Michael Cretu


Geld stinkt nicht. Doch der Mann im Hintergrund, der als Sandra-Produzent und "Enigma"-Erfinder weltweit mehr als 4O Millionen Platten verkauft hat, ist lieber reich als berühmt. Weil ihm aber inzwischen an Deutschland einiges stinkt, lud er ME/Sounds-Redakteur Peter Wagner in sein Exil auf Ibiza.

ME/SOUNDS: Der „Enigma“-Coup ist verjährt, du bist 1991 weltweit der erfolgreichste Künstler deiner Plattenfirma, und ob du und Sandra zusammen 36 oder 40 Millionen Platten verkauft haben, ist eher eine statistische Frage. Was zum Teufel bringt den Mann im Hintergrund dazu, auf einmal Interviews zu geben?

CRETU: Inzwischen haben wir mit Enigma weltweit rund 10 Millionen LPs und Singles verkauft, da kann mir keiner unterstellen, jetzt Promotion machen zu wollen. Ich fühlte mich von den Angriffen in der Presse nicht persönlich getroffen, aber ich will dieses Projekt nicht zu einer Soap Opera herunterbefördern lassen. Deshalb gebe ich jetzt einige Interviews mit denen, die ein paar Sachen klarstellen können. Von der ,Hör Zu‘ kann ich das nicht erwarten.

ME/SOUNDS: Die Vermischung von Kirchengesang und Sado-Maso-Motiven bot auch genug Angriffsfläche — von Gotteslästerung bis zur Pop-Peinlichkeit.

CRETU: Mich interessiert wirklich nicht, was die Leute von mir denken. Als Produzent ist mir das völlig egal, solange man mich in Ruhe meine Musik machen und meine Knöpfchen drehen läßt. Was hat Frank Farian einstecken müssen. Aber er macht seine Arbeit hervorragend, sieht das total gelassen, und er hat recht damit.

ME/SOUNDS: Es sei denn, er will plötzlich Kunst machen, ein seriöseres Image bekommen. Willst du weg vom Ruf des Pop-Papstes?

CRETU: Abgedrehte Ideen hab ich genug, aber ich weiß nicht, ob sie meine strenge Zensur passieren können. Im Moment habe ich sowieso ganz andere Dinge zu tun. Wir arbeiten am neuen Sandra-Album, das wird keiner wegen mir, dem Produzenten, kaufen. Warum sitze ich also hier und lasse mich von Dir interviewen?

ME/SOUNDS: Vielleicht aus dem Grund, warum auch Prince nach schweigsamen Jahren wieder Interviews gibt: Er will endlich von der Welt verstanden werden…

CRETU: Ach, Prince ist ein kleines Cleverle. Er ist ohne Zweifel einer der Innovativsten und Begabtesten. Nur — mit seinen Selbst-Zensurmethoden hätte ich schon 80 Alben auf dem Markt. Der schmeißt doch alles, was ihm einfällt, auf Platte. Und das ist clever, denn auf der anderen Seite gibt es nur ganz wenige auf der Welt, die so Lyrics wie „Nothing Compares To You“ schreiben können.

ME/SOUNDS: Außerdem ist er ßr viele ein Idol, also verzeiht man ihm viel mehr Mist als etwa einem Produzenten wie Michael Cretu.

CRETU: Weißt du, ich hab nie Idole gehabt. Ich könnte auch nie ein Idol werden wollen, weil ich den Sinn von Idolen nicht verstehe. Ich mag in Ruhe mein Leben so führen, wie ich es führe. Wenn ich selber ein Idol werden wollte, müßte ich mich außerdem dauernd in der Öffentlichkeit zeigen. Aber genau das will ich nicht.

ME/SOUNDS: Das ist dir mit Enigma ja auch eine Zeit lang gelungen. Die Single chartete, ohne jegliches dazugehöriges Künstlerfoto …

CRETU: Mir wäre lieber gewesen, es kommt nie raus. Ich bin kein Egomane. Es ist so schön, daß ich trotz all des Erfolges in den letzten Jahren überall hingehen kann — in jedes Kaufhaus, in jeden Schallplattenladen — und mich erkennt niemand. Das ist doch fantastisch: wenn ich mit Sandra auf der Straße herumlaufe, verlangt man immer nur von ihr ein Autogramm. Mich beachtet keiner, alle denken, ich bin der Chauffeur. Für einen erfolgreichen Mensch heutzutage ein unbezahlbarer Luxus.

ME/SOUNDS: Sag’die Wahrheit: Diese strikte Anonymität bei „Enigma“ war doch eine der genialsten Marketing-Strategien des Pop. Und wie immer im Nachhinein — Das Glück ist mit den Erfolgreichen…

CRETU: Vielleicht war es eine geniale Marketing-Strategie, aber es war ganz bestimmt nicht als solche geplant. Die Platte ging in Amerika in die Charts und die Mitarbeiter der eigenen ¿

Plattenfirma wußten nicht, wer das ist. Das wußten nur die Geschäftsführer.

ME/SOUNDS: Jetzt weiß die ganze Welt, daß Du der Ober-Mönch bist. Warum die Scheu davor, jetzt auch Vortänzer des Kutten-Ballettes zu werden?

CRETU: Weil es mir nicht liegt. Um ein guter Frontman wie Mick Jagger oder Prince zu sein, mußt du im Tiefsten deiner Seele einen guten Schuß Exhibitionismus haben. Ich bin genau das Gegenteil davon — ich habe kein Interesse, auf der Bühne zu stehen, zu touren. Gib mir meine Spielzeuge im Studio, meine Knöpfchen, meine Monitore, dann bin ich hochglücklich und kann mich tagelang beschäftigen.

ME/SOUNDS: Unsere Schreiberzunft ist daran auch nicht ganz unschuldig. Alle stürzten sich auf die Mönchs-Kiste der Single, dabei ist der ftest des Albums weitgehend Kutten-frei CRETU: Das ist ja das Verrückte dabei. Viele haben nicht kapiert, was sich hinter der Ideologie des Albums verbirgt. Ein Album ist wie ein Buch — das beste Kapitel wird als Single ausgekoppelt, aber es bleibt ein Kapitel. Da gibt es viele Teile, die vielleicht anspruchsvoller sind, aber nicht so spektakulär. Nur leben wir in einer Welt, in der du etwas Plakatives brauchst, um überhaupt Aufmerksamkeit zu erregen.

ME/SOUNDS: Die Fachleute schrien auf, das Publikum rannte in die Läden. Irgendwie scheinst du einen Zeitnerv getroffen zu haben.

CRETU: Das Konzept des Albums ist ein Novum. Erstmals auf Schallplatte eine Mischung aus relaxten, schwarzen Dance-Rhythmen und New Age-Musik, mit eigenartigen Songstrukturen und Sprache — und alles zusammen ergab eine völlig neue Musik. Vangelis oder Mike Oldfield könnten genauso unter New Age laufen, und Gregorianische Chöre wurden auch schon verwendet, aber als Gimmik. Nur — Chöre als Gimmik verkaufen keine Platten. Es gab so viele Nachahmer, die die gesamte Struktur der Single kopiert haben, überall auf der ganzen Welt: .Das ist das Ding, der Beat mit den Mönchen, die Nummer ziehen wir durch‘. Aber das war’s wohl nicht, denn Gregorianik an sich ist ziemlich langweilig. Das haben sie nicht kapiert und deshalb hatten sie keinen Erfolg damit.

ME/SOUNDS: Wohl vor allem, weil du nicht aus der Ethno- oder DJ-Ecke kommst, sondern ab Pop-Recke mit zwei goldenen Händchen zum goldenen Naschen gekommen bist.

CRETU: In der Frage ist ist ein Fehler. Meine Basis ist nicht Pop und Rock. Ich hab Klassik studiert und bin irgendwo tief in meiner Seele noch ein Schuß Wagnerianer geblieben. Mein Einstieg in die Popmusik war Yes — im Vergleich zu Stockhausen hochkommerziell, fast wie ,Hoch auf dem gelben Wagen‘. Der Grund, warum ich gute und erfolgreiche Popmusik mache, ist, daß ich versuche, mich in meinem ganzen Leben auf das Wichtigste zu beschränken, wobei aber jeder Bestandteil wertvoll sein muß. Ich brauche in meinem Zimmer nicht 20 Ornamente, mir reicht ein Stuhl und ein Tisch. Aber die müssen oberamtlich sein.

ME/SOUNDS: Oder ßr einen anderen potthäßlich. Es gibt genug Leute, die „Enigma“ scheiße finden.

CRETU: Also, für mich gibt es gar keine gute oder schlechte Musik. Von meiner musikalischen Erziehung her, Klassik, Zwölftonmusik und so, müßte ich mit der Nase ganz droben rumlaufen. Ich verstehe ja auch nicht, warum das Naabtal Duo Erfolg hat. Es gibt 500 andere, die das machen. Also müssen die Naabtals viel besser sein als die anderen. Der einzig wirkliche Maßstab, den wir haben, ist der Erfolg beim Menschen.

ME/SOUNDS. Schließlich fressen auf dieser Welt auch mehr als ßnf Millionen Fliegen unseren Kot…

CRETU: Ich kann doch nicht sagen, daß fünf Millionen Käufer Idioten sind, nur weil zehntausend sagen, daß eine Platte Dreck ist. Und wenn ich nicht kapiere, warum etwas verkauft, muß es doch etwas haben, was ich halt gerade nicht begreife.

ME/SOUNDS: Geht das euch eigentlich nahe, wenn bei jedem neuen Sandra-Album die Kritiker wieder geschlossen auf die Kacke hauen?

CRETU: Wir sind stur. All die Leute, die seit fünf Jahren versuchen, uns runterzuziehen, resignieren langsam. Deshalb leiden wir unter bösen Kritiken auch überhaupt nicht. Wir machen Unterhaltung, die die Ansprüche, die zum Beispiel dein Blatt erhebt, nicht erfüllen kann. Soll es auch nicht, dafür ist es nicht gedacht.

ME/SOUNDS: Das eingeschworene Paar. Sogar am gleichen Tag Geburtstag habt ihr.

CRETU: Ja, wir zwei Stiere. Gottseidank mit verschiedenen Aszendenten. Nach dem chinesischen Horoskop, das viel treffender ist, ist sie Tigerin und ich bin Feuerhahn. Wir kommen so gut klar, weil wir so verschieden sind. Und nur komplementäre Beziehungen überstehen die Jahre.

ME/SOUNDS: In der Musikgeschichte gibt es wenig dauerhafte Beziehungen, wenn beide Partner Musiker sind und zusammenarbeiten. Lebt ihr so harmonisch wie Paul und Linda McCartnev?

CRETU: Weiß ich nicht. Aber du wirst doch wohl nicht im Ernst behaupten, daß Linda eine Musikerin ist?

ME/SOUNDS: Die Frage geht zurück Du nimmst nun schon seit Jahren Sandras Stimme im Studio auf. Kann sie singen?

CRETU: Kann sie singen oder kann sie nicht singen? Auf den Platten ist ihre Stimme zu hören, da singt keine andere. Es ist ihre Stimme, und diese Stimme hat so 17 bis 20 Millionen Platten an den Mann gebracht. Irgendwas muß dran sein. Kann Madonna singen? Wenn du das eng, klassisch siehst, müßtest du Rod Stewart einsperren.

ME/SOUNDS: Gut, wie war’s mit „Die richtige Note treffen und sie ein bißchen halten können?“

CRETU: Wie viele können das? Schau — zufälligerweise hat Peter Gabriel in England vor fünf Jahren bei der Lehrerin, bei der Sandra vor den ¿

Tourneen Stimm-Konditionstraining macht, Gesangs-Stunden genommen.

ME/SOUNDS: Und außerdem hast du eines der modernsten Digital-Studios Europas. Da geht doch immer was…

CRETU; Klar, man kann schon viel machen. Aber ich zahle dir jeden Preis für die Maschine, die mir Charisma in eine Stimme bringt. Hör dir nur den Knopfler an. Wenn der singt, stimmt kein Ton, aber es ist eine der charismatischsten Stimmen im ganzen Business. Geschmäcker sind verschieden — der eine mag Salat, der andere Gulasch. Aber deswegen ist Salat doch nicht besser oder schlechter als Gulasch.

ME/SOUNDS: Als gebürtiger Rumäne sollte dir Gulasch besser schmecken. Das Sandra-Süppchen, das du seit Jahren kochst, gehört in Deutschland dagegen noch nicht zur Nouvelle Cuisine. Es ist gut bürgerlich, scheint aber eine Menge Leute satt zu machen.

CRETU: Ich bin zwar eingebürgert, bin aber nicht in Deutschland geboren und lebe auch seit fast vier Jahren nicht mehr dort. Ich habe Deutschland sehr viel zu verdanken, muß aber sagen: Der Deutsche hat ein unglaubliches Talent, seine eigenen Musiker, Sportler oder Politiker in Grund und Boden zu reiten, sobald sie ein bißchen das Tageslicht erblicken und damit dem Land eigentlich etwas Gutes tun. Erst beschweren sich die Leute in Deutschland: ,Mensch, niemand im Ausland nimmt unsere Musik ernst.‘ Und wenn es dann klappt — Scorpions, Milli Vanilli, Modern Talking — ist es doch egal, ob du die Musik gut oder schlecht findest, sie helfen dem Ruf deines Lands im Ausland. Wenn ein Franzose bei uns auf Platz 60 ist, das kann auch der letzte Mist sein, dann kriegt er daheim noch einen Nationalfeiertag.

ME/SOUNDS: Was ich dabei nicht verstehe — warum sollte ein Deutscher auf „Enigma“ stolz sein?

CRETU: Viele Leute in diesem Land haben eins nicht verstanden: Enigma war das erste Mal, daß eine deutsche Produktion im Ausland Erfolg hat, ohne auf einer angloamerikanischen Musik-Tradition zu basieren. Snap und Milli Vanilli sind in der Tradition der schwarzen Musik. Scorpions ist im Grunde moderater Heavy Metal-Rock, Modern Talking sind in der Tradition von Abba. Und jetzt — mit einer der fünf erfolgreichsten Platten, die je aus Deutschland kamen — können die Amis oder Engländer sehen, daß wir auch mal was erfinden können. Aber das wird nicht zur Kenntnis genommen, weil diese Leute viel zu blind dafür sind, das zu sehen. Ich meine die Fachleute, nicht das Volk. Der normale Mensch auf dieser Welt ist immer vernünftig.

ME/SOUNDS: Dann soll das Volk entscheiden. Cretu, der Anarchist?

CRETU: Die Emgma-Sache jedenfalls ist für mich ein Protestalbum. Mein Protest dafür, daß es auch noch etwas andres gibt, als nur ein bißchen hin- und her-rappen. Und der Motor dahinter, da schätzt du mich richtig ein, war Anarchie. Am wenigsten haben die Amerikaner das gepackt. Im Ernst — ein paar amerikanische Journalisten haben sich bei mir dafür bedankt, daß sie so etwas noch erleben durften — so eine Musik in ihrer Top Ten.

ME/SOUNDS: Warum bist du dann nach Ibiza und nicht nach Florida ausgewandert?

CRETU: Ich bin halb Rumäne und halb Österreicher — also eigentlich ein Südländer. Und von allen Südländern ist der Spanier noch der preußischste — also fühle ich mich sehr wohl hier. Im Nachhinein kann ich sagen, daß man hier auf der Insel ein wirklich vereinigtes Europa hat. Hier leben Spanier. Deutsche, Engländer, Franzosen, alle Nationen in friedlicher Koexistenz. Und dem Kopf tut es gut. jeden Tag vier verschiedene Sprachen sprechen zu müssen und mit vier grundverschiedenen Menschentypen auszukommen.

ME/SOUNDS: Und du kannst via Satelliten-Antenne Bundesliga-Spiele im Fernsehen gucken.

CRETU: Mein wichtigster Ausgleich zur Arbeit. Genauso wichtig sind aber die Gegensätze auf dieser Insel. Ibiza ist Hongkong im Kleinen. Du hast die Clubs, in denen die Talent-Scouts der europäischen Plattenfirmen im Sommer mit “ großen Ohren den kommenden Dance-Trends lauschen. Und wenn du zehn Minuten mit dem Auto fährst, kommst du in Gegenden, in denen die Leute noch wie im 17. Jahrhundert leben. Unvorstellbar — hier gibt es Bauern, die zwischen ihrem Feld und dem Meer gerade mal eine kleine Hügelkette haben — und die haben noch nie das Meer gesehen.

ME/SOUNDS: Und jetzt sitzt du zwischen den Bauern und deinen Computern und forschst weiter an der todsicheren Hit-Formel?

CRETU: Leider gibt es die nicht. Vielleicht ist das auch gut so, denn wenn es die gäbe, würde ich keine Musik mehr machen wollen. Das einzige Rezept, mit dem ich immer gut gefahren bin, ist mein eigener Geschmack, verbunden mit meiner strengen Selektion. Den Vorläufer von meiner Soto-LP DIE CHINESISCHE MAUER zum Beispiel hab ich in den Papierkorb geworfen. Fünf Monate 16 Stunden am Tag gearbeitet, das Masterband sollte zum Überspielen abgeschickt werden, und in der letzten Sekunde habe ich es weggeworfen, weil irgendwo der Wurm drin war. Einen Song habe ich behalten und ich war so befreit, daß ich den Rest des Albums in nur sechs Wochen neu gemacht habe. Wenn ich von etwas total überzeugt bin, dann muß es raus, auch wenn es flopt. Davon stürzt doch die Welt nicht ein.

ME/SOUNDS: Nach all den Millionen-Verkäufen mußt du dann ja auch nicht mehr unter der Brücke schlafen.

CRETU: Es sei denn, ich kaufe mir ein paar Brücken. Aber das wäre dann mein privates Hobby.