Tasse Tee irgendjemand?


Die Turin Brakes, derzeit Englands beste Songwriter, nahmen ihre zweite LP in L.A. auf. "Die machen da keine Tee-Pausen", erzählten sie Christoph Lindemann

Es kann vorkommen, dass Olly Knights und Gale Paridjanian auf ihrer eigenen Aftershow-Party übersehen werden. Nicht nur sind die beiden vielleicht besten englischen Songwriter der Gegenwart einen Kopf kleiner als das Gros der geladenen Gäste, sie haben sich außerdem in der hintersten Ecke postiert, um leise und zurückhaltend die Glückwünsche derer entgegenzunehmen, die zufällig in die Nähe gedrängt werden. „Bei Konzerten in London sind wir immer nervös“, sagt Gale und übertönt nur mit Mühe den DJ, der zur Freude seines engeren Freundeskreises die Vinyl-Single von Smogs „Let’s Move To The Country“ aufgelegt hat. „Viele Bekannte sind da und die ganzen Medien. Da haben wir oft das Gefühl, dass wir nicht wirklich gut sind. Und danach kommen alle her und sagen: ,Wow! Was für eine unglaubliche Show‘, haha‘.“ Erleichterung steht den beiden ins Gesicht geschrieben: Obwohl die Turin Brakes an diesem Abend Ende September dem Publikum im ausverkauften Shepherds Bush Empire das noch unbekannte Material ihrer zweiten Platte „Ether Song“ vorgespielt haben, bedankten sich die Fans mit knapp fünf Minuten Standing Ovations. Seit vor knapp zwei Jahren das ausgezeichnete Debütalbum „The Optimist LP“ erschienen ist, werden die zwei unscheinbaren Londoner auf den britischen Inseln gefeiert wie Stars. Mit über 200.000 verkauften Einheiten in England allein wurde die anspruchsvolle Platte, die viel Geduld und Aufmerksamkeit erforderte, bis sie ins Herz geschlossen werden konnte, zu einem überraschenden Bestseller.

„Paparazzi?“, lacht Gale und schaut Olly fragend an. Beide schütteln den Kopf. „Um ehrlich zu sein dafür sind wir viel zu normal.“ Pünktlich haben sich die Songwriter am Nachmittag zum Interview eingefunden.

„Ab und zu werden wir erkannt. Vor allem hier in London „, meint Gale. „Aber nicht unangenehm.“ Olly steigt nochmal von seinem Barhocker herab, um ihn näher an die Tasse Tee zu schieben, die inzwischen auf dem Tresen wartet. „Naja, neulich bin ich im Schwimmbad beim Umziehen angesprochen worden „, erzählt er. „Sagt so einer,Bist du nicht der Typ von Turin Brakes?‘ Und ich:,Ja‘, und er: ‚Dacht ich mir, ich seh dich dauernd hier…'“

Gale, der mit der Geschichte offenbar noch nicht vertraut ist, unterbricht „Hat er deinen Orang-Utan gesehen?“ Olly lache „Ich hatte noch Shorts an.“ So populär die Turin Brakes auch sein mögen, selbst im skandalgeilen England ist es unwahrscheinlich, dass sich jemand für den Orang-Utan von Olly Knights interessiert. Die Begeisterung der Fans konzentriert sich auf die bewegenden Songs, die sich das Duo recht gelassen aus dem Ärmel zu schütteln scheint. Leistungsdruck war bis vor einem Jahr noch Fremdwort. „Es war komisch. Nach dem Erfolg des Debüts wurden unser Management und unser Label fast nervöser als wir“, meint Gale. „Für uns war das nichts Besonderes: Wir schreiben wieder Songs, nehmen noch ein Album auf – cool. Also haben wir ein paar Demos abgegeben, und die sind ausgeflippt. Haben über Richtungswechsel diskutiert, darüber, ob es zu sehr wie die alte Platte klang oder zu wenig wie die alte Platte – meine Güte!“

„Ich hatte nicht das Gefühl, dass es die Idee der Turin Brakes war, mit einem Produzenten zu arbeiten. Sie wirkten ein bisschen zögerlich „, gibt Tony Hoffer zu, als ihn ME nach mehreren Versuchen schließlich an einem Samstag im Januar in den Londoner Strongroom-Studios erreicht. Der amerikanische Produzent, der seinen guten Ruf der Arbeit mit Beck und Air verdankt, wurde 2002 vom A&R-Department von Source Records gebeten, in die Entstehung von „Ether Song“ einzugreifen. Sein Gefühl hatte ihn nicht betrogen. ‚“Ein Produzent? Oh Mann‘, war unsere Reaktion, als wir uns mit Hoffer treffen mussten „, erinnern sich Gale und Olly. „Wir haben denen (bei Source) gesagt, dass wir bisher sehr zufrieden damit waren, alles selbst zu machen.“

Tatsächlich war fast das ganze Debüt 2001 Ergebnis einer unkomplizierten Hausgeburt. „Das waren schöne und schlichte Homerecordings, die wir unter Freunden verteilt haben“, so Gale. Olly streckt seinen Rücken auf den lehnenlosen Hockern und nickt: „Phil (Passera, Anvil Records) hatte damals gerade sein eigenes Indie-Label gegründet und hat die Aufnahmen zufällig gehört.,Überlegt euch einen Namen‘, hat er uns am Telefon gesagt,denn ich bringe eure Platte raus'“. Die erste EP fand ihren Weg in die Büros von Source Records. Die renommierte Plattenfirma entschloss sich, das Longplay-Debüt der Turin Brakes zu veröffentlichen, was „The Optimist LP“ die Aufmerksamkeit der Kritiker garantierte. „Die Platte hat gut funktioniert, obwohl sie nicht gepusht wurde. Da war kein großes Geld dahinter. Viele Leute haben das einfach gekauft und gemocht“, bilanziert Olly. Bei einer derartigen Erfolgsgeschichte überrascht es nicht, dass die Jungs zunächst auch die Vorbereitung des neuen Albums entspannt in Angriff nahmen. Gemütlich wie im Jack-Daniels-Spot hatten es sich die beiden sympathischen Gitarristen in einem kleinen Studio an der rauen Südküste Englands gemacht, um dort die ersten Songideen zu skizzieren, die Wochen später das Label derart in Aufregung versetzten sollten.

„Es hat Sich herausgestellt, dass Tony Hoffer total nett ist“, so Olly über den Produzenten, den sie zunächst relativ ungezwungen in einem französischen Cafe in London getroffen hatten. „Ich kannte die Turin Brakes nicht wirklich“, erinnert sich Hoffer an das erste Gespräch. „Ihre Platte hat mir aber gefallen. Ich hab sie dann gefragt, was sie damit ausdrücken wollten. Das haben sie mir auch erklärt, aber irgendwie kam das auf ,The Optimist LP‘ nicht rüber.“ So entführte Hoffer die Jungs für knapp drei Wochen in seine Heimat Los Angeles, wo 8769 Kilometer von den gestressten Brötchengebern die zwölf Titel der neuen LP entstanden. Die Proben fanden zunächst im „Valley“ nördlich von L.A. statt. „Nebenan übte Steve Vai für eine Tour. Oder war es Joe Satriani?“, überlegt Hoffer. „Beide,glaube ich. Wir haben diese lieblichen akustischen Nummern geprobt, und nebenan wurde Holz gehackt, haha“. Hoffers Plan, „den Songs mehr Farbe und Power durch zusätzliche Instrumente“ zu geben, wurde schließlich in der Sound Factory in West Hollywood verwirklicht. Mit dabei waren der Air-Schlagzeuger Brian Reitzell sowie der Bassist Justin Meldal. Besonders angetan waren Gale und Olly aber von dem langhaarigen texanischen Keyboarder Dave „Jesus“ Palmer, der sich von der Euphorie des Songs „Little Brother“ so aufkratzen ließ, dass er mitten unter den Aufnahmen rausstürmte und vor Begeisterung „einen Passanten an einer Bushaltestelle anzünden wollte“, wie Olly lachend erzählt.

In nur elf Tagen hat Tony Hoffer das Beste aus den beiden Talenten herausgeholt. Vor allem aber kümmerte er sich mit seinem amerikanischen „Just do it“-Naturell um die Verwirklichung auch der abstrusesten Ideen. „In LA. waren die Leute so schnell“, meint Olly. „Nichts war unmöglich. Auf einen Vorschlag kam sofort eine Reaktion. Wenn unser Team nicht wusste, wie man etwas in die Tat umsetzen kann, dann haben sie jemanden gefunden, der es konnte.“ Gale nickt: „Das ist so wichtig für das Selbstbewusstsein. In England heißt es dann: ‚Ach, das ist ja unmöglich. Da müssten wir einen Lastwagen voll Equipment importieren. Drei oder vier Monate- Minimum.‘ Wenn du dann noch die Tee-Pausen addierst, die jeder so dringend alle fünf Sekunden einlegen muss…“ www.turinbrakes.com