Tell me what you see


Welche Bedeutung wird die erste Band aller Zeiten in einer Zukunft haben, in der die Musikkultur und ihre alten Rituale an Aufmerksamkeit eingebüßt haben?

Lady Gagas Leute haben schon mal das Mario-Götze-Fußballstadion in Tokio gemietet, für die Feier zum 77. Geburtstag der Sängerin. Derweil läuft über alle personalisierten Googlebook-App-Werbeflächen groß die Ankündigung für Apples neues Betriebssystem OS XXV. Vor einer Woche, am 11. August 2062, war Halbzeit in der aktuellen Zwölf-Monate-24-Stunden-Casting-Show „Crash & Burn“, und wer die Songs der derzeitigen Favoritin Pamela hören will, kauft sich am besten die Fan-Box, ein möbelartiges Holzkästchen mit Bildschirm, in dem per automatischem Online-Update immer alle aktuellen MP3s und Videos ankommen.

Und dann ist da noch eine interessante Nachricht, die es bei den meisten Stationen des mehrheitlich chinesischen MediaCorps-Imperiums sogar in die Kulturnews schafft, wenn auch nur als Randbemerkung: An diesem 18. August ist es genau 100 Jahre her, dass Ringo Starr Mitglied der Beatles wurde.

Beatles, Ringo – wer bitte? Eine beträchtliche Zahl von Zuschauern stellt die Frage ernsthaft. Schaut kurz nach. Schließt aus Neugier ein Monats-Abo für alle Songs und Filme der geheimnisvollen Gruppe ab. Ein kleiner medialer Flashmob, ein Revival, über das die Popspezialisten nur spotten. Sogar das ZDF nimmt kurzfristig eine Beatles-Doku ins Programm, die aber miese Einschaltquoten erntet, weil der Großteil des durchschnittlich 78-jährigen Stammpublikums sie schon kennt.

Das ist nur eines von vielen möglichen Szenarien, die man sich ausmalen kann, wenn man über die langfristige Zukunft der Beatles-Kultur nachdenkt. Nicht das unwahrscheinlichste. Aber auch nicht der unvermeidliche Lauf der Pop-Dinge.

Dass selbst die größten Ereignisse mit den Jahrzehnten und gar Jahrhunderten ihre unmittelbare Relevanz verlieren, war auch schon 1962 so – demzufolge hätten John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr sicher nur mit Liverpooler Dockarbeiter-Lachen geantwortet, wäre ihnen damals ein Terminator aus der Zukunft begegnet, mit der Nachricht, dass ihr „Love Me Do“ 2010 beim digitalen Re-Release für einen Ansturm der iTunes-Downloader sorgen würde. Allein schon in dieser Hinsicht hat die Geschichte der Beatles, diese auf dem Papier doch relativ kurze Sixties-Pop-Episode, schon längst bewiesen, dass sie etwas besonderes ist. Dass die üblichen historischen Regeln hier ziemlich wirkungslos sind.

Als Ende 2009 die Beatles-Discographie zum ersten Mal auf ordentlichen CDs erschien, schrieb der US-Schriftsteller Chuck Klosterman für das Online-Magazin A.V. Club eine ausführliche Rezension. Besser: eine Super-Glosse, in der er so tat, als wären die Beatles eine vergessene, unbedeutende Beatband. „Am Anfang ging es mir so wie den meisten anderen: Ich verstand nicht, wieso die EMI ausgerechnet die 13 Alben einer Liverpooler Popgruppe aus den 60er-Jahren remastern und wiederveröffentlichen sollte, die so obskur ist, dass es ihre Musik nicht mal bei iTunes gibt“, schrieb Klosterman. Sein Fazit: „Das sind nette kleine Alben. Aber dass irgendjemand ernsthaft 260 Dollar für diese Scheiben ausgeben will, kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt doch so viele tolle Gratismusik im Internet, oder?“

Das ist zwar obersarkastisch formuliert, aber ein guter Punkt. Denn je größer mit den Jahrzehnten die Konkurrenz wird, je mehr die Musikkultur und ihre alten Rituale an Aufmerksamkeit einbüßen, desto stärker wird sich das auch auf die Bekanntheit und Verbreitungsdichte der Beatles-Songs auswirken. In den unübersichtlichen Weltgeschichtsbüchern steht ja jetzt schon so einiges. In 50 Jahren noch viel mehr. Falls die Dinger dann überhaupt noch gedruckt werden.

Andersrum bedeutet das auch: Die meisten Rekorde, die die Beatles heute halten, sind ihnen praktisch nicht mehr zu nehmen. Wenn die Popkultur ihre Bindungskraft weiter verliert, sich weiter so sehr in Special Interests auflöst wie in den letzten 15 Jahren, ist es überhaupt nicht mehr denkbar, dass der TV-Auftritt einer Musikgruppe von 40 Prozent der amerikanischen Bevölkerung gesehen wird – so wie die ersten zwei Beatles-Performances in der „Ed Sullivan Show“ 1964. „Elvis has left the building, now I’m on The Beatles‘ ass“, rappte Jay-Z in seiner Kanye-West-Kollaboration „Illest Motherfucker Alive“, nachdem er mit insgesamt elf Nummer-eins-Alben in der ewigen Rangliste der US-Charts Elvis Presley überholt hatte. Aber dass der HipHop-King die 20 Stück der Liverpooler schlagen können wird, ist mehr als unwahrscheinlich. Eine Umfrage des Pew Research Centers ergab 2009, dass 92 Prozent aller Amerikaner wissen, wer die Beatles sind. Coldplay: nur 49. In Deutschland dürfte die Quote noch deutlicher ausfallen.

Der Übergang ins Facebook-Zeitalter ist ihnen jedenfalls geglückt. Die offizielle Beatles-Seite dort hatte Mitte Juni rund 28 Millionen Freunde, weniger als Lady Gaga (52 Millionen), aber weit mehr als die Rolling Stones (10,3) und sogar die arme Madonna (9,4). Was nicht nur mit ansteckender Peer-to-peer-Propaganda zu tun haben dürfte, sondern durchaus mit Marketing-Geld, das klassisch investiert wurde. Die CD-Wiederveröffentlichungen 2009, flankiert vom Launch einer Spezialausgabe des „Rock Band“-Konsolenspiels, dazu die iTunes-Kampagne von 2010 haben sicher extrem viel dafür getan, dass das Interesse derzeit so lebendig wirkt. Eine „We Hate The Beatles“-Seite gibt es auch auf Facebook, seit Oktober 2011. Bei Redaktionsschluss hatte sie vier „Likes“.

Solange die Entertainmentbranche Grund zur Annahme hat, dass man mit den Beatles Geld verdienen kann, wird man sie also auch im Gespräch halten. Und trotzdem: Man wüsste schon gerne, wer denn eigentlich diese Leute waren, die im Herbst 2010 allein in der ersten Verfügbarkeitswoche 450.000 Beatles-Alben sowie zwei Millionen Einzelsongs herunterluden (wo man bei einer gut geschätzten Milliarde bereits verkaufter Platten doch annehmen sollte, dass wirklich jeder schon alle Stücke in irgendeiner Form verfügbar haben sollte). Dass dieses Publikumspotenzial auch dann so groß bleiben wird, wenn die Generation der Ersthörer irgendwann mal nicht mehr da ist – das glaubt sicher keiner.

Der frühere Columbia-Records-Vize David Kronemyer erwähnte 2009 in einem Beitrag für das „Music Industry Newswire“, dass es bereits Anfang der 80er-Jahre (nach dem Verkaufs-Boom zu John Lennons Tod) ein historisches Tief bei Beatles-Verkäufen gegeben habe. Von einer Filmmusik-Compilation wurden nur enttäuschende 225.000 Exemplare abgesetzt, auch die alten Platten hätten längst nicht mehr die Dauerbrenner-Qualität. Bis kurz darauf glücklicherweise die CD eingeführt wurde. Und das Geschäft wieder von vorn losging.

Das bislang letzte Produkt war 2012 die neue „Yellow Submarine“-DVD, laut Aussage von Insidern stehen restaurierte Wiederveröffentlichungen der Filme „Get Back“ und „Magical Mystery Tour“ unmittelbar bevor. Denkbar wäre in einigen Jahren noch eine Blu-ray-Ausgabe der regulären Alben. Aber dann wird es schon dünn. Da die eigentliche Beatles-Geschichte nun mal kurz war und mit der „Anthology“-Reihe schon so erschöpfend aufbereitet wurde, sind die Archive fast leer. Einen kleinen Hype würde es noch geben, sollten die Beatles ihre Musik für Spotify freigeben. Dass die Streaming-Könige aus Stockholm eine derart altertümliche Investition überhaupt für nötig halten, glaubt aber nicht mal der naivste Amateurfunker.

Eine neue große Mediendämmerung, die nach CD, DVD und Blu-ray kommen könnte, wird nur noch eine Spezialistenschar erreichen. Und wenn dann irgendwann auch der lebendige Paul McCartney nicht mehr ab und zu durch die Welt tourt und keine geschäftstüchtige Yoko Ono mehr John Lennons Brille als Werbemittel an Füllerhersteller vermietet, könnte die Präsenz der Beatles im öffentlichen Raum durchaus zurückgehen. Und damit, ganz praktisch, ihr Bekanntheitsgrad.

Wohlgemerkt: das alles nur unter der Annahme, dass die durch altmodische Ereignispolitik erzeugte Aufmerksamkeit mitentscheidend ist. Natürlich kommt es mindestens ebenso darauf an, wie das Publikum selbst am Beatles-Erbe arbeitet. Auf die neuen Bands, die sich – wie Oasis, Kasabian, Wilco oder die Flaming Lips – auch in Zukunft explizit auf die Band berufen. Auf die notorischen Blogger, die ihren Lesern und Verfolgern die coole Retro-Sause aus Liverpool empfehlen. In noch fernerer Zukunft werden, wenn sich am Urheberrecht nichts Gravierendes ändert, die Beatles-Songs sogar gemeinfrei werden – dann darf aus ihnen nach Lust und Laune gesampelt werden.

So oder so wird die äußerst rigide Hand, die im Moment noch über jeden YouTube- und Rapidshare-Schabernack wacht, der mit dem Beatles-Werk geschieht, im Lauf der Jahrzehnte immer toleranter werden. Plötzlich wird etwas möglich werden, das es bisher nicht gab: Man wird die Beatles entdecken können. Weil man sie nicht mehr als amtlich beglaubigte Größte-Band-der-Welt aufgedrängt werden bekommt. Weil das, was man zum Detailstudium braucht, nicht mehr strikt hinter Bezahlschranken stecken wird.

Wer sensibel für solche Dinge ist, spürt ja schon heute, wie uns die Beatles langsam entgleiten. Wie die Film-Clips aus dem Shea Stadium und die „Strawberry Fields“-Psychedelia von Jahr zu Jahr immer altertümlicher wirken, trotz aller Retro-Mode. Wie es langsam immer schwieriger wird, die 60er-Inkarnation der Band als Urzelle, als Startschussgeber des modernen Pop zu empfinden – weil sie eben fest zu einer Ära des Musikhörens und -machens gehört, die unwiederbringlich vorbei ist. Paradoxerweise liegt genau darin die Chance dafür, dass ihre Schöpfung auch im Jahr 2062 noch für viele hochinteressant sein wird: Die Beatles werden nicht mehr selbstverständlich sein. Zum ersten Mal seit 1963 könnte es cool sein, sie zu kennen.

Indirekt hat ja schon John Lennon selbst eine Art Zukunftsprognose abgegeben: „Wir sind heute schon bekannter als Jesus“, sagte er 1966 im berühmt-berüchtigten „Evening Standard“-Interview. „Ich weiß nicht, was früher verschwinden wird: Rock’n’Roll oder das Christentum.“ Vor kurzem hat die Designerin und Beatles-Expertin Kristen E. Long einmal in Form einer Infografik dokumentiert, wie das Rennen derzeit steht. Ergebnis: Jesus liegt noch knapp vorn, mit 2,5 Milliarden Bibeln gegen eine Milliarde verkaufter Lennon-McCartney-Platten, 33 Millionen Google-Hits gegen 15 Millionen für die sogenannten Pilzköpfe. Bald wird es sogar Päpste geben, die spät genug geboren sind, um mit den Beatles aufgewachsen zu sein. Dann ist auch dieser Wettstreit wieder völlig offen.