Lieber Arbeiter als Arschloch


Wie Snow Patrol ohne einen Funken Glamour Topseller bleiben wollen. Und was das mit Berlin zu tun hat.

Gary Lightbody ist das pure Gegenteil dessen, was man sich unter einem Rockstar vorstellt. Der schlaksige Sänger wirkt wie ein zu groß geratener Bengel, als er sich in einem Londoner Hotelzimmer in den Sessel sinken lässt und sich schmunzelnd dafür entschuldigt, ein Häppchen seines mittlerweile wohl kalten Mittagessens in der kurzen Pause eines langen Interviewmarathons noch nicht heruntergeschluckt zu haben. Im Bandblog schrieb er, seine Lieblingsbeschäftigung sei „Tee trinken, Schokolade essen und Simpsons schauen“, die zweitliebste „ins Pub gehen“. „Ich bin dankbar für unseren Erfolg, aber ich verzichte gerne darauf, berühmt zu sein. Du musst verrückt sein, dir so etwas zu wünschen; es zerstört dein Privatleben“, erklärt der 32-Jährige. „Ich genieße es, durch London oder Glasgow gehen zu können und von niemandem erkannt zu werden.“ Ein strahlender Lichtkörper wird aus Mister Lightbody wohl nie.

Lange sah es danach aus, als würden Snow Patrol wie eine Sternschnuppe vom Pophimmel fallen und glanzlos verglühen. Ihre ersten beiden Platten blieben Randnotizen, ihr Label Jeepster setzte lieber auf sein Zugpferd Belle & Sebastian und ließ die Band schließlich fallen. „Im Nachhinein bin ich froh, dass wir all das durchmachen mussten. Damals wartete ich nur darauf, ein Rockstar zu werden und die Welt zu Füßen zu haben.

Hätte sich unser erstes Album millionenfach verkauft, wäre ich heute ein anderer Mensch höchstwahrscheinlich ein eingebildetes, arrogantes Arschloch“, sagt der Frontmann. Der unverhoffte Aufstieg gelang mit einem Majordeal und den beiden Platten final straw und eyes open. Letztere ging im Sog der Hits „Chasing Cars“ und „Shut Your Eyes“ weltweit rund 5 Millionen Mal über die Plattentische und war in Großbritannien das bestverkaufte einheimische Album des Jahres 2006. Zahlen, die verpflichten und bestätigt werden wollen.

In die Abgeschiedenheit der irischen Midlands zogen sich Snow Patrol fürs Songwriting und erste Aufnahmen zum neuen Album zurück. Im Grouse Lodge Studio, wo sie bereits einen Teil von eyes open eingespielt hatten, kapselten sie sich von der Außenwelt und ihren Erwartungen ab, um ungestört an ihrem neuen Werk arbeiten zu können. Für den Feinschliff zogen sie in die Hansa Studios nach Berlin um – ein Kontrast, der das Gesicht der Songs umgehend veränderte: „In Berlin explodierten die Songs förmlich – wir hoben sie auf eine ganz andere Stufe. Dieses pulsierende Leben, diese Hektik, dieser Nonstop-Wahnsinn … das gab uns zusätzlichen Schub. Es war ein komplett anderes Leben als in der Einsamkeit Irlands, was auch unseren Zugang zur Musik nochmals veränderte.“

Die letzten beiden Platten dienten Lightbody als Ventil, sich den Schmerz verflossener Liebschaften von der Seele zu schreiben. Der Mann, der sich selbst als „emotionalen Krüppel“ bezeichnete, hat Glück und Liebe immer noch nicht vereinen können, scheint die Wunden der Vergangenheit aber weggeleckt zu haben, a hundred Million suns liest sich weitaus hoffnungsvoller und scheint weniger therapeutisch.

„Es ist eine Platte über die Liebe, nicht über den Herzschmerz“, sagt Lightbody. Der langjährige Produzent Garret „Jacknife“ Lee, der auch privat mit Snow Patrol eng verbunden ist und inzwischen den Status eines inoffiziellen Bandmitglieds besitzt, sorgte dafür, dass Album Nummer fünf den bewährten Weg zwischen saftigem Alternative Rock und dunkel-melancholischem Grundton nicht verließ. Ihm hätten sie alles zu verdanken, sagt Lightbody, und deswegen komme es nicht in Frage, mit jemand anderem zu arbeiten: „Vielleicht bleiben wir die Band, die die Leute immer mit ,Run‘ und ,Chasing Cars‘ assoziieren werden. Ich könnte damit leben, weil ich auf diese Songs wirklich stolz bin. Ich muss mir von niemandem sagen lassen, was ich besser oder anders hätte tun sollen, solange ich hinter meiner Kunst stehen kann. Und ich spüre immer noch, dass a hundred Million suns ein Stück verdammt harter Arbeit war.“

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