Labelträume Labelschäume


Im Sommer 1971 katapultierten die BEATLES den 38jährigen Amerikaner Allen Klein aus Ihren 1968 gegründeten APPLE REC. Klein, knappe 15 Monate vorher eingekauft, um aus einem zerbröckelnden Imperium eine normal funktionierende Firma zu machen, scheiterte an einem Unternehmen, das immer mehr sein wollte als nur Schallplattenfirma. Heute Jedoch ist APPLE REC. wie ein Dutzend andere auch. Nichts mehr ist von den Idealen der Gründerzeit geblieben, in der viele annahmen, die BEATLES könnten die Welt verändern. Eines aber Ist sicher: Die vier Liverpooler setzten einen Prozeß In Gang, der für 98 Prozent aller Musiker Vision blieb: die Gründung einer eigenen Schallplattenfirma.


Euphorie und Revolution

Zwei Jahre vorher, 1966, forderte FRANK ZAPPA auf einer Pressekonferenz: „Was wir brauchen, sind andere Gesellschaften.“ Damit sprach er aus, was vielen noch als Utopie im Gehirnwasser schwappte. Aber jetzt war die Vision sichtbar geworden und fing an, die steifen Barrieren gesellschaftlicher Normen zu überwinden. Am Horizont stand der Glaube an die revolutionäre Kraft der Rock-Musik. Diese Musik dachten wir, sei der Botschafter einer neuen Gesellschaft, die auf Liebe, Freiheit und Selbstverwirklichung beruht. Rock schien nicht länger ein Bereich der jugendlichen Unterhaltungsindustrie zu sein, denn mit der Musik wuchs ein neues Lebensgefühl.

Doch da gab es einen Widerspruch. Wenn Rock tatsächlich das wesentliche Medium der Gegenkultur war, warum wurde er durch etablierte Firmen kontrolliert? Die Unternehmen machten keinen Hehl daraus, daß gerade sie an der musikalischen Revolution verdienten. Dieser Widerspruch zwischen den Idealen und der Realität wurde 67, ein Jahr nach dem ZAPPA-Zitat, offenkundig. San Franzisco, Geburtsort der neuen Vision, wimmelte von Schallplatlenagenten, cleveren Managern und aufgeblasenen Promotiontypen. Sie hechelten mit ihren Scheckheften durch Parks, wo sich die Gegenkultur mit Free-Concerts formierte, und sie grasten Konzerte ab, um die Führer der Revolution mit langfristigen Verträgen zu ködern. Ihr Interesse ließ sich auf einen einfachen Nenner bringen: „Lang lebe die Revolution, wenn sie auf unserem Label erscheint!“

Erster Fehlschlag

Trotz dieser sich abzeichnenden Vermarktung bestand der echte Idealismus weiter und mit ihm das Gefühl, daß eine Veränderung möglich sei. „Wenn wir alles umkrempeln wollen, wenn wir neue Formen für uns erschließen, müssen wir der Kreativität die Zwangsjacke ausziehen“, sagte JOHN LENNON im Februar l968 bei Gründung von APPLE REC. Und: „Wir befinden uns in einer Durchhängephase, sowohl in der Musik als auch in anderen kreativen Bereichen. Wir können, abgestützt durch unsere finanziellen Ouellcn, neue Projekte verwirklichen und all jenen Künstlern einen Weg öffnen, der bisher vom Establishment versperrt war.“ LENNON rannte damit offene Türen ein. Aber seine Idee scheiterte an der Realität. Apple entwickelte sich in kürzester Frist zu einem 80-Millionen-Mark-Wagnis und -Abenteuer.

Das Geld der Vier wurde in fünf verschiedene Abteilungen investiert. Electronic, Leiter der Grieche Alexis Mardas, auch als „Magic Alex“ bekannt, Film-Magical Mystery Tour, Schallplatten, Vertrieb und mehrere Geschäfte mit Boutique-Charakter. Die Investitionen verliefen wie Wasser im Sand. Ungeachtet dieser materiellen Schwierigkeiten behauptete KEN TYNAN, Prophet der britischen Marxisten: „Die BEATLES sind eine neue Sorte von Marxisten, die ihre eigenen Produktionsmittel besitzen.“ Tatsache war indessen, daß sich APPLE trotz dieser eigenen Produktionsmittel in einem ruinösen Zustand befand, der die Gesellschaft „Woche für Woche 60000 DM kostete“. Es mußte bald etwas geschehen, sonst würde aus dem Traum ein Alptraum. Goldäpfel ergossen sich über Typen, die es nicht verdient hatten.

Zwar kamen von vier APPLE-Singles, die im August ’68 vom Stapel liefen, – zwei „Those Were The Days“ von MARY HOPKINS und „Hey Jude“ von der Gruppe selbst – in die britische Top Ten, aber diese Schmalspurerfolge halfen nur soviel wie der bekannte Tropfen auf dem heißen Stein. Im Frühjahr ’69 war APPLE ein chaotischer Haufen, in dem die Linke nicht wußte, was die Rechte tat. Fazit: Die BEATLES hatten versucht, kreativ und geschäftstüchtig zu sein, aber ohne Erfolg. Totale Kopflosigkeit verbreitete sich nach dem Selbstmord ihres Managers Brian Epstein. Allen Klein, in ärgster Not gegen den Willen PAUL MCCARTNEYS engagiert, konnte das marode Unternehmen nicht mehr sanieren, wohl auch, weil er im wesentlichen an die Sanierung seiner eigenen Tasche dachte. Resümierte JOHN LENNON am Ende der für alle offenen kreativen Phase von APPLE: „Wir haben versucht, eine zweite Ford-Stiftung zu sein, doch das war der totale Kopfschuß.“

Noch ein Versuch

Ungeachtet des Showdowns bei APPLE blieben Euphorie und Begeisterung ungebrochen. GRAEME EDGE, Leader von MOODY BLUES, erklärte im Herbst ’69 auf der Einweihungsfete der THRESHOLD REC: „Die Schwierigkeiten bei den Firmen bestehen einfach darin, daß sie zu groß sind. Ihrer Struktur nach bewerten sie den kommerziellen Aspekt höher als den künstlerischen.“ THRESHOLD sollte ein „Musicians Workshop“ werden, in dem jede Band kreative Freiheit erhalten sollte. Aber diese Ideale waren zu naiv, die Realität sah ganz anders aus: „Wir saßen an den entgegengesetzten Seiten des Konferenztisches und durch diese Position wurde ich in eine Rolle gedrängt, die mir nicht paßte. Keiner der Typen, die wir unter Vertrag nahmen, schien zu begreifen, daß wir etwas ganz anderes vorhatten. Es war unsere Schuld. Gib dir das Etikett Schallplattenfirma, dann wirst du auch entsprechend behandelt“, erinnert sich GRAEME EDGE resigniert. Jedenfalls war das Gerüst von sieben Gruppen – vielleicht aus diesem Grunde – ein totaler Mißgriff. „Alles was wir wollten, waren gute Leute, die dufte Musik machten. Wir begriffen schnell, daß wir keine Geschäftsleute sein konnten und haben entsprechend unsere Konsequenzen gezogen. Heute verhandeln einige Manager für uns. Das war nötig, denn uns drohte die Sache ähnlich wie den BEATLES aus der Hand zu gleiten.“ Und heute? Statt sieben Interpreten gibt es bei THRESHOLD nur noch zwei: natürlich MOODY BLUES und NICKY JAMES.

Business Power

MOODY BLUES und BEATLES gingen von ähnlichen Voraussetzungen aus. Beide nahmen an, daß eine von Musikern geführte Firma größere Sympathien bei den Künstlern und darüber hinaus ein besseres Zeitgefühl für Neuerscheinungen haben würde. Trugschluß! A&M, diese Initialien stehen für HERB ALPERT und JERRY MOSS, wurden dagegen nicht nur deshalb erfolgreich, weil ein Musiker im Direktorium vertreten war, sondern weil ALPERT in MOSS einen Partner gefunden hatte, der in dem Ruf stand, der beste Promoter der amerikanischen Ostküste zu sein. Ihre Partnerschaft ging in das Kalifornien der frühen 60er Jahre zurück. ALPERT war zu dieser Zeit mehr Produzent als Musiker. 1960 verwirklichte er mit LOU ADLER JAN und DEANS „Saby Talk“, das auf Anhieb Nr. 7 in den amerikanischen Charts wurde. Auch MOSS sammelte Lorbeeren. So erzählt man von ihm, daß er einmal nicht weniger als 20 Singles innerhalb eines halben Jahres in die Top Hundred brachte.

1962 war es soweit. Die beiden warfen ihre Fähigkeiten zusammen und gründeten A&M. Unter den kritischen Augen der amerikanischen Schallplattenindustrie feierten sie ihren Einstand mit „Lonely Bull“ von HERB ALPERT. Es funktionierte, das von MOSS so treffend charakterisierte „Schnell-reichwerden-System“.

Heute gehört A&M zu den fünf größten Schallplattenunternehmen in USA, und Kenner behaupten, sie seien die größte Insider-Firma der Welt. Ihr Erfolg beruht wahrscheinlich auf einer strikten Arbeitsteilung und der gekonnten Streuung von Verantwortung innerhalb der Gesellschaft. In den 60er Jahren übernahm MOSS alle Geschäftsaspekte, während ALPERT sich auf seine musikalische Karriere konzentrierte. Nur so ist zu erklären, daß ALPERT 1965 nicht nur in den Staaten, sondern auch in allen anderen Teilen der westlichen Welt der größte Verkaufsschlager wurde. Von den Idealen und der Nächstenliebe der Gegenkultur war bei A&M nichts mehr zu spüren. „Wir sind nicht die Wohlfahrt, wir wollen Geschäfte machen“, sagte MOSS 1966.

Die gleichen Ambitionen hatte DENNY CORDELL, ein englischer Produzent, der von 1967 bis 1969 nicht weniger als 19 Hits in die britische Top Ten schoß: und zwar — man höre und staune — von nur 24 produzierten Titeln. Dazu gehörten JOE COCKER, MOODY BLUES, MOVE und PROCOL HARUM. 1970 hatte er von England die Nase voll und versuchte sein Glück in den Staaten. Nach vier Monaten Eingewöhnung gründete er SHELTER REC. Der größte Star wurde LEON RUSSELL. Die beiden hatten sich auf einer COCKER-SESSION in Los Angeles getroffen und mochten sich auf Anhieb. Als es darum ging, Aktiva und Passiva vorzuweisen, langte RUSSELL voll hin. Er besaß ein Studio, einen umfangreichen Song-Katalog und einige ausgezeichnete LPs. CORDELL seinerseits konnte Produzentenerfahrung und Erfolge vorweisen. Aus der Freundschaft wurde schnell eine lukrative geschäftliche Partnerschaft. „Wir begannen als Blues-Rock-Label, obwohl sich die Grenzen inzwischen etwas in Richtung Hard Rock, C&W-Music und etwas Reggae verschoben haben.“ Auch SHELTER hatte Ideale: „Unsere Anziehungskraft ist gute Organisation und soviel Freiheit, daß jeder daraus wichtige Inspirationen ziehen kann“, versuchte CORDELL den guten Geschäftsabschluß 1974 zu erklären. „Alle Anstrengungen unternehmen wir gemeinsam. Jeder hilft jedem. LEON RUSSELL bleibt unser Topstar, auch wenn sich J. J. CALE mittlerweile fantastisch etabliert hat.“ Heute, fünf Jahre nach der Gründung, ist SHELTER eine der wenigen von Künstlern geleiteten Firmen, die eine positive Bilanz vorweisen können.

Das Karussell dreht sich weiter

Rechnet man Erfolg und Mißerfolg eines Künstlerlabels gegeneinander auf, so scheint etwas unabdingbar: eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Musiker und versiertem Geschäftsmann.

FRANK ZAPPAs DISCREET COMPANY, eine Ansammlung seiner bisherigen STRAIGHT und BIZARRE Labels, beruht auf einer Partnerschaft zwischen dem Künstler und seinem Manager HERB COHEN. ZAPPA selbst ist aber nicht nur Künstler, sondern ein schlauer, pfiffiger Kookie mit einem Riecher für’s Geschäft. Erinnern wir uns, daß er es war, der 1969 ALICE COOPER auf seinem STRAIGHT-Label unter Vertrag nahm.

Im Oktober 1971 starteten EMERSON, LAKE & PALMER das Label MANTICORE. Mit von der Partie war ihr Manager STUART YOUNG. Außer ELP beherbergt die Firma heute die Italo-Rock-Gruppe PFM, STRAY DOG und PETE SINFIELD, der vorher bei KING CRIMSON arbeitete ROCKET REC. das im Februar vergangenen Jahres von ELTON JOHN und seinem Partner JOHN REID gestartet wurde, enttäuschte viele positive Erwartungen. Zwar sollte ROCKET kleinen Künstlern und unbekannten Bands eine Chance bieten, aber der Optimismus wurde schnell durch die Geschäftsrealität verwässert. „Wir hatten die schönsten Ideale, und jeder im Büro besaß den gleichen unglaublichen Enthusiasmus hinunter bis zum Laufburschen. Wir gingen alle, die Telefonistin eingeschlossen, zu Konzerten, um nach neuen Bands Ausschau zu halten.“ sagt ELTON JOHN, und dann schränkt er ein: „Vielleicht haben wir manche Bands zu schnell und mit zuviel unkritischer Begeisterung unter Vertrag genommen.“ Das klingt fast wie ein schlechter Witz, denn heute teilen sich nur drei Künstler die Firma: KIKI DEE. MALDWYN POPE und natürlich ELTON JOHN „Jeder, der Marx gelesen hat, weiß, daß die Verteilung des Kapitals bei jeder Art von Revolution eine große Rolle spielt. Ich bin kein Marxist, und ich glaube. daß gerade in einer Schallplattenfirma die Leute arbeiten müssen. Es genügt nicht, durch EMI ein Büro aufzumachen. Das wäre genauso revolutionär wie Kieselsteine kochen. Wir müssen in den Straßen verkaufen, von LKWs herunter, etwas völlig Neues machen.“ Der das im August 1970 pathetisch verkündete, war kein Geringerer als MICK JAGGER. Aber die Revolution fand nicht auf der Straße, sondern im Saale statt.

Ort der Handlung: Cannes im April 1971. Atlantic Rec. übernimmt zu einem nie bekannt gewordenen Preis das ROLLING STONE Label. Nicht weniger als 21 Firmen waren an diesem kleinen Goldstück interessiert und hatten Offerten eingereicht. Atlantic schoß den Vogel ab und ließ sich den PR-Rummel weit über 100000 DM kosten. Die STONES hatten aus den Erfahrungen der BEATLES gelernt. Ihre Firma ist ein Schallplattenunternehmen ohne jene Nächstenliebe, die finanzielle Gänsehaut erzeugt. Auch sollte keine geplante Revolution das Verteilersystem umkrempeln. Alles lief stinknormal, blieb stinklangweilig . . . und der Zustand dauert an.

Sehnsucht nach Veränderung

Aber anderswo hält sich die Sehnsucht nach einer Veränderung in der Musikindustrie Die GRATEFUL DEAD z.B. gründeten vor zwei Jahren eine Gesellschaft, weigerten sich jedoch, einen Vertriebsvertrag mit einer etablierten Firma abzuschließen. Stattdessen entwickelten sie eine Methode, ihre Scheiben durch ein System von privaten Verteilern in den Staaten zu vertreiben. Da das System zu funktionieren schien, wurden die DEAD ermuntert, ein zweites Label. ROUND, in der gleichen Weise aufzuziehen. Aber das private Verteilerglück der DEAD dauerte nur zwei Jahre. Heute ist die Gruppe wieder soweit, ihr Label in den Staaten von Linited Artists vertreiben zu lassen. JERRY GARCIA: „Wir waren zu naiv. Wir haben den Vertrieb Leuten überlassen, die scheinbar vor Begeisterung und Aktivität aus den Nähten platzten. Aber eben nur scheinbar. Mann, wir sind bei den Abrechnungen beschissen worden, das kann sich keiner vorstellen.“

Nur das JEFFERSON AIRPLANE-Unternehmen GRÜNT hat bisher nicht vor dem privaten Verteilersystem kapituliert. Die Gruppe ging sogar noch einen Schritt weiter. In einem von ihnen ausgearbeiteten Gewinnschema wurden alle Künstler in gleichem Maße an den Einnahmen beteiligt. Gewinne kann man aber nur verteilen, wenn auch welche gemacht werden. Bisher waren jedoch nur JEFFERSON und ihre Ableger (PAPA JOHN CREACH) in den Top Twenty. PAPA JOHN hat sich vor einem halben Jahr von GRUNT getrennt und ist unter die Fittiche einer etablierten Firma geflüchtet. Revolutionär sind nur JEFFERSON und mit Abstrichen die DEAD. Sie führten konsequent aus, was ZAPPA 1966 in seinem Interview gefordert hatte. Alle anderen haben sich den Geschäftspraktiken der großen Firmen angepaßt, und auch von den Neugründungen, die in diesem Jahr auf dem internationalen Markt erschienen sind, kann man keine Veränderungen erwarten.

LED ZEPPELIN und ihr Managet PETER GRANT möchten mit einem Paket von sechs oder sieben Künstlern in der Musikszene reinen Tisch machen. Vorerst jedoch nur ein Wunschtraum auf dem SWANSONG-Label. Die zur Zeit einzigen Schwäne sind LED ZEPPELIN und ROGER DALTREY als Einzelgänger.

Auch RAY DAVIES von den KINKS wollte mit einer eigenen Firma ein Stückchen Schallplattenmarkt erobern. Er brütete KONOUEST aus.

Der Hammer des vergangenen Jahres, mit dem keiner gerechnet hatte, war jedoch DARK HORSE von GEORGE HARRISON. Von ihm erwartet man zwar keine revolutionären Umwälzungen, aber man hatte einfach nicht mit ihm gerechnet, denn bis Ende 1976 ist er noch künstlerischer Direktor bei APPLE. Bis heute weiß keiner genau, warum HARRISON sein schwarzes Pferd gesattelt hat.

Wie steht es denn nun mit der neuen Gesellschaft durch die neuen Gesellschaften? Es scheint, der Traum habe sich in Schaum aufgelöst.