Kolumne

Nummer Eins: Jochen Overbeck über „Schrei nach Liebe“


Deutsche Single-Chart vom 11.September 2015, Platz 1: Die Ärzte, „Schrei nach Liebe".

Wir lieben das Internet für viele Dinge, etwa YouTube-Videos von singenden Hunden, Archivierungsmöglichkeiten für die eigene Plattensammlung bei Discogs, die Social-Media-Kanäle von Money Boy, die täglichen Mark-Kozelek-News und die Fahrplanauskunft der Deutschen Bahn. Am meisten lieben wir das Internet aber, weil es einem die Möglichkeit bietet, sich zu verabreden. Der Musiklehrer Gerhard Torges rief im August dieses Jahres, also erst vor einigen Wochen, die „Aktion Arschloch!“ ins Leben. Und die war im Prinzip eine Verabredung mit allen. Der Deal: Jeder sollte beim Downloadshop „Schrei nach Liebe“ kaufen, den Song, den die Ärzte 1993 im Nachhall der rechtsradikalen Anschläge und Übergriffe in Mölln, Rostock und Solingen veröffentlichten und der plötzlich wieder so aktuell scheint. Wo 1993 nur Platz neun drin war, erreichte der Song diesmal sofort die Spitze der Hitparaden. In analogen Zeiten hätte so ein nicht von der Industrie gesteuerter Konsum-Flashmob kaum funktioniert: Damals hätte eine 22 Jahre alte Single schlichtweg nicht mehr in den Läden gestanden.

Nummer Eins, die Kolumne von Jochen Overbeck
Nummer Eins, die Kolumne von Jochen Overbeck

Vor allem aber gab es diese Art der Kommunikation noch nicht, man hätte Kettenbriefe schreiben, ordentlich herumtelefonieren und Anzeigen in allen Zeitungen schalten müssen. Dass diese Art der musikalischen Bürgerinitiative heute aufgeht, wurde schon einige Male gezeigt: Weihnachten 2009 luden die Briten massenhaft „Killing In The Name“ von Rage Against The Machine herunter, um die vierjährige Nummer-eins-Kette von Teilnehmern der Casting-Show „The X Factor“ zu sprengen. 2013, nach dem Tod der langjährigen Premierministerin Maggie Thatcher, erreichte der Song „Ding-Dong! The Witch Is Dead“ immerhin Nummer zwei der Insel-Charts. In Österreich chartete „Schrei nach Liebe“ ebenfalls auf Nummer zwei – dort hatte man allerdings seine eigene Solidaritätspop-Initiative: Die „Schweigeminute“ des Wieners Raoul Haspel kam ohne Klang aus. Wie auch die Ärzte spendete er die kompletten Einnahmen dem guten Zweck.

Hier das Musikvideo zu „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten:

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