Simple Minds – Verbissene Träumer


Die Gruppe aus Glasgow gehört nicht zu denen, die ihr Talent an die große Glocke hängen. Auch ohne rührige Selbst-Promotion haben die „schlichten Gemüter“ um Jim Kerr (M.) die Simple Minds als individuelle Band etabliert: moralische Träumer, die ihre Träume zur Wirklichkeit machen wollen. Vor ihrer Tournee im April stattete Harald in Hülsen der Band einen Besuch ab.

Ihre Musik war immer verbunden mit elementaren Emotioinen, mit Verzweiflung, Romantik, Optimismus und ehrlicher Leidenschaft. Ja, Leidenschaft ist vielleicht das Wort, das die Einstellung der kosmopolitischen Pop-Gruppe aus Glasgow am besten trifft. Während ein clever-zynischer John Lydon faul mit seinem Wunschtraum „Dies ist kein Love-Song“ dahinträumt, bekennen sich die Simple Minds zu offenen Gefühlen.

„Mit acht Jahren habe ich mit dem Schreiben angefangen. Frage mich nicht nach dem Grund, denn meine Familie interessierte sich überhaupt nicht für Literatur; in unserem Hause gab es kein einziges Buch. Aber ich erinnere mich, daß ich als Kind nachts wach im Bett lag mit der Vorstellung, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der nicht schläft. Und dann hörte ich diese Geräusche eines vorbeifahrenden Zuges. Ich habe an die Menschen in den Zügen gedacht, wohin sie fahren könnten. Am nächsten Morgen habe ich darüber einige Zeilen geschrieben. Diese Stükke, die ohne Anfang und Schluß waren, unterscheiden sich eigentlich kaum von dem, was ich heute schreibe. Unschuldig und unverfälscht.“

Dieser Rückblick mit Liebe in die Kindheit kommt von dem jungen Mann, der bei den Simple Minds die Texte schreibt und singt: Jim Kerr. Wirkte er früher, ganz in Schwarz gekleidet, mit gel-getränkten und schwarz gefärbten Haaren, eher karg, nüchtern und ein wenig blaß/ krank, so sitzt mir heute ein quirliger, frischer Jim Kerr gegenüber.

Die Simple Minds sind wieder da – nach ihrem hochgefeierten Pop-Album NEW GOLD DRE-AM (81-82-83-84), nach einer ausgedehnten Tournee kreuz und quer durch Europa und einer mehrmonatigen Bühnenabwesenheit (es gab nur einen Auftritt im heimatlichen Glasgow) ist die Gruppe zurückgekehrt ins Rampenlicht des Pop-Geschäfts. Mit neuer Single („Waterfront“), neuer LP (SPaRKLE IN THE RAIN) und zwei Vorabkonzerten im Londoner Lyceum im Dezember ’83, einen Tag nach dem Bombenanschlag auf das Kaufhaus Harrods.

Kerr: „Als wir gestern hier in London ankamen,hörten wir im Auto von der Bombe. Das hat mich bedrückt, aber nicht verängstigt; was kann man machen? Ich lasse mich davon nicht runterbringen, ich will darüberstehen. Ich kann nicht glauben, daß es so weitergehen wird, ich bin da optimistisch.“

Kerr scheint besessen und überzeugt von der Idee, sich trotz all der Brutalität und Leere, die er im individuellen und politischen Alltag wahrnimmt, überzeugend optimistisch ins kreative Schaffen/Denken zu werfen. Immer ein bißchen melancholisch präsentiert er seinen Traum als Waffe; versessen glaubt er so sehr an den oder einen Traum, daß es überhaupt – jedenfalls für ihn – keine Wahl gibt, ob der Traum nun zur Wirklichkeit wird.

„Ich glaube an Dinge. Sehr beeindruckend und aufmunternd war für mich ein Dokumentarfilm über die Dreharbeiten zu Werner Herzogs , Fitzcarraldo‘-Film, weil da jemand und für mich ist Herzog Fitzcarraldo!- besessen versucht, seine Sache zu verwirklichen. Solange es Leute wie Herzog gibt, wird sich die Welt auch weiterbewegen!“

Seinen romantischen Traum verwirklichte Kerr mit NEW GOLD DREAM, einem Album, das ihn nicht mehr losließ, weil er darin so sehr verliebt war/ist. Das führte zu Problemen. Für Kerr zu einer geistigen Blockade: „Seltsam, aber ich habe nie geglaubt, daß es uns treffen könnte! Anfang ’83 sagten wir uns: Planen wir dieses Jahr, was das Schreiben neuer Stükke betrifft. Und das war ein Fehler. Es gab zwar Ideen für neue Songs, aber alles entstand unter Zwang; und bis dahin hatten wir unsere Musik immer instinktiv geschrieben. Aber nach NEW GOLD DREAM gerieten wir in Panik: Wir wußten, daß wir die meiste Zeit auf Tournee sein und ohne konkrete Idee ins Studio zurückkehren würden.

Trotzdem versuchten wir, einige neue Stücke zu schreiben. Auf der Tournee, irgendwo in Belgien oder Deutschland, erkannte ich, daß meine neuen Texte eigentlich nichts anderes waren als ein NEW GOLD DREAM Teil zwei. Es war also weniger eine geistige Blockade als vielmehr ein Versessensein auf NEW GOLD DREAM! Dieses Album habe ich immer geliebt!

Unsere Plattenfirma jedoch war von dem neuen Material begeistert. Auch der Produzent war klar: Alex Sadkin hatte uns live gesehen und wollte die nächste LP produzieren. Wir sollten auch mit Police in Amerika auf Tournee gehen, unser NEW GOLD DREAM feierte ge : rade seinen Erfolg in den American Charts, doch inmitten all dieser Pläne warfen wir dasZeug hm! Ich wollte eine Veränderung! Und die Dinge nicht unter Druck herausbringen.“

Nach diesem Einbruch ging Kerr mit seinen Simple Minds in geistige und physische Klausur zurück zur Geburtsstätte Glasgow. Auf der Suche nach frischer Inspiration. Back on the waterfront.

„Die Simple Minds haben sich immer als eine Band begriffen, die kosmopolitische Musik macht, die sich nicht mit ihrem Ursprung Glasgow/Schottland identifiziert. Doch als wir zurück in Glasgow waren, merkte ich. daß hier meine Heimat ist. Ich weiß nicht, warum, vielleicht waren es die Menschen, das Wetter, die Luft, der Himmel. Aber ich erkannte, daß hier mein Ursprung liegt, daß mir dieser Ort Kraft und eine Perspektive geben würde.“

„Waterfront“ war der erste Song, den Kerr in und über seinen Geburtsort Glasgow schrieb. Ein hard-rockiges Werk mit einer Status Quo-ähnlichen Baßlinie. Ein romantischer (Auf-Schrei. Die Idee kam ihm auf einem nächtlichen Spaziergang durch das verlassene Hafenviertel im Juli ’83. Kerr erzählt, daß er auch im Verlauf der Tourneen auf seine Vorliebe für städtische Begehungen (immer nachts) nicht verzichtet. Beim Durchqueren der einstigen Lebensader Glasgows spürte er Desolation und Einsamkeit. Seine Schritte warfen Echos zwischen den verlassenen Industriegebäuden.

Und der Geisterbezirk rief Imaginationen wach: „Ich mußte an all die Menschen denken, die hier mal gearbeitet haben, auch an meinen Großvater. Und all die Schiffe lagen da wie Autos, denen man die Motoren geklaut hat. Als ich am Ufer ankam, wurde mir klar, daß dieses ständig fließende Wasser eigentlich viel mehr die Lebensader repräsentiert. Das gab mir Zuversicht, Glauben an die Zukunft, denn solange das Wasser fließt, wird es hier Leben geben. „Waterfront“ hat einen sehr einfachen Text, der trotz des nihilistischen Aspekts dieser Geschichte einen seltsamen Optimismus ausstrahlt.“

Kerr, der sich gerade in Glasgow ein Haus gekauft hat, über die Menschen in dieser Stadt: Wenn sie nüchtern sind und nicht schreien, ist die Stadt katholisch. Betrunken, regiert der Sozialismus. „Wenn die Leute besoffen sind, erzählen sie dir.

daß Christus ein guter Sozialist war.“

Europäisch/kosmopolitisch jedenfalls ist die Atmosphäre der Reisemusik, die sich auf den beiden Simple Minds-Alben EMPIRES AND DANCE (’80) und SONS AND FASCINATION (’81) befindet: nackte, nihilistisch-befleckte Sound-Wände, die auch mit Verzweiflung zu tun haben. Erfahrungen, die Kerr beim Durchqueren Europas aufnahm: „Ich habe hier Dinge zum ersten Mal gesehen, die man in Großbritannien nicht so kennt. Das erste Mal, daß ich in meinem Leben einen Mann mit Gewehr sah, war in Deutschland; hier bei uns erlebst du das nur im Western.“

Als die Simple Minds nach neunmonatiger Tournee zurückkehren, verarbeitet Kerr diese europäischen Impressionen in den Songs der beiden genannten Werke.

Ist das Empfinden/Fühlen für ihn wichtiger als Gedanken?

„Ja, da gibt es irgendwo eine Verbindung zwischen Sound und Farbe und Wörtern. Wenn wir im Studio sind, machen wir darüber oft Witze und sagen zum Tontechniker: .Laß die Gitarre wie einen Himmel aussehen. „

Jim Kerr möchte Popmusik machen, die sich über Begrenzungen hinwegsetzt: „Ich hasse diese Einteilung: meine Generation, nicht deine. Neulich sah ich das Wham!-Video .Bad Boys‘, wie die beiden zur ihrer Mutter sagen, daß sie stark und erwachsen sind, ,bad boys, l’m a bad boy was für ein Mist! Diese Lüge gibt es seit Eddie Cochran. Keiner von ihnen ist ein ,bad boy‘, sie wissen noch nicht mal, wie man sich ein Ei kocht, sie brauchen ihre Mutter dafür.“

Hat er sich schon einmal eingeengt gefühlt durch Ruhm?

“ Obwohl ich gerne mit Leuten zusammen bin, gehe ich z.B. nie auf diese Parties. Für mich gibt es auch nicht diese Einstellung vieler Bands, die von einem zweiten Ich reden, das sich auf der Bühne präsentiert. Für mich sind Tourneen wichtig, ja das Wichtigste überhaupt!“

Die Simple Minds haben ihren NEW GOLD DREAM abgeträumt („Das war ein starkes Album, aber es war eine ruhige Stärke; ein Flüstern kann mehr sein als ein Schrei“) und sind mit einem harten, physischen Schrei auf SPARKLE IN THE RAIN gelandet.