Ian Anderson – „Unser Leben ist eine Pilgerschaft“


Regelmäßig kommen Jethro Tull zu Beginn eines neuen Jahres auf Tournee. Und regelmäßig sind noch immer die größten Hallen ausverkauft, weil mit lan Anderson ein Magier auf der Bühne steht, daneben seinem ungeheuren Witz und seiner spielerischen Intelligenz uns jedesmal aufs Neue beweist, daß er wahrlich noch nicht zu alt finden Rock’n’Roll ist!

ME: Die Titelzeile eines berühmten Songs von dir hieß einmal „Too old to Rock & Roll, too young to die“. Das ist jetzt aber schon Jahre her und du stehst 1981 noch immer auf der Bühne. Was denkst du, wann du wirklich zu alt für den Rock’n’Roll sein wirst?

Iau Anderson: Ich weiß nicht so recht. Das Problem wird aber, wenn es sich stellen wird, rein physischer Natur sein. Dann eben, wenn wir buchstäblich zu alt sein werden auf die Bühne zu steigen und unsere Songs noch zu singen. Psychisch werden wir wohl nie zu alt dazu werden, weil wir alle irgendwo Peter Pans sind. Was wir nämlich wirklich mit anderen Gruppen wie zum Beispiel den Rolling Stones oder The Who gemeinsam haben, ist nicht die Musik die wir machen, sondern die geistige Einstellung dazu: tatsächlich sind wir alle immer noch Kinder. So haben wir auch immer noch alle diesen kindlichen Glauben und diese kindliche Freude an der Aufregung, Musik zu machen, vors Publikum zu treten, ins Studio zu gehen – oder eben Interviews zu geben…

ME: Aber wird es da nicht zweischneidig, wenn die Kinder, die eure Musik hören, in euch Leitbilder suchen, die – wie du sagst selbst noch Kinder sind? Brauchten sie nicht im Gegenteil Leitbilder, die ihnen helfen, Erwachsene zu werden?

lan: Klar, die Art von Führern, die wir alle brauchten, müßten sehr wirkliche Menschen sein, ehrlich, stark, politisch sozial und erzieherisch – und darum sicher keine Leute wie ich es bin. Deshalb sind wir ja auch keine Ü Führer. Wir sind eine Ausflucht. Wir sind eine Alternative zur Realität.

ME: …aber eben doch in einer exponierten Position.

lan: Nein, da kann ich nicht zustimmen. Wir sind vielleicht sowas wie ein Katalysator, der Leute zusammenbringt und mit ein paar kleinen Ideen versorgt. Vielleicht beeinflussen wir auch eine Generation politischer Führer für die Zukunft, aber wir kommen doch nicht mit sowas wie einem Manifest heraus. Wir sind einfach nicht diese Art von Menschen und wenn wir es wären, wären wir Politiker und keine Musiker. Ich glaub‘ auch nicht, daß die Leute diese Art von Führung wünschen. Sie haben die Botschaften satt. Sie wollen Entertainment, wenn sie Musik hören und das ist ein verdammt wichtiger Maßstab. Beethoven – ihn höre ich zum Beispiel oft wenn ich mich mal von allem zurückziehen will – Beethoven also war sicher ein fürchterlicher Politiker gewesen, ein vollkommenes Desaster!

ME: Einverstanden, aber noch mal kurz zurück: eben sagtest du, daß ihr eine Alternative zur Realität wärt. Zu welcher?

lan: Zu jeder. Alles was wir machen, ist folgendes: wir nehmen uns einen Ausschnitt der Realität und interpretieren ihn in Begriffen der Phantasie. Das ist der ganze Sinn jeder Kunst. Das geht in einem ewigen Kreislauf von der Realität zur Phantasie und wieder zurück zur Realität. Und zwar geht das immer von einer Privatperson aus in die öffentliche Domäne der Phantasie, aus der es dann wieder zurückkommt als eine persönliche Realität auf den Betrachter, den Zuhörer, den Leser… je nachdem, welche Kunstform es gerade ist.

ME: Du siehst deinen Job also vor allem darin, Künstler zu sein?

lan: Vielleicht ist es auch mehr. Aber es wäre für m ich sich er gefährlich, zu glauben, daß es so ist.

ME: Na ja, wenn du es irgendwie weißt, brauchst du es ja auch nicht extra zu glauben…

lan: (lacht) Klar, ich meine…, weißt du, da ist natürlich schon so ein bißchen dran, wenn du denkst: vielleicht kann ich etwas ändern. Vielleicht kann ich jemanden so oder so beeinflussen. Aber das ist nichts zum Spielen. Das ist nicht – na, weißt du, das ist sowas wie schwarze Magie. Und natürlich praktizieren wir alle etwas Magie auf die eine oder andere Art. Wir alle haben ja doch irgendeine Beziehung zu den alten… den alten Göttern, wenn du so willst. Aber wir spielen nicht damit rum, das ist wirklich zu gefährlich…

ME: Alte Götter?

lan: (lacht wieder) Naja ich sag ja, nenn‘ es, wie du willst. Ich weiß selbst nicht so genau, wie ich es nennen soll. Im Moment und an diesem Punkt meines Lebens habe ich immer noch die sehr einfache Vorstellung von Gott als der vollständigen Einheit der Natur. Daß er… in jedem Grashalm ist und in jeder Wolke am Himmel, oder… eine gute Frau in einem warmen Bett. Aber du siehst selbst, daß ich meine Vorstellungen da wirklich noch nicht zu einem klaren Bild geordnet habe. Vielleicht entscheide ich mich, wenn ich mal sechzig bin, fürs Christentum. Aber die bin ich eben noch nicht! Und ich denke, daß der Gott, an den ich glaube, respektieren wird, daß das jeder von uns selbst herausfinden muß in dem Leben, das wir führen. Ich seh‘ unser Leben als eine einzige Pilgerschaft, um schließlich zu unserem eigenen Weg zu finden. And that’s o.k…