Salto Madonnale


Schluß mit dem Babystrich-Outfit, weg mit den Kruzifix-Klunkern —- die "neue" Madonna setzt auf einen reiferen Sex-Appeal, irgendwo zwischen junger Marlene Dietrich und alter Marilyn Monroe. Promotion-Gag, Image-Artistik oder Symptome des Ehestands? Fred Schruers folgte Missis Penn durch Hollywood.

Auf geht’s! Langsam rollen wir den Cahuenga Boulevard hinunter -— der Journalist in seinem Miet-Wrack hinter Madonnas mitternachtsblauem Mercedes 450 Coupe. Wenn es in dem ganzen Unkrautgarten aus Spekulation und Infrarot-Überwachung, der Madonna in den letzten Monaten umgeben hat, nur eine glaubwürdige Tatsache gibt, dann die, daß sie nach intensiven Fahrstunden inzwischen einen Führerschein besitzt! Und bestimmt hat ihr irgendein kalifornischer Crack von Fahrlehrer erklärt, wie wichtig Vorsicht und Umsicht im Straßenverkehr sind, besonders für jemanden, der noch so entsetzlich viel Geld verdienen wird wie sie … Achtung, die Ampel ist rot!!!

Was nicht heißen soll, das Mädchen sei leichtsinnig geworden, so kurz vor ihrem 28. Geburtstag. Aber wer von North Hollywood zum Sunset Boulevard hinter ihr herfährt, sollte besser Unterhosen tragen, in denen er sich notfalls auch vor Krankenschwestern sehen lassen kann…

Wir haben gerade ihr neues Album gehört, TRUE BLUE. Sie selbst hat es co-produziert, und zwar wie einen Flohmarkt der Pop-Stile: von den Dancefloor-Hits, die sie groß gemacht haben, über ein paar Sixties-Nummern, die so raffiniert gesüßt sind, daß man Zahnschmerzen bekommt (‚Jimmy Jimmy’und ‚TrueBlue‘), bis zu den emotionalen Eckpfeilern der LP „Papa Don’t Preach“ (über ein junges Mädchen in Schwierigkeiten) und „Open Your Heart“, mit dem Ehemann Sean Penn sein Debüt als Videoclip-Regisseur geben wird.

Ganz zu schweigen von „Live To Tell“, der Ballade, die sowohl als Titelmelodie von Seans Film „At Close Range“ fungiert, als auch als vorgezogener Appetizer zu ihrem neuen Album. Ein paar Oberschlaue hatten vorausgesagt, eine solch melancholische Ballade werde glatt durchfallen und tief unten in den Charts verbrutzeln. Aber die Theorie war wohl falsch. So falsch, daß Madonna, als beim Vorspiel-Termin jemand den Song zu hören wünscht, bloß mit einem resignierten Achselzucken antwortet: „Hör’s dir doch im Auto an. Es wird ständig gespielt. „

Ist irgendein Popstar im vergangenen Jahr länger und verbissener von der Öffentlichkeit überwacht worden? Zuerst war’s ihre vielpublizierte Debüt-Tournee, dann ihre Nacktbilder auf den konkurrierenden Seiten der September-Ausgaben von Playboy und Penthouse, dann die hastige Wiederaufführung ihres schlüpfrigen Filmdebüts von 1981 („A Certain Sacrifice“). Schließlich wurde sie in Hotelzimmern von Tennessee bis Hongkong eingepfercht — mit der zweifelhaften Alternative, sich entweder vor den aufdringlichen Paparazzi zu verstecken oder dem Pack entgegenzutreten, Seite an Seite mit einem aufbrausenden Ehemann, der dazu neigt, mit Felsbrocken auf Fotografen einzudreschen … Jede(r) andere hätte sich da schleunigst ins Schneckenhaus zurückgezogen.

Aber hier, heute nacht, saust sie in ihrem Mercedes munter den Sunset runter — die Frau, die von sich behauptet, daß sie „noch nie mehr als zwei Drinks intus hatte“ — und kurvt mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz eines Restaurants, das eine Extra-Ecke für genau solche Gäste reserviert hat.

Wir sitzen noch nicht lange, da unterbricht uns der Kellner mit einem Anruf („Siehst du?“, sagt sie, „ich bin wichtig.“) Als sie zurückkommt, verkündet die gefragte Dame, daß Sean hierher unterwegs sei, mit Chrissie Ken“ bzw. Hynde im Schlepptau. Sie hatten sich Chrissies Mann Jim und die Simple Minds beim Konzert im Greek Theatre angesehen.

Die beiden Paare lernten sich vor einem Jahr bei „Live Aid“ kennen; Sean war ein Fan von „Don’t You (Forget About Me)“ — und Madonna bewunderte Chrissie schon lange. Ihre Bekanntschaft wurde bei den Aufnahmen zu Seans und Madonnas Film „Shanghai Surprise“, letzten Februar in London, nochmals erneuert.

Die Nachricht von Seans baldigem Auftauchen war offenbar genau das, was Madonna hören wollte. Sie beschließt, ihrem „Salat Caesar“ (sie meidet Fleisch und Fisch) noch eine gebackene Kartoffel draufzugeben und redet über ihre Platte. Ungefähr die Hälfte habe sie mit ihrem Ex-Freund und ständigen Mitarbeiter Steve Bray produziert, den Rest mit Patrick Leonard, der erst als Session-Keyboarder in L.A. arbeitete, dann als musikalischer Leiter der letzten Jacksons-Tournee und schließlich auch bei Madonnas „Virgin“-Tour. Genau als sie sagt „,Love Makes The World Go Around‘ habe ich geschrieben“, tritt Sean an den Tisch. „Hi, komm her und setz dich neben mich. „

Sean trägt jene Lederjacke, die er in ein tragbares Zwei-Mann-Zelt verwandeln kann, wenn die Blitzlicht-Gewitter losbrechen. Lässiger Gruß. „Er ist so ein Gentleman“, meint Chrissie. „Als wenn man mit einem Polizisten unterwegs ist.“

Sie quetschen sich in die Nische. Madonna überredet Chrissie zu einem Erdbeer-Daiquiri, den diese allerdings nach einem Schluck wieder dankend wegschiebt. Offensichtlich aber reicht schon der Alkohol, um Chrissies spitze Zunge zu lösen. Im Nu sind die beiden dabei, kleine Sticheleien auszutauschen: „Kein Wunder, daß die Leute dich für ein Luder halten“, meint Chrissie.

„Du warst es, an der ich mich immer orientiert habe, Chrissie.“

Sie wechseln zum unverfänglichen Thema „Rabiate Fans“ und unterhalten sich über ein Mädchen, das Madonna ständig von ihrem Gymnastik-Kurs ins Aufnahme-Studio und zurück zum Tor ihres Hauses in Malibus Carbon Canyon folgt, wo sie Rosen niederlegt und darauf wartet, vielleicht einmal eingelassen zu werden.

„Heute“, sagt Madonna, „als ich gerade mal wieder die Paparazzi mit Mühe und Not los war -— nebenbei bemerkt, die haben mich heute aus allen Lagen beschossen …“

„Hast du wenigstens gut ausgesehen?“ fragt Chrissie dazwischen.

„Verheerend“, meint Madonna, „… da höre ich also dieses Auto hupen: Sie hat die Scheibe runter und ruft“ — Madonna senkt die Stimme — „,Hey! Hey‘. Gefallen dir die Rosen?'“

Seans Grinsen kräuselt sich wie das Ding über dem „n“ von Senor; er schaut zu seiner Frau, bis er sicher ist, ihre volle Aufmerksamkeit zu haben. Dann sagt er: „Weißt du, was immer los ist, morgens, wenn du aus dem Haus bist?“

„Jaah?“

„Ich wache auf, nehm‘ sie mir vor, und dann macht sie mir mein Frühstück.“

„Oh, Honey. Red dir deshalb bloß keine Gewissensbisse ein. Ich gehe ja morgens auch nicht zur Gymnastik … Effektvolle Pause. … trotzdem komme ich ganz schön ins Schwitzen.“

Sean fixiert seinen Salat, als hatte er Dr. Livingstone und eine Reihe eingeborener Träger hindurchmarschieren sehen. Er wendet all sein schauspielerisches Können auf. um nicht zu grinsen oder zumindest nicht laut loszulachen, während der Rest der Runde verständnisvoll lächelt: Die beiden sind offensichtlich bis über beide Ohren verliebt — Friede, Freude, Eierkuchen…

„Ich liebe dich“, sagt sie mit einer süßen Stimme, die — eins, zwei, drei — die Tonleiter raufgeht. „Honey, du wirst ja rot —- dein Ohr wird rot -— war dein Salat gut?

Dann schaltet sie plötzlich wieder auf ernst, verspricht, uns am nächsten Abend bei der Premiere von „At Close Range“ zu treffen und sagt gute Nacht. Sean. der mit seinem Lieferwagen heimfahren wird, bringt sie zum Auto und kommt zurück, um einen letzten Drink zu nehmen. Er läßt sich breitschlagen, eins der Gedichte zu rezitieren, die er selbst geschrieben hat. wenn auch schwerstens beeinflußt von Charles Bukowski. Es geht um Huren in einer Sushi Bar.

Chrissie wittert die Chance für eine kleine Bosheit: „Wer hat in eurer Familie eigentlich die Hosen an?“ will sie wissen.

Penns Augenbrauen gehen hoch.

„In unserer Familie ziehe ich die Hosen aus“, meint er. „Wer sie anhat, ist mir eigentlich egal. „

Channel Recorders“ ist ein niedriges, einstöckiges Gebäude, versteckt in einer ruhigen Nebenstraße eines breiten Boulevards in Burbank. Ungefähr zwei Monate lang waren Madonna, Steve Brav, Pat Leonard und Toningenieur Michael Verdick in einem Kontrollraum voller Synthesizer eingeschlossen.

Madonna ließ die Peitsche knallen. „Wenn du dich bloß länger als 20 Sekunden im Gang unterhalten hast“, erzählt Bray, „hörtest du schon: Jungs! Kommt rein, hier!'“

Der Star steckt bei einem Fototermin fest und muß notgedrungen die Studio-Session platzen lassen. Ihre drei Mitarbeiter brüten derweil über einem Schlagzeug-Part.

„Bisher war sie für jede Note hier — und sie hat in der einen Stunde, die wir jetzt hier sind, schon zweimal angerufen“, sagt Pat Leonard. Sie kennen ihren Wahlspruch — „Zeit ist Geld, und das Geld ist meins“ — und mußten außerdem erfahren, daß Madonna keine Regeln mag, außer ihre eigenen.

Leonard: „Seit unserem ersten Song weiß ich, daß es, wenn man auf das hört, was sie sagt, augenblicklich eine Madonna‘-Platte wird — ihr Instinkt treibt sie einfach dazu, ganz egal, mit welchem Produzenten sie arbeitet.

Sie mag beispielsweise Glocken, und das ist schon mal ein gutes Zeichen. Das gefällt, ohne irgendwo anzuecken. Und sie ist beinhart, was die Baß-Parts angeht — das ist ihr Einstieg in den Song. Nimm also die beiden Elemente zusammen, mit ihrer Stimme dazwischen, und schon hast du das ganze Spektrum abgedeckt. „

„Seltsam“, meint Verdick, der gerade das neue Album des menschlichen Dynamos Ted Nugent co-produziert hat. „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so hart arbeitet. „

„Als sie nach ihrem Film wieder in der Stadt war“, erzählt Leonard. „dachten wir, daß sie vielleicht mal einen Tag ausspannen will, nach dem ganzen Hin und Her von China über London bis New York. Aber der einzige Grund, warum wir an dem Tag, als sie nach Hause kam, nicht zu arbeiten anfingen, war der, daß sie schon wieder Besprechungen für einen neuen Film hatte. „

Als Mitwirkender der „Virgin“-Tour ist Steve Bray der Auftritt im Madison Square Garden am lebhaftesten in Erinnerung, als sie nämlich dem Publikum erzählt: „Auf der anderen Straßenseite gibt’s eine Wohnung …da habe ich immer aus dem Fenster geguckt und mich gefragt: Ob ich wohl jemals da reinkomme?“

Und Bray ergänzt: „Sie wohnte tatsächlich fast gegenüber, zwischen der 8. und 9. Avenue; in einem dieser kleinen Logier-Häuser, wo es so beschissen roch, daß ich sagte: ,Ich komm‘ dich hier nicht mehr besuchen.‘ Dann wohnte sie eine Weile zwischen den Avenues A und B, und ich dachte jedesmal, ich würde von Junkies umgebracht — das ist grad‘ mal drei Jahre her.“

„Als ich anfing, mit ihr zu arbeiten“, erinnert sich Leonard und verdreht seinen Blick zu einem Schielen, „hob‘ ich mich immer aufgeregt. Mann, mir hat das so gestunken, wenn die Leute sagten: ,Wie kannst du bloß mit der arbeiten ? ‚ Ich fragte dann: ,Was redest du da? Was weißt du, was ich nicht weiß?'“

Mit unterstreichenden Gesten betet er seine Litanei herunter: „Sie ist nett. Sie ist klug. Sie weiß, was sie will. Sie ist, verdammt nochmal, höllisch talentiert. Sie ist produktiv. Sie fühlt mit. Sie ist nicht die, für die sie alle halten. „

„Das ist heikel“, stellt Bray fest. „Sie hat eine Zielstrebigkeit, die echt nicht viel Platz läßt für … Man kriegt das vielleicht schnell in den falschen Hals, wenn man etwas von ihr erwartet, für das sie einfach keine Zeil hat.“

„Steve weiß das wahrscheinlich besser“, meint Leonard, „aber ich habe in den letzten beiden Jahren starke Veränderungen bei ihr gesehen. Sie hat so hart gekämpft, und als zum ersten Mal alles stimmte, hat sie weitergekämpft, damit sie auch ja nichts mehr davon verliert. Inzwischen aber hat sie viel mehr Selbstvertrauen. Sie glaubt nicht mehr, daß alles so einfach wieder vorbei ist. „

Die Weltpremiere von „At Close Range“ im Bruin Theatre von Los Angeles ist begleitet von den üblichen Scheinwerfern, beachtlichen Ansammlungen von Star-Glotzern hinter den Absperrungen und jeder Menge … Paparazzi. Wie Pat Leonard beim Hineingehen seiner Frau vorausgesagt hatte, lacht Madonna tatsächlich lauthals über die Szene, über die sie immer lacht: als ein dämonischer Christopher Walken Seans Leinwand-Freundin ein paar Cornflakes anbietet.

Nach der Premiere fährt die illustre Runde zu einer kleinen Party in ein unglaublich angesagtes Nachtlokal namens „Helena’s“. Da sitzt Cher, mit der Ausstrahlung einer Aztekin, Seans Eltern hocken an einem Tisch mit Charles Bukowski höchstpersönlich, und Don Johnson, der blonde „Miami-Vice“-Cop, fragt Madonna (ohne eine definitive Antwort zu bekommen), ob sie Lust habe, mit ihm einen Otis Redding-Song für sein kommendes Album aufzunehmen. Harry Dean Stanton kommt mit Michelle Phillips vorbei, und Michelle lehnt sich zu Madonna, die in ihrem neuen, klassischen Straßenjungen-Look heute besonders attraktiv aussieht, und sagt liebevoll: „Hübsches, böses, kleines Mädchen. „

Alle hoffen, daß Sean diesmal keine Fotografen zusammenschlagen wird, und er tut’s auch nicht. „Er wird immer für unsere Privatsphäre kämpfen“, hatte Madonna ein paar Tage vorher gesagt, „und selbst, wenn sie ein Foto kriegen, auf dem er den Mantel übern Kopf geschlagen hat, haben sie doch nichts von ihm! Seine Augen haben sie nicht. Irgendwann werden sie es leid sein, auf ihm — und uns — herumzuhacken. Bestimmt!

Er will mich eben beschützen, er sieht eine Menge Leute, die in seinen Augen nicht genug Respekt vor mir zeigen oder Gerüchte in die Well setzen oder mir Böses nachsagen, um ein falsches Image von mir aufzubauen. So uneffektiv seine Methoden auch sein mögen: Er hat eine Art zu denken, eine Integrität, und er hält sich an das, woran er glaubt — komme, was wolle. Es gibt nicht viele Leute, die das tun.

Die Schlußszene der „Virgin“-Tour präsentierte einen bitteren Dialog zwischen Madonna und einer volltönenden „Papi“-Stimme, die sie von der Bühne ruft. In Detroit tauchte als besonderer Gag ihr leiblicher Vater auf, um sein drittgeborenes Kind von der Bühne abzuholen. Sie sagte ihm vorher: ,“Dad. wenn du auf die Bühne kommst, denk bitte an die Tage, an denen du echt sauer auf mich warst — wie bei dem Talentwettbewerb, den ich in der siebten Klasse mitgemacht habe! Ich hatte einen Bikini an, überall fluoreszierende Paisleys und Blumen auf meinen Körper gemalt und tanzte unter Schwarzlicht und Stroboskop-Blitzen zu ,Baba O’Riley‘ von den Who. ‚ Das saß. Ich sagte: ,Denk daran, wie du mich von der Bühne zerren wolltest.‘ Und das hat er -— Junge, Junge -— er hat mich damals beinah auseinandergerissen.

Als ich in Detroit von der Bühne kam, war ich so aufgekratzt, daß ich bloß noch lachend zusammengebrochen bin. Das war die totale Befreiung. Weil ich das Gefühl hatte, daß mein Vater endlich sieht, womit ich meine Brötchen verdiene. „