Spiritualized – Lost in Music


Eine Offenbarung hatte er leider nicht, nachdem er dem Tod von der Schippe gesprungen war. Und als Drogenrockband will er Spiritualized heute auch nicht mehr verstanden wissen. Dennoch ist Jason Pierce immer noch für eine Dosis Bewusstseinserweiterung gut. Und wenn er dafür mit einem Scherz nachhelfen muss.

Jason Pierce hat ja nur einen Witz gemacht. Und das überrascht schon etwas, weil Jason Pierce nicht zu den Leuten gehört, von denen man Witze erwartet. Der 46-jährige Künstler aus Rugby in der zentralbritischen Grafschaft Warwickshire gilt als ein Seelensucher und Psych-Rock-Melancholiker, der auf seinen Platten die Nähe des Todes erforscht und im Klang-Elysium so etwas wie die Erleuchtung findet, wenn er denn die richtigen Drogen genommen hat. Ob das vor einigen Wochen, als Pierce mit einem kurzen Interview im amerikanischen „Spin“-Magazin für Verwirrung sorgte, auch so war, wissen wir nicht. Nachdem die Vorab-Kopien des neuen Spiritualized-Albums bereits an die Medien verschickt waren, hatte Pierce so ganz nebenbei von einer „dämlichen Idee“ erzählt, die ihn im vergangenen November heimgesucht habe. Er hatte sie dann einfach in die Tat umgesetzt: Er jagte die Songs, die er bislang aufgenommen hatte, im unfertigen Zustand raus an die Kritiker und arbeitete einfach weiter an seinem Album. Pierce wollte seine Ruhe, die Kritiker wollten endlich seine neue Platte. Hat doch jeder bekommen, was er braucht. Also: fast. Dass dieses Material sich doch gehörig von der später veröffentlichten Platte unterscheiden würde, wie er ankündigte: geschenkt!

Eine Pointe sollte aber noch folgen. „Mit den Kritiken ist es doch eh so“, ließ Pierce im „Spin“-Interview wissen, „dass sie sich oft lesen, als hätte der Autor ein ganz anderes Album gehört.“ Das ist nicht von der Hand zu weisen. Doch dürfte sich Jason Pierce im Fall seiner eigenen Musik kaum darüber wundern: Kommen seine raumgreifenden Psychedelic-Rock-Drones und Space-Gospelsongs nicht Soundbildern gleich, die wir selber ausmalen müssen, in dem Moment, in dem sie sich in unseren Köpfen breitmachen? Oder allgemeiner: Ist es nicht die vornehmste Aufgabe der Kunst, sich von Ort und Urheber zu entfernen und ihre eigenen Kreise zu ziehen, wenn sie einmal in der Welt ist? Mit Jason Pierces Bands Spacemen 3 und Spiritualized (mit Pierce als einzigem festen Mitglied) begeben wir uns in einen Zustand, der in der Popmusik mit diesen schönen drei Wörtern beschrieben wird: lost in music.

Jetzt sitzt Jason Pierce in Berlin im Büro seiner Plattenfirma, gibt Interviews und betreibt Schadensbegrenzung in der Affäre um die unvollendete Platte. „Das fertige Album ist doch gar nicht grundsätzlich anders, es ist keine andere Platte geworden, ich war damals halt noch nicht so weit.“ Wozu war das Manöver dann also gut? Er habe sich einfach geweigert, seine Aufnahme in der heute üblichen Art zu komprimieren. „Ich möchte am Ende nun mal meine Platte so haben, wie ich sie von Anfang an haben wollte.“ Das also hat Jason Pierce nicht fertig werden lassen – die Entscheidung darüber, mit welchem Maß an der Dynamik seiner Songs herumgespielt werden darf? „Ich kann ja schlecht auf die CD schreiben, dass die Leute ihre Lautstärkeregler weiter aufdrehen sollen. Ich hätte auch keine Garantie, dass die Hörer das auch tatsächlich tun.“

Man muss sich jetzt auch gar keine weiteren Gedanken über laut und leise machen. Sweet Heart Sweet Light heißt das im fertigen Zustand überzeugend ausgepegelte einstündige Werk. Es kommt wie aus einem Guss daher und ist eine Sammlung durchaus rauschhafter Songs, von denen einige so klingen, als hätte man sie aus einer uralten Schatztruhe von Lou Reed entwendet und in ein Gotteshaus getragen, um sie fortan von einem Gospelchor und den herrlich aufjaulenden Streichern noch einmal ganz woanders hin katapultieren zu lassen. Und aus der Mitte dieser Messe kommen die Worte von Jason Pierce: „Sometimes I wish that I was dead / Cause only the living can feel the pain“. Er hält „Sometimes I wish I was dead“ für eine großartige Zeile, sagt er, „zumindest als Einstieg in einen Popsong. Vor allem aber sollten deine Songs glaubwürdig sein. Sie sollten etwas darüber mitteilen, was das Leben aus deiner Perspektive bedeutet. Und solche Gedanken, wie ich sie in den Zeilen formuliere, sind nun mal auch Teil des Lebens. Der Refrain ‚Get it on‘, den die Mädchen später singen, ergibt dann für mich auch wieder Sinn.“

Vielleicht auch fürs Publikum. Die letzten Alben von Jason Pierce unter dem Banner Spiritualized werden allzu gerne vor dem Hintergrund der Beinahe-Tod-Erfahrung gesehen, die der Sänger und Songwriter 2005 machte. Pierce kämpfte mit einer doppelseitigen Lungenentzündung, sein Herz setzte zweimal aus, eine Zeit lang konnte er nur schriftlich mit seinen nächsten Angehörigen kommunizieren. Lebensgefährtin Juliette Larthe, eine Film-Regisseurin und -Produzentin im Musik- und Modebereich, gab Wochen danach auf der Spiritualized-Homepage Entwarnung: Jason sei zwar immer noch wackelig auf den Beinen und habe an Gewicht verloren, aber er befinde sich auf dem Wege der Besserung. Und freue sich darauf, das nächste Album aufzunehmen. Später sagte Pierce, die Maschinen, die halfen, sein Leben zu retten, hätten seltsam schön geklungen, wie Musik. Wie blickt er heute auf diese einschneidende Erfahrung in seinem Leben zurück? „Ich hätte mir eine Art Offenbarung gewünscht, als ich wieder auf die Reihe kam, ein neues Leben, aber ich kam zurück in mein altes“, meint Pierce und lacht. „Es hat sich nicht so viel geändert.“

Im Dreigroschenroman der Geschichte von Spiritualized hätte dann doch ein Kapitel geheißen: „Musik hat sein Leben gerettet“. Genau genommen rettet Jason Pierce in seinen Bands nonstop sein Leben. Er ist ein Besessener, der sich einer schier endlosen Feinarbeit am monolithen Sound verschrieben hat, in den er Bilder aus dem Traumanotizbuch seines Lebens eingraviert. Das Projekt Spiritualized entstand 1990 nach dem Ende der Band Spacemen 3, die Pierce in den frühen Achtzigern mit seinem Freund Pete Kember gegründet hatte. Pierce (alias J Spaceman) und Kember (alias Sonic Boom), die beide am selben Novembertag des Jahres 1965 geboren sind und sich seit Teenagerzeiten aus Rugby kannten, kamen über ihre musikalischen Vorlieben zusammen: Psychedelic-Rock, Iggy Pop und die Stooges, amerikanische Field Recordings und Folksongs. Über vier Studio-Alben entwickelten Spacemen 3 einen skelettierten Psych-Sound, der sich zu seinen Wurzeln in Space- und Punk-Rock bekennt. Ihre Konzerte glichen Besuchen einer Dunkelkammer, die mit flackernden Stroboskoplichtern beschossen wird und so zum halluzinatorischen Gesamtkunsterlebnis einlud. Von den Spacemen 3 ist ein sich hübsch im Kreis drehender Satz in den Geschichtsbüchern des Alternative Rock erhalten geblieben: „Drogen nehmen, um Musik zu machen, um Drogen zu nehmen“.

Mit der Trennung von Kember, der Pierce vorwarf, ihn bei jedem musikalischen Schritt lediglich zu kopieren, wurde eine weiterführende Schule des Spaceman’schen Hypno-Rock gegründet; in die weit ausholenden aus Blues und Gospel gebauten Soundbögen von Spiritualized traten Synthesizer, Bläser, Akkordeon, Zither, Glöckchen und größere Streichergruppen – und schon mal ein Piano. Alles nachzuhören auf dem Meisterwerk Ladies And Gentlemen We Are Floating In Space. Direkt hinter Radioheads epochalem Album OK Computer demonstrierte dieses Album 1997, was Britpop auch sein kann – mit dem Sprung vom Song zum Songkunstwerk, dessen reichhaltige Zutaten einen nachhaltigeren Konsum ermöglichten, ohne sich komplett von der Harmonielehre des Pop zu verabschieden.

Pierce switchte mühelos von massiven Rock-Hymnen zu kleinen, traurigen Liedern, wühlte im Herzschmerz und feierte sich als fucked up. In dem zum Album gereichten Beipackzettel warnte der Spaceman nicht ganz ernst gemeint vor dem Genuss von Alkohol und Drogen bei gleichzeitiger Einnahme von Spiritualized, für die Folgen wollte er keine Verantwortung übernehmen. „Vielleicht sollte man mit dem Alkohol und den Drogen, die wir auf Rezept bekommen, immer vorsichtig sein“, sagt Jason Pierce heute. Die Schublade „Drogen-Rock“ hat er für Spiritualized geschlossen. „Ein größerer Teil der Rock- und Popmusik steht mit Drogen in Verbindung, das ist nicht typisch für meine Band. Ich denke, der perfekte Song für den LSD-Genuss ist Buddy Hollys ‚Slippin And Slidin‘, auch wenn Buddy Holly das gar nicht beabsichtigt haben mag.“

Zwei Jahre hat Pierce mit der Herstellung des neuen Albums verbracht. „Die Arbeit verteilte sich über diesen langen Zeitraum auch deshalb, weil ich während des Mischprozesses wieder in medizinischer Behandlung war, wegen meiner Lunge. Vor allem wollte ich aber ein Album vorlegen, auf dem ich alle Möglichkeiten ausschöpfe, auf dem ich viele Fehler machen und in Einbahnstraßen gehen konnte, ohne Druck. Ich wollte Dinge ändern und feststellen, dass ich glücklich mit diesen Veränderungen bin, dass ich am Ende mit den Resultaten leben konnte.“

Kaum weniger wichtig als der Zeitfaktor waren die Musiker, mit denen Pierce seit fast zehn Jahren aufnimmt. „Sie tragen mühelos dazu bei, ich muss niemanden instruieren, wo ich hin will, sie machen’s einfach richtig.“ Im Studio war auch das isländische Streicherensemble Amiina, bekannt vor allem durch die Zusammenarbeit mit Sigur Rós, dessen Wege sich mit Spiritualized auf Tournee kreuzten. Und die prominent auf dem Album vertretenen Chor-Sängerinnen aus Queens/New York engagierte Pierce frischweg von einem Auftritt in L.A. während der „Acoustic Mainline“-Tour. „Sie sangen ungefähr so wie die Mädchen auf Leonard Cohens ‚So Long Marianne‘. Das war die Art von Gospel, die meine Platte brauchte.“

Live hat Pierce das neue Album bereits in der Entstehungsphase aufgeführt, mit einem einzelnen Konzert in der Londoner Royal Albert Hall. „Nein, das war kein Testlauf für die Platte, ich muss auch nicht unbedingt ein Konzert geben, wenn ich ein Album mische.“ Aber als er gefragt wurde, hat er dann doch nicht „nein“ gesagt. „Live spielen heißt in einem Wasserfall stehen, du reagierst auf deine Umgebung, du spielst in sie hinein. Wenn ich gescheitert wäre, dann immerhin in der Royal Albert Hall. Aber es hat ja funktioniert.“

Albumkritik S. 95

Spiritualized

Die Kunststudenten Pete Kember und Jason Pierce erschaffen 1982 Spacemen 3. Die Neo-Psychedelia-Spezialisten experimentieren in bald schon erweiterten Besetzungen nicht nur mit Sounds, sondern auch mit Drogen – weichen, harten, was so zu haben ist. Vier Alben von 1986 bis 1991 sind der Gemeinde bis heute heilige Kultobjekte. Pierce gründet 1990 mit drei weiteren Spacemen-3-Mitgliedern die Band Spiritualized (deutsch: „vergeistigt“), die sich aber bald schon zu seinem Solo-Vehikel entwickelt. Die Musik wird über die Jahre variantenreicher, epischer, souliger. Die bislang veröffentlichten sechs Alben sind alle Stammgäste in den Top 30 der UK-Charts.

Über Space Rock

Man muss sich nur den richtigen Trip verschreiben. Direkt der erste Track auf dem Spacemen-3-Album The Perfect Prescription (1987) feiert das Glück einer Drogenerfahrung, bei „Take Me To The Other Side“ handelt es sich um einen schwer aufheulenden Rocksong mit irgendwo im Hintergrund wabernden Gesängen, deren Botschaft gar keine Wörter mehr braucht. Deutlicher als in diesen knapp fünf Minuten haben sich Jason Pierce und Pete Kember kaum je zu ihren Wurzeln im Space Rock der späten Sechziger und frühen Siebziger bekannt. Die Überwindung von Songstrukturen und ein gewaltiger Raumklang, der sich oft aus Synthesizer- und Gitarrensounds aufbaut, sind typisch für die Space-Rock-Ensembles der ersten Stunde: neben der britischen Musikerkommune Hawkwind (bei der zeitweise auch Lemmy Kilmister von Motörhead spielte) gilt das zum Teil für Pink Floyd (The Piper At The Gates Of Dawn), für UFO aus London (bei denen zeitweise Michael Schenker von den Scorpions mitrockte) und die japanische Far East Family Band. In den 80er- und 90er-Jahren spielte eine neue Generation von Musikern mit den Space-Elementen, passte diese in ihre Drone- und Shoegaze-Tracks ein, nachzuhören bei Flying Saucer Attack etwa, verfeinert bei Spiritualized. (Wiederum gar nicht fein, dafür umso konkreter hardrockend: Monster Magnet.) Eine leichte Tendenz zum Space-Rock-Trip ist auch aktuell wieder zu beobachten, im kontrollierten Bombast der Montrealer Besnard Lakes oder in den rauschhaften, durchaus melodieseligen Rockfeiern von Tame Impala aus Australien.