten kein Geld, nur uns und die Anzüge. Als wir dann das Material sahen, wussten wir, das es passt: Weil es der Musik mehr Kraft gibt. Die Bilder lenken nicht ab. Die Gefühle transportiert die Musik, der Rest entsteht im Kopf. Wir mögen Fellini, David Lynch, solche Sachen.

AA: Außerdem mögen wir Mädchen, die tanzen.

Obwohl es so aussieht, als tanze das Mädchen aus dem YouTube-Video von „Wonderful Life“ zu einem ganz anderen Stück.

TH: Ist sie nicht toll?

AA: Leider wissen wir nicht, wer sie ist.

Die Gerüchte sind also wahr: Sie haben keinen blassen Schimmer, wer das Mädchen ist?

TH: Wenn wir Weihnachten das erste Mal wieder ein paar Tage frei haben, werden wir sie suchen gehen. Auf jeden Fall!

Es muss doch einen Anhaltspunkt geben – oder haben Sie das Mädchen einfach auf der Straße vor dem Studio aufgelesen?

TH: So ähnlich war es: Wir suchten ein Mädchen, das für uns tanzt. Also hängten wir ein paar Zettel auf, darauf stand: Suchen Tänzerin für Musikvideo, no porn. Ort, Zeit, fertig.

AA: Und dann mussten wir sechs Stunden warten, weil niemand kam. Wir wollten schon zusammenpacken, als plötzlich diese Frau erschien. Sie trug schwarz, bewegte sich absolut einmalig, ein wenig eckig vielleicht. Sie fing einfach an zu tanzen, wir filmten, das war’s.

TH: Deshalb schaue ich im Video immer stur zur Seite: Ich konnte ihr nicht zusehen.

AA: Ich kapiere auch gar nicht, dass sie sich nicht längst bei uns gemeldet hat. Irgendjemand muss sie doch auf das Video angesprochen haben. Ich würde mich so gerne bei ihr bedanken: Dieses Video hat alles möglich gemacht. Wir könnten sie mit auf Tour nehmen, irgendwas.

Stattdessen lassen Sie bei jedem Konzert drei überdimensionale „Non-Pornographic Pictures“ bekannter Schönheiten aufhängen.

TH: Klar! Wir sind jung! Was sollen wir auch sonst von den Veranstaltern einfordern?

Heute morgen standen bereits etliche weibliche Fans vor der Halle, als Sie zum Soundcheck vorfuhren.

AA: Unglaublich, oder?

TH: Mir macht es manchmal ein wenig Angst. Eines der Mädchen stand da und heulte.

AA: Und was hast Du gesagt?

TH: Ich weiß immer nicht, wie ich mit so etwas umgehen soll. All unsere Gefühle, unsere Verletzbarkeit, unser Schmerz steckt in den Liedern, deshalb haben wir sie ja geschrieben: Um die Emotionen rauszulassen. Deswegen fällt es mir auch schwer, mehr darüber zu sprechen. Wir sind schließlich keine Therapeuten, sondern nur zwei normale Lads, die einfach unfassbares Glück hatten.

Wird sich dieses gefundene Glück auf Hurts niederschlagen: Werden Sie bald nicht mehr so grießgrämig in die Kameras schauen?

TH: Das ist eine Fehleinschätzung: Wir sind nicht schlecht gelaunt, wir sehen so aus. Ich wurde schon früher morgens um fünf in irgendwelchen Clubs von wildfremden Menschen angesprochen, die mich fragten, was denn los sei. Ob es mir nicht gut ginge? Warum ich so traurig schaue. Bitte glauben Sie mir: Ich sehe so aus.

AA: Er hat Recht. Aber zurück zu Ihrer Frage: Das letzte Jahr ist sicher nicht spurlos an uns vorübergegangen. Wir hatten nichts, waren pleite, mit einem Fuß über dem Abgrund. Und jetzt reisen wir um die Welt und Menschen kommen zu unseren Konzerten, weil sie unsere Musik hören wollen. Und sie bezahlen sogar dafür. Ich bin wirklich gespannt, wie sich all das Positive, das uns widerfahren ist, auf unser nächstes Album auswirken wird.

Arbeiten Sie denn schon an neuen Stücken?

TH: Dafür haben wir derzeit keine Zeit. Vor 2012 wird das wahrscheinlich nicht passieren.

Die Redaktion hat Sie zum Newcomer des Jahres gewählt: 2010 hätte aus Ihrer Sicht nicht besser laufen können. Was war denn das Außergewöhnlichste, was Ihnen widerfahren ist?

TH: Wir sollten bei Giorgio Armani auftreten in Mailand, konnten aber nicht, weil die Schau von der Polizei gestürmt wurde.

AA: Jay-Z war toll!

TH: Das war surreal. Wir spielten gemeinsam bei einem Festival in Japan.

AA: Er lud uns ein, zu ihm in die Garderobe zu kommen und ein paar Drinks zu nehmen. Wir tranken, zeigten ihm ein paar Zaubertricks, erzählten ihm unseren Lieblingswitz und konnten überhaupt nicht fassen, was gerade geschieht. Als Jigga auf die Toilette gegangen ist, haben wir alles fotografiert. Peinlich, oder? Aber wer kann schon von sich sagen, dass er bei Jay-Z in der Garderobe abhängen durfte?

Erinnern Sie sich an den Witz, den Sie ihm erzählten?

TH: Meinen Lieblingswitz!

AA: Der einzige, den wir kennen …

TH: … sagt der eine Schneemann zum anderen …

AA: … sag mal, riecht es hier nicht nach Karotte?

Sehr komisch.

TH: Er findet ihn nicht lustig.

AA: Erzählen Sie uns einen.

Sagt der Techno zum Goa, der nur einen Schuh trägt: Hey, du hast ’nen Schuh verloren. Antwortet der Goa: Nein, ich habe einen gefunden.

TH: Verdammt, der ist ja viel besser als meiner.

AA: Dürfen wir den Witz behalten?

Gerne. Welche anderen Pop-Highlights gab es für Sie 2010?

TH: Marina and the Diamonds …

AA. The Drums. Das Album ist großartig.

TH: Gaga! Aber sie spielt in einer eigenen Liga.

AA: Und Take That!

TH: Sie wollten vorhin wissen, wer uns beeinflusst hat: Take That! In den Neunzigern konnten wir nie dazu stehen. Aber jetzt: Take That sind Weltklasse. Ganz großer Pop!

Wie erklären Sie sich, dass Hurts in Deutschland erfolgreicher sind als in der Heimat?

TH: Die Deutschen sind romantischer, sie mögen düsteren, schweren Synthie-Pop.

AA: Ähnlich wie die Finnen und Osteuropäer. Dort haben wir vor allem weibliche Fans.

Fans oder Groupies? Wie sehen eigentlich typische Hurts-Groupies aus?

AA: Angsterfüllt.

TH: Das klingt zu theatralisch.

AA: OK, gothic …

TH: Oder gelangweilt hausfräulich …

AA: Das ist eher dein Typ.

TH: Stimmt. Adam nimmt die Goth-Mädchen, ich lieber die Hausfrauen. Eine klare Rollenaufteilung.

Sie sind jung, ungebunden. Schon mal Sex zur eigenen Musik gehabt?

TH: Leider. Ich fange dann an, mitzusummen.

AA: Creepy!

TH: Was soll ich tun?

AA: Immer noch besser als Sex zu Dance Music. Da muss man zwangsläufig den Rhythmus aufgreifen, als folge man einem Metronom. Man sollte im Bett wirklich alles vermeiden, was eine Kick Drum benutzt.

TH: Wollen wir über etwas anderes reden?