Idylle in Scherben


Alles war schon vorbereitet fürs Jubiläum das Banquet, die Special Stories. die Festreden. Ein heißer Sommer für die Scherben, und all die, die das 20. Dienstjahr der Republik beständigster Band begehen wollten. Nun wurde der Titel der schon angekündigten TSS-LP bittere Wahrheit: ALLES LÜGE! Ton Steine Scherben aufgelöst, Aus, Ende, vorbei.

Die Legendenbildung, schon zu Lebzeiten der Truppe im Gange, wird jetzt wilde Blüten treiben. Musikalische Leichenfledderei – wie bei anderen großen Toten der Branche – wird es, dank „David Volksmund“, nicht geben. Die Scherben, schweißgeboren in einem Kreuzberger Hinterhof, mit „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, hatten immer totale Kontrolle über ihr Tun und Handeln, vor allem aber über ihre Unterlassungen.

Ironie des Schicksals: justament in dem Jahr, in dem sie schlußendlich bei dem Medien-Riesen WEA unterkriechen wollten, geht alles in die wortwörtlichen Scherben.

Mit Toten ist das so eine Sache. Zuerst glaubt man es nicht: dann – langsam – gewöhnt man sich an das neue Tempus: „war“ statt „ist“. Das Monster Zeit knirscht ein letztes Mal mit den Kiefern.

Erwarte nur keiner, daß man dem Phänomen Ton, Steine Scherben mit einigen Zeilen beikommen kann. Dazu war die Geschichte dieser Formation viel zu ereignis- und abwechslungsreich. Stellen wir also der Einfachheit halber eine Grundsatzfrage: Was bedeuten die Scherben? Was werden sie bedeuten?

Ganz einfach! Sie waren (man achte auf die Vergangenheitsform) die wichtigste Rockband des deutschsprachigen Raums. Ich weiß, daß eine solche Aussage auf Widerspruch stoßen muß. Darum ein Erklärungsversuch: Zuerst waren sie sowieso fast allein auf weiter Flur. Nena muß noch am Daumen gelutscht haben, als sie schon mit deutschen Texten Rockmusik machten.

Und später? Auch bei diesem Vergleich schneiden sie gut ab. Die NDW, das wissen wir heute, bestand zu 50 Prozent aus Hampel-, zu 40 Prozent aus Blödmännern – und von dem Rest schafften nur wenige den Durchbruch zum Publikum. Die Scherben aber hatten etwas, was den meisten Kollegen stets abging: Inhalte!! Kleine-Leute-Probleme, Feierabend-Lieder, Polit-Gassenhauer. Deutliche Worte in undeutlicher Zeit. Sie boten Orientierungshilfen, Identifikationsmodelle, Spaß und laute, rauschende Rocknächte.

Abgesehen von dem ganzen politischen Rattenschwanz, an dem man die Scherben immer festhalten wollte, entpuppten sie sich auch als Lieferanten wunderbarer Liebeslieder. „Laß uns ein Wunder sein“ wies Rio als romantischen Hund aus und war ganz nebenbei das beste Stück Liebeslyrik seit Jahren.

Außer den Fakten und Zahlen, den Tourneen und insgesamt sechs LPs gibt’s jede Menge Anekdoten, schöne und weniger schöne. Nicht alles lief nach Wunsch. Die zweite Scherben-Ära, die 1975 nach den Berliner Jahren im friesischen Fresenhagen begann, hatte ihre Einbrüche. Frei nach dem Motto: „You can take the boys out of the city, but you can’t take the city out of the boys!“ Rio Reisers erste Solosingle „Dr. Sommer“ flopte ganz empfindlich. Kein Beinbruch. Scherben-Songs waren dennoch sehr gefragt: Marianne Rosenberg, Alan Woerner, Klaus Lage… Und Davids Steinschleuder- im Logo der „Volksmund Produktion“ als Warnung an alle Goliaths – wird auch nicht weggepackt. Es bleibt dabei: „Wenn die Nacht am tiefsten is, ist der Tag am nächsten!“