on3-Festival im BR-Funkhaus, München


15 seconds of shame: Die Indoorfestival-Institution hat ihren ersten „"Skandal".

Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Publikum hingerissen. Von den saukomischen Boyband-Tanzeinlagen der Elektro-Hip-Hopper Young Fathers, von der Selbsthypnose des Singer-Songwriters Chris Garneau, dem seine eigenen Melodien die Sinne zu rauben scheinen. Kurz vor Mitternacht ist das Publikum nicht mehr hin-, sondern hin und her gerissen. Zwischen lautloser Schockstarre und lautstarkem Protestgebrüll. In 15 Sekunden verwandelt der Überraschungsgast des Abends, der aufgedunsene und irgendwie gelbhäutige Pete(r) Doherty die Orchesterstudios des Bayerischen Rundfunks in Schanzenviertelstraßen am 1. Mai.

In diesen 15 Sekunden stimmt Doherty die erste Strophe des Deutschlandlieds an, dreimal. Warum er das tut? Doherty ist jüdischer Abstammung, engagiert sich gegen Rassismus und Faschismus, zuletzt auf dem „Love Music Hate Racism“-Festival im britischen Stoke-on-Trent. „Ich bin kein Dummkopf“, versichert er dem Publikum. Diesem Publikum, das nicht seins ist. Die Menschen sind ins Studio 1 gekommen, um die für diesen Slot angekündigten Kettcar zu sehen und lassen Doherty das von Anfang an überdeutlich spüren.

Mit nur einer umgestimmten Gitarre, einer zaghaften Stimme und zwei stillen Balletttänzerinnen, die den 30-Jährigen choreografielos umschwirren, hat er keine Chance. Die! Leude! wollen! Kettcar! Doherty schlägt zurück, provoziert eine Menge, die sich bereits von seiner bloßen Anwesenheit provoziert fühlt. Die Buhrufe erreichen eine beunruhigende Lautstärke. Gleich fliegt der erste Molli. Eine on3-Moderatorin bittet Doherty von der Bühne. Kettcar lösen ihn ab und grüßen mit „Wir sind Kate Moss, äh, Kettcar.“

Die Hitze im Studio 1 geht auf einen Schlag um ein paar Grad nach unten. Das Publikum ist versöhnt, hängt bei jedem Song an den Lippen des verzückt grinsenden Marcus Wiebusch. Spätestens bei Ebony Bones! denkt niemand mehr groß über Doherty nach. Eigentlich denkt bei Ebony Bones! überhaupt niemand mehr. Der bloße Versuch, diesen Hybriden aus Parliament-, Public-Enemy- und Pink-Floyd-Show mental zu fassen, muss scheitern. Das wissen alle und pumpen den sich noch im Kopf befindenden Rest Körperenergie in die Beinregion.

Erst als man am folgenden Montag die Schlagzeilen der Tageszeitungen liest („Skandalauftritt in München“, „Rockstar grölt Nazi-Hymne“), erinnert man sich: Da war doch noch was. Und ganz egal, was es war und weshalb es war, es wird zumindest für eins sorgen: Dass dieses wunderbare Festival auch 2010 wieder Monate im Voraus ausverkauft sein wird.