Inner Circle


Jamaika setzt an zum endgültigen Sturm auf die internationalen Hitparaden. Bob Marley hat den Reggae populär gemacht, und Inner Circle beweisen nun, daß die Jungs aus der Karibik noch mehr können. Das Debutalbum der Band um die drei Zwei-Zentner-Männer Jacob Miller, Roger Lewis und Ian Lewis enthält eine grandiose Mischung aus Rock, Reggae und Disco, bringt eingängige Melodien und offenbart zugleich enormes Können in den instrumentalen Parts (siehe auch ME 4/79). Hat nach diesem Kurswechsel zum angloamerikanischen Mainstream des Rock für den Reggae, den Soundtrack jahrhundertelanger Sklaverei und Unterdrückung, das letzte Stündlein geschlagen? "Natürlich nicht", meint Jacob Miller, der stimmgewaltige Sänger. "Aber warum sollten wir uns musikalisch Beschränkungen auferlegen?"

Ein Wort von Miller hat Gewicht. Nicht nur, weil er runde 200 Pfund auf die Waage bringt. Sondern auch, weil er in Jamaika eine Art Volksheld ist seit jenem legendären Konzert in der Inselhauptstadt Kingston im Frühjahr 1978 (siehe ME 6/ 78). Damals waren Inner Circle im Stadion der Stadt aufgetreten, zusammen mit Bob Marley & den Wailers, Peter Tosh, Culture und vielen anderen einheimischen Bands. Acht Stunden Reggae vor 30.000 Zuschauern. Weil starke soziale Spannungen Kingston immer wieder zum Pulverfaß machen, war zum Konzert Polizei aufmarschiert: an den Eingängen, rund um die Bühne und an anderen strategischen Punkten standen Rudel von schwerbewaffneten Ordnungshütern. Und nun Jacob Miller auf der Bühne. Wohlwissend, daß der Gebrauch von Marihuana im Lande streng verboten ist – obwohl die Bevölkerung es genießt wie die Deutschen ihr Bier -, zündet er sich einen gewaltigen Joint an. Dann springt er von der Bühne, geht auf den erstbesten Polizisten zu und bietet ihm einen Zug aus seiner Tüte an. Starr und mit unbewegtem Gesicht bleibt der Ordnungshüter stehen. Da nimmt ihm Miller mit ein paar schnellen Handbewegungen den Helm ab, stülpt ihn auf seinen eigenen Kopf, rennt weg, klettert zurück auf die Bühne und tanzt triumphierend zum Reggae auf den vibrierenden Brettern. Schließlich reißt er den Helm wieder herunter und schüttelt wild seine langen, zopfartigen Haarsträhnen, die „Dreadlocks“. Sie weisen ihn aus als Angehörigen der berühmten religiösen Gemeinschaft der „Rastafari“, aus deren Reihen die meisten Reggae-Musiker stammen und deren Mitglieder auch heute noch häufig wegen ihrer fortschrittlichen sozialen Überzeugungen von der Polizei verfolgt werden. Früher schnitt man ihnen nach der Festnahme stets die Haare ab – wer diesen Background kennt, kann ermessen, welch ungeheure Provokation Jacob Miller, umtost vom Jubel der 30.000 Zuschauer, bei diesem Konzert wagte. Der Anlaß des Auftritts, der Friedensschluß zwischen verfeindeten Getto-Gangs, gab auch das Thema ab für die beste Single, die Inner Circle vor der neuen LP „Everything Is Great“ je aufgenommen haben: „Peace Treaty Special“, frei nach einer bekannten Melodie aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Auch vom Stil her paßte ,,Peace Treaty“ – das war echter Roots-Reggae.

Und nun geht dieser Mann fremd. Drängt mit seiner Band auf den Weltmarkt mit einem Album, das eben nicht nur „Everything Is Great“ heißt, sondern in der Tat eine ebenso interessante wie virtuos interpretierte Mischung aus Rock, Reggae und Disco enthält, angereichert mit jazzigen und elektronischen Sounds; eine perfekt produzierte Platte, auf der im Reggae-Rhythmus zwar noch ein Stückchen Afrika durchschimmert, deren Design aber eindeutig anglo-amerikanischen Vorbildern folgt. Eine Platte auch, die auf die Hitparaden in Amerika und Europa zugeschnitten ist und die diverse Hitsingles abwerfen könnte: „Everything Is Great“, „Music Machine“, „Mary Mary“ und „Stop Breaking My Heart“ zum Beispiel.

Inner Circle schlagen Brükken. Zu ihrem Album paßt jener Begriff, auf den man in der Reggae-Musik heute immer wieder stößt: „cross-over“.

Bob Marley hat’s vorgemacht, als er Reggae und Rock verband. Third World schufen eine Synthese aus Reggae, Soul und Jazz. Peter Tosh experimentierte mit Reggae, Rock und Pop. Ijahman knüpfte aus Rock und Reggae eine weitgeschwungene meditative Melodik, die Leute wie Steve Winwood und Eric Clapton zum Mitspielen reizte. Die Türen sind weit geöffnet. Inner Circle selbst starteten schon 1976 und 1977 zwei noch nicht so geglückte Versuche, um die musikalischen Grenzen ihrer Heimat zu sprengen: Sie nahmen für die US-Firma Capitol Records die Alben „Reggae Thing“ und ,,Ready For The World“ auf. Als Gastmusiker wirkten bei diesen Produktionen neben anderen Eddie Money, Neil Schon (Journey, Santana) und Tim Weisberg mit.

Die Band Inner Circle hat in Jamaika eine lange Tradition. Die Besetzungen haben seit 1969 häufig gewechselt, der Name blieb. Ein Ableger dieser Formation heißt heute Third World – der Keim zur „Roots Rock Symphony“ hat wohl schon immer in dieser Gruppe gesteckt. Roger Lewis und Ian Lewis, Gründungsmitglieder von Inner Circle, haben nebenbei auch noch einen guten Namen als kompakte Rhythmusgruppe – Fat Men Rhythm Section nennt man sie in Jamaika. Aber auch das scheint sie noch nicht auszulasten: Roger Lewis besitzt zudem ein eigenes jamaikanisches Plattenlabel, „Top Ranking Records“, dessen Produkte in Deutschland aber (noch) nicht zu haben sind. Zumindest für ihn hat der LP-Titel von Inner Circle seine volle Berechtigung: „Everything Is Great“.