Rock am Ring, Soundwave-Tent – Wesel, Karo


Wie die Nachuiuchsband aVid* bei "Rock am Ring" rockte und dabei die Essstörung ihres Schlagzeugers kurierte.

Das „Karo“ ist das JUZ von Wesel. Untergebracht ist es in einem alten Stadthaus mit gutbürgerlichem Flair, hohen Decken und handschriftlichen Anleitungen an den Wänden: zum Tischtennisspielen etwa („Es wird korrekt und gerecht miteinander umgegangen und KEINER wird beleidigt“) oder zur Stellenbewerbung (Überschrift: „Kick Ass Job“). Und, ach ja, ein Mädchenzimmer gibt es auch. Nur sitzen heute Abend hier keine Mädchen, nicht einmal Groupies. Heute wartet hier die Band aVid* auf ihren Auftritt. Die vier Jungs sind Warten gewohnt, im „Karo“ zumal. Denn hier sind sie zu Hause.

Es ist nur wenige Stunden her, da waren Chris Julian, Scholle und Steph ganz woanders. Rund 200 Kilometer entfernt hatte ein groller Brausehersteller eine fast genauso große Bühne in ein Zelt gestellt. Und dieses Zelt stand nicht irgendwo, es stand mitten im Nationalpark Eifel, vor allem aber mitten auf dem Nürburgring. also dort, wo sonst Alonso und Kollegen ihre Runden drehen, wenn nicht gerade, wie an diesem Wochenende, die 1000-PS-Boliden den 100 000-Watt-Boxen weichen müssen: „Rock am Ring“-Zeit. In einem langen Reigen von Bewerbungsrunden via Internet und Regionalkonzerten in Städten wie Frankfurt, München, Berlin oder Köln hatten sich junge Bands aus ganz Europa darum bemüht, einen Auftritt in einem der großen Zelte des Brauseherstellers auf einem der großen Festivals dieses Sommers zu ergattern. Und um 16.30 Uhr an diesem ersten Tag von „Rock am Ring 2007“ war es dann soweit: aVid* eine talentierte, doch bis dato weithin unbekannte Band aus dem recht unscheinbaren Städtchen Wesel (das ein wenig Ruhm aus einem Kinderreim schöpft, der in das Echo aufragender Felswände gerufen wird), diese kleine Band also betrat die große Bühne im Club Tent. Und von nun an sollte nichts mehr so sein wie zuvor.

Der Tag hatte begonnen wie so viele im Leben einer Band. Nach dem Aufstehen ist keine Zeit zu verlieren, der Bandbus will beladen sein. An der Tankstelle am Ortsausgang erwirbt Christian „Scholle“ Scholz (25), der Schlagzeuger mit dem empfindlichen Magen, seine erste Anderthalb-Liter-Flasche Light-Cola. „Ich bin süchtig nach dem Zeug“, erklärt er, als er wenige Kilometer weiter den letzten Schluck verputzt, „Ich steh‘ auf diesen leicht chemischen Geschmack“ Am Autobahnkreuz Hilden hält der Bus. Scholle muss mal.

„Weiter geradeaus“, sagt Uschi, das Navigationsgerät. Kurz vor Köln ziehen Wolken auf. „Dafür habe ich gebetet“, murmelt Sänger Christian „Chris“ Nießing (25). Denn nur wenn es ordentlich schüttet, werden genügend Menschen den Weg in das rund 6000 Zuhörer fassende Zelt des Brauseherstellers finden. Kurz nach Bonn ist die zweite Brausebombe durchgetropft. Scholle erinnert immer mehr an Klößchen, den Dicken mit dem Schokoladen-Komplex aus TKKG. Noch vor dem Umstieg in den Shuttle-Bus ist die dritte Anderthalb-Liter-Ration Cola Geschichte. Überdies befinden sich Scholles Innereien im Zustand steigender Erregung. An Essen ist nicht mehr zu denken. Bei seinen Zwischen-Stopps auf den Toiletten links und rechts der Route leert sich fortan nicht nur die Blase, sondern auch der Magen.

„Ist das groß hier“, staunt „Bandmuddi“ und Manager Simon Bleckmann im Angesicht der imposanten Zuschauertribünen. Der Satz wird in den kommenden Minuten zum Mantra. „Doss das sooo groß ist“, ächzt auch Chris, als der Tross das Zelt betritt. „Und wir spielen hier.“ Von der Alternastage wehen erste Musikfetzen herüber. Aber aVid* müssen noch warten. Warten und weiterstaunen. Und, während man über den Palisadenzaun aufs gemeine Volk lugt, Dingesagen wie: „Letztes Jahr standen wir noch da drüben“

Eine Möglichkeit, die Nervosität zu vertreiben: Interviews. Sofern man Scholle zu fassen kriegt. Da öffnet der Himmel zum ersten Mal seine Schleusen. Die Laune der Band steigt. Chris, Julian, Steph und Scholle stapfen in den Backstage-Bereich, um sich fürdie Bühne umzuziehen. Ein echtes Gespräch kommt dort nicht mehr zustande. Bassist Julian Köster (25) runzelt unentwegt die Stirn. Scholle missbraucht seine Knie als Schlagzeug. Endlich geht es raus zur Bühne, die Amen Birdmen aus Frankreich (auch sie sind per Rock-Wettbewerb hierhergekomnmen) gerade freigegeben haben. Bevor es wirklich losgeht, bleibt noch Zeit zum Kuscheln. Mutmachen, Anfeuern. Das Zelt ist mittlerweile gut gefüllt, an die 3000 Leute dürften es sein.

Es ist so weit. So weit wie noch nie. Scholle ist der Erste, der seinen Platz einnimmt. Als Chris am Mikro steht, zählt er ein, und der Traum beginnt. Zwei Kameraleute filmen, auch Fotografen bevölkern die Bühne. Dazwischen stehen aVid* fünf Meter zwischen ihnen und ihrem Publikum. Wissen die Girls in der ersten Reihe überhaupt, wer da gerade spielt? Der Funke, er will noch nicht recht überspringen. Die Anlage ist zu leise. Und sind fünf Songs nicht viel zu wenig für ordentlichen Funkenflug?

Immerhin: Der sonst so schweigsame Gitarrist Stephan „Steph“ Märten (20) entpuppt sich als echte Rampensau. Wie ersieh im Scheinwerferlicht sonnt und dabei ein lupenreines Hardrock-Solo aus dem Ärmel schüttelt, das hat was. Dazu noch ein bisschen mehr Bartwuchs und vielleicht ’ne angeranzte Lederjacke, fertig ist der Rockstar.

Die 20 Minuten fliegen vorbei. Von Scholles Stirn perlt der Schweiß, die Jungs geben alles. „Wahnsinn“, sagt er und lächelt, als er die Bühne verlässt. Mehr Aussage ist gerade nicht drin. Kein Wunder, so ohne Brennbares im Bauch.

Viel Zeit für Rock am Ring bleibt nicht-noch am gleichen Tag wollen aVid* abends vor ihren heimischen Fans im „Karo“ rocken. Immerhin: Einige linsen noch hinüber zu den Hives auf der Centerstage, man ist ja schließlich auch Fan. Noch. Denn Scholle ist erkannt worden. „Du bist doch von aVid*. hat sie gesagt“, erzählt er mit leuchtenden Augen. Mit 200 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit fliegen aVid* zurück ins heimische Wesel. Das „Karo“, die längst gestürmte Festung, will noch einmal erobert sein.

Gleich wird Scholle ein zweites Mal seine Bleche schrauben, ein zweites Mal das Metronom prüfen und den Stand der Snare. Da, plötzlich, geschieht das Wunder. Scholle isst. Dabei sind es nur noch wenige Minuten bis zum Konzert. „Mein Magen ist ganz ruhig, irgendwie“, sagt er. als müsse er sich entschuldigen. Dann geht er hinunter in den Saal. Die erste Band ist fertig. Und für aVid* beginnt der Auftritt danach. www.avid-music.de