Notizen aus der Provinz


Madison, Wisconsin, hat 200.000 Einwohner, vier Seen, aber nur eine Band von Weltgeltung. Garbage öffneten für den MUSIKEXPRESS die Studiotüren.

Madison, Wisconsin, ist nicht unbedingt der Ort in den Vereinigten Staaten, in dem das Leben so richtig pulsiert. Die Stadt im mittleren Westen der USA hat 200.000 Einwohner, 16 öffentliche Golfplätze, vier Seen, ist Nummer 2 beim Pro-Kopf-Buchverkauf und Nummer 1 bei der Restaurantdichte pro Kopf in den Staaten, Sitz der Staatsregierung von Wisconsin, und eine der größten Attraktionen, die das öffentliche Leben in Madison bereit hält, ist der „Dane County Farmer’s Market“, der von April bis Oktober jeden Samstag von 8 bis 14 Uhr stattfindet.

Was in keinem Touristanführer verzeichnet ist, sind die Smart Studios, ein unscheinbarer zweistöckiger Backsteinbau, nicht weit vom State Capitol entfernt. Eine Wand im Obergeschoss kündet via CD-Covers von den Bands, die Butch Vig, Studiobesitzer, Schlagzeuger und heimlicher Chef von Garbage, in den achtziger und neunziger lahren als Produzent und/oder Toningenieur betreut hat: Nirvana, Smashing Pumpkins, Sonic Youth, L7, Soul Asylum, House Of Pain – die Liste ist beeindruckend. Vig, ganz in schwarz gekleidet und zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Sonnenbrille auf der Nase, kommt aus der Küche mit einer Tasse Kaffee in der Hand und registriert den bewundernden Blick des Besuchers, klopft ihm auf die Schulter und bemerkt in einer Mischung aus Stolz und Understatement: „Das sind noch lange nicht alle, nur eine kleine Auswahl. Für alle Bands, die ich produziert habe, würden die Wände hier wahrscheinlich nicht ausreichen.“ In der Zeit vor Garbage – Ende der achtziger bis Mitte der neunziger lahre – war Butch Vig einer der bedeutendsten Produzenten des Alternative Rock. Heute hat der 44-Jährige kaum noch Zeit, um andere Bands zu produzieren oder zu remixen. Denn heute ist Garbage, und heute ist einiges los in den Smart Studios. Es wimmelt von Journalisten, Promotern und Managern. Die Band stellt ihr Album „Beautiful Garbage“ erstmals der Öffentlichkeit vor. Und das ist noch so neu, dass eigentlich ein „frisch gestrichen „-Aufkleber auf die gebrannte CD, die vom Studiopersonal wie die Kronjuwelen bewacht wird, gehören würde. Gerade mal vor vier Tagen sind die Musiker mit dem Mastering fertig geworden – nach 14 Monaten harter Arbeit.

Shirley Manson mit feuerroten Haaren und vom Visagisten für ein anstehendes Fernsehinterview kalkweiß geschminkt, taucht auf und schüttelt artig Hände, bevor sie sich ihrem Laptop widmet, um E-mails zu checken. Steve Marker steht in einer Ecke – und strahlt eine Aura aus irgendwo zwischen Unsicherheit und Distanz. Glatzköpfig und ganz in schwarz gekleidet. Bis auf die Schuhe. Die sind blau. Butch Vig deutet in Markers Richtung und fragt: „Hast du Steves blaue Turnschuhe schon gesehen? Die sind neu und sein ganzer Stolz. Blaue Schuhe! Zum erstenmal, dass er was anderes trägt als Schwarz.“ Und Duke Erikson verschwindet auf dem Balkon mit einem Becher Caffe Latte, den Marc, das Mädchen für alles in den Smart Studios, gerade bei Ancora Coffee Roasters geholt hat, dem Lieblingscafe der Band. Draußen sinniert Erikson über den schönen Sommertag, über die harten Winter in der Gegend, und natürlich über Kaffee, das Lieblingsgetränk der Musiker, und kommt dann auf Deutsch zu dem Schluss. „Ich trinke zuviel Kaffee“. Deutsch hat er in der Schule gelernt, und jetzt nutzt er jede Gelegenheit, seine rudimentären Sprachkenntnisse an den Mann zu bringen.

Ruckblick: Am Vortag, auf dem nationalen Flughafen LaGuardia in New Yorks Stadtteil Queens, wartet die Band samt Anhang am Gate von Continental Airlines auf den Flug nach Madison. Shirley Manson diskutiert mit ihrem Visagisten weltpolitische Belange und sieht dabei aus, als ob sie am Morgen mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden wäre. Butch Vig hängt derweil lässig im Sessel ab, Steve Marker ist um Smalltalk mit den lournalisten bemüht, und Duke Erikson – ja – der freut sich wie ein Schnitzel, dass er wieder einmal ein paar Brocken Deutsch loswerden kann. Das Flugzeug, ein zweistrahliger Embraer-Düsenjet mit gerade mal 37 Sitzplätzen strahlt eine familiäre Atmosphäre aus. Kaum, dass die Maschine in der Luft ist, schläft Erikson wie ein Murmeltier, den gesamten zweistündigen Flug über, mit offenem Mund. Er wird es am nächsten Tag abstreiten: „Wahrscheinlich hast du mich gesehen, als ich kurz mal eingenickt bin. Hmm, ich soll tief und fest geschlafen haben? Vielleicht lag’s daran, dass ich eine Schlaftablette genommen habe.“

Trotz der vordergründigen Lockerheit der Musiker merkt man ihnen am nächsten Tag die Anspannung der letzten Monate an. Wie werden die Leute auf das neue Album reagieren? Schließlich will man ja auch als Popstar geliebt werden. Erikson meint anschließend beim Interview im ebenerdigen Aufnahmeraum: „Es ist schon komisch mit Musikern, oder mit Künstlern im Allgemeinen: sie tun das, was sie fühlen, sie arbeiten wirklich hart, und ab einem gewissen Punkt müssen sie die Resultate der Öffentlichkeit zeigen beziehungsweise vorspielen. Und natürlich hofft man dann, dass die Leute es auch mögen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, die Meinung anderer Leute würde mir nichts ausmachen. Wieviele Maler haben Selbstmord begangen, weil sie keine Anerkennung bekommen haben?“ Lind Butch Vig ergänzt: „Lind viele Schriftsteller saufen sich zu Tode“, woraufhin Erikson lachend meint: „Daran arbeiten wir noch. Aber im Ernst: Jeder, der sagt, dass ihm die Meinung der Anderen nicht interessiert, lügt sich in die eigene Tasche. Wir versuchen ja auch in erster Linie, Musik für die Leute zu machen und nicht für uns selbst. Warum sollten wir es sonst tun?“ Ein paar Tage vorTonspion

her haben Garbage die neuen Songs ihrer Plauenfirma vorgespielt. Was würde passieren, wenn die die Musik so richtig scheiße finden würden? Vig überlegt kurz und meint dann, „Wir sind froh, dass uns sowas noch nie passiert ist. Wir geben ohnehin unsere Musik vorher nie raus. Erst wenn alles fertig ist, dürfen die Plattenfirmenfuzzis uns im Studio besuchen, und wir spielen ihnen ein paar Songs vor. Aber im Grunde sagen wir ,Hier ist unsere Platte, nehmt sie‘. Außerdem setzen sie auch ein gewisses Vertrauen in uns. Sie sind der Ansicht, wenn wir eine Platte machen, die wir mögen, werden sie die Leute draußen auch mögen. Aber das neue Album hat bisher ohnehin nur eine Handvoll Leute gehört.“ Shirley Manson ergänzt: „zu einem bestimmten Zeitpunkt musst du ja die Musik deiner Plattenfirma vorspielen. Wir sind sehr glücklich, dass wir von unserer Company immer sehr respektvoll behandelt werden. Sie lassen uns total in Ruhe. Irgendwann in der allerletzten Minute kriegen sie dann was zu hören. Sie waren uns in der Vergangenheit auch sehr behilflich bei Dingen wie der l-estlegung der Songreihenfolge. Denn manchmal siehst du als Musiker den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wenn du dermaßen drin steckst in dem, was du tust, kannst du oftmals das große Ganze nicht mehr erkennen. Deshalb ist es wichtig, auf die Meinungen von Außenstehenden zu hören. Besonders bei eher sekundären Dingen wie eben die Songreihenfolge. In solchen Belangen sind andere Meinungen von unschätzbarem Wert. Steve Marker überlegt kurz und verkünden dann, so als sei ihm gerade ein sehr guter Vergleich eingefallen: „Hätten wir eine abstrakte Noise-Platte gemacht, von der unser Label keine Single auskoppeln könnte, hätten sie wahrscheinlich schon was zu uns gesagt. Ich glaube nicht, dass wir zurück ins Studio gehen würden, wenn unsere Plattenfirma sagen würde, dass ihnen das Album nicht gefällt.“ Ah ja.

Dennoch haben Carbage nicht unbedingt das allerbeste Verhältnis zum Showbusiness im Allgemeinen. Auf der offiziellen Homepage der Band ließ Shirley Manson unlängst verlauten: „Das Musikbusiness hat – verdammt nochmal – null zu tun mit der Liebe zur Musik.“ Konfrontiert mit dem Zitat muss Shirley lachen: „Da muss ich wohl einen schlechten Tag gehabt haben, als ich das gesagt habe“, während Steve Marker trocken und mit einem leichten Anflung von Verärgerung: in der Stimme kommentiert: „Das ist einfach die Wahrheit.“ „Ich habe das Gefühl, dass in der Musikindustrie kein Platz für die Musiker ist“, erklärt Manson. „Es geht nur noch um hohe Chartspositionen, um möglichst leicht konsumierbare Radiosongs. Ich meine, sowas muss es natürlich auch geben. Lind wenn wir ehrlich sind, lieben wir doch alle gute Popmusik. Wer zum Beispiel mag nicht ‚Hit Me Baby One More Time‘ von Britney Spears? Es ist eine fantastische Single. Das ist großer berauschender Wegwerf-Pop. Sowas soll es ruhig geben. Aber unterm Strich ist bei Leuten wie Britney oder Christina Aguilera – sie sind große Entertainer, da gibt es keinen Zweifel – die Musik als Kunstform verloren gegangen. Es geht nur noch um billige Unterhaltung. Lind große Musik hat nicht notwendigerweise etwas mit dem schnellen, oberflächlichen Bang zu tun. Manchmal braucht man sehr viel Zeit, um Musik richtig erfahren zu können und um richtig in sie reinzukommen. Und ich glaube, in der Musikindustrie gibt es für so etwas keinen Platz mehr. Es geht nur noch um Geld und darum, schnell und möglichst viel zu verkaufen. Wirtschaft hat nichts mit Kunst zu tun.“ Marker sitzt andächtig daneben und kommentiert die Worte seiner Vorrednerin mit zustimmendem Nicken des kahlen Kopfes. Nach seiner Meinung haben neue Bands heutzutage keine Chance mehr, natürlich zu wachsen. „Sie dürfen eine Platte rausbringen, und die muss dann in zwei Wochen ein Riesenhit sein. Wenn’s keiner wird: Vergiss es. früher durften die Bands wenigstens noch drei bis vier Platten rausbringen, auch wenn die sich nur einigermaßen gut verkauft haben. Und während dieser Zeil wurden sie von ihrer Plattenfirma noch richtig unterstützt.“

Es gibt wohl kaum eine andere Platte, deren Entstehungsprozess so gut dokumentiert wurde wie der von „Beautiful Carbage“. Shirley Manson hat während der 14-monatigen Arbeiten am neuen Album auf der offiziellen Garbage-Homepage ein „Studiotagebuch“ veröffentlicht und haarklein die Entwicklung der Arbeiten am Album dokumentiert, aber auch ihre eigenen Befindlichkeiten offenbart, prämenstrual induziertes Seelenleid beklagt, über Weltpolitik philsophiert, neueste Kinofilme und Bücher empfohlen und/oder verrissen. Das geschah nicht unbedingt aus Langeweile – obwohl Frau Manson allen Grund gehabt hätte, während einer so langen Periode gelangweilt zu sein. Fast anderthalb lahre residierte sie in einem Hotel in Madison, getrennt von Ehemann und Familie. „Da gibt es natürlich auch mal Tage, an denen ich wütend werde und mich isoliert fühle. Ich habe manchmal meine Frustrationen.“ Garbage wollten mit dem Studiotagebuch „unsere Fans an unseren Erfahrungen während der Aufnahmen teilhaben lassen“, sagt Manson. „Wir glauben, dass eine Menge von denen nicht verstehen kann, warum es so lange dauert, bis wir mit einer neuen Platte fertig sind. Ich dachte, es würde den Fans gefallen, wenn sie mehr Einblick in unsere Arbeit bekommen würden. Und wenn ich das Tagebuch nicht für die Fans geführt hätte, dann wenigstens für mich selber. Im Endeffekt ist es aber eine wunderbare Chronologie geworden, die darüber Aufschluss gibt, was wir in den fast anderthalb Jahren alles so getrieben haben. Denn wenn du’s nicht aufschreibst, vergisst du es.“ Wer da* Tagebuch aufmerksam liest, gewinnt den Eindruck, dass Manson ein eher zwiespältiges Verhältnis zu ihrer temporären Zwangsheimat Madison hat. Im Gespräch relativiert sie das. „Nein, mittlerweile habe ich Madison lieben gelernt. Aber manchmal ist es schon schwierig für mich, hier zu sein.“ Und weil’s so schwing ist, versuchen die drei Männer von Garbage, ihre

Sängerin wie eine Königin zu behandeln. „Tht Queen“ ist der bandinterne Spitzname für Shir ley Manson, entstanden auf Tour, als die Frontfrau als einziges weibliches Wesen unter 20 Männern mit dem Bus unterwegs war. „Es ist leicht für Männer, während einer Tournee abzuhängen, ein paar Zigarren zu rauchen und ein paar Bierchen zu zischen“, erklärt Vig. „Ich glaube, Shirley hat sich teilweise sehr einsam gefühlt, auch wenn wir alle die ganze Zeit über zusammen waren. Deshalb ist sie für uns die Königin geworden, um die wir uns kümmern mussten. Wenn die Königin nicht glücklich ist, dann ist Garbage nicht glücklich.“ Natürlich schaffen es „die lungs“ nicht immer, ihre Königin wie ein Königin zu behandeln. „Manchmal kommen wir überhaupt nicht miteinander aus, aber die meiste Zeit schon“, erklärt Vig. „Es ist schwer für sie – wir leben hier, sie muss in einem Hotel wohnen. Manchmal gehen wir ihr auf den Wecker, manchmal geht sie uns auf den Wecker.“ Und die Königin ergänzt: „Kaum jemand hat eine Vorstellung davon, wieviel Zeit ich hier tatsächlich verbringen muss. Ich bin in einer großen Stadt aufgewachsen, in einer wunderschönen, wohlhabenden, kulturellen Stadt. Madison unterscheidet sich sehr von meiner Heimat Edinburgh. Aber irgendwann begann ich, diese Stadt zu lieben, ihre Menschen sind wunderbar.“

Oh, wunderbares Madison. Im März des Jahres von der Zeitschrift „Child Magazine“ auf Platz 6 in der Rubrik „Best Cities For Families“ gewählt, deine berühmtesten Kinder lieben dich, und du dankst es ihnen nicht so recht. Der Beweis: Später, als ein Häufchen lournalisten draußen vor Luigi’s Restaurant beim Mittagessen sitzt, smalltalkt der Kellner beim Abservieren: „Ah, aus Deutschland seid ihr. Wohl zu einer geschäftlichen Tagung hier? Nein? Wegen einer Band. Ach so, Garbage, die kenne ich. Die kommen ja hier aus Madison. Aber die sind nicht sehr populär in den Staaten. Alle Bands, die bei uns nicht so angesagt sind, sind bei euch drüben ganz groß“, lacht und räumt die Teller ab. Es ist schwer, in dieser Stadt nicht irgendwo über Garbage zu stolpern. Keine fünf Minuten später hält ein unscheinbarer Viertürer gegenüber von Luigi’s. Duke Erikson steigt aus, schlurft über die Straße, grüßt freundlich herüber und bleibt zwei Minuten zum Smalltalk, bevor er – natürlich – ins Ancora Cafe nebenan geht, das er anschließend mit einem großen Becher Milchkaffee verlässt. Wie war das nochmal? „Ich trinke zuviel Kaffee“. Stimmt.

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