Tocotronic: Analog ist besser


Mit einem Paukenschlag von Album wollen sie im Januar die Feierlichkeiten zu ihrem 20-jährigen Jubiläum eröffnen. Tocotronic haben in einem Studio in Berlin-Tempelhof mit Uralt-Equipment an neuer Musik gearbeitet. Wir waren dabei.

Der kleine Junge strotzt vor Aktivität. Er bewegt sich in einem abgedunkelten Raum voller Schaltpulte und Apparate, die aussehen, als stammten sie aus der Requisite für einen Science-Fiction-Film aus den 50er-Jahren. Der kleine Junge löchert die anwesenden „Erwachsenen“ mit Fragen. Er setzt sich auf das abgewetzte Sofa und steht wieder auf und setzt sich wieder hin und beginnt mit imaginären Schlagzeugstöcken auf ein imaginäres Drumset einzudreschen. Er springt auf, verlässt den Raum, geht über den Flur in ein Nebenzimmer, setzt sich auf den Schemel vor einem real existierenden Schlagzeug, nimmt zwei Drumsticks in die Hand und beginnt darauf einzudreschen. Das Instrument gehört Arne Zank, dem Schlagzeuger von Tocotronic. Der kleine Junge ist drei Jahre alt und der Sohn von Produzent Moses Schneider. Der Vater des kleinen Jungen ist gerade damit beschäftigt, vorletzte Hand an das zehnte Studioalbum von Tocotronic zu legen. Der kleine Junge wird mit Sicherheit irgendwann einmal „Schlagzeuger“ sagen, wenn er nach seinem Beruf gefragt wird.

Wir befinden uns in einem Tonstudio in Berlin. Es heißt „Candy Bomber“. Die Ärzte haben ihr aktuelles Album auch hier aufgenommen, die britische Singer-Songwriterin Gemma Ray, die zurzeit in Berlin lebt, ihr jüngstes Island Fire. Seit fünf Jahren existiert dieses Studio, das von Paul Lemp und Ingo Krauss betrieben wird. Untergebracht ist es im Gebäude des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof.

Durch den Flughafen-Bau weht der faulige Atem der deutschen Geschichte. Zwar nahm der Flughafen bereits im Jahr 1923, also zu Zeiten der Weimarer Republik, seinen Betrieb auf, doch durch einen Neubau 1934 wurde er den größenwahnsinnigen Vorstellungen der Nazis angepasst und als damals größtes Gebäude der Welt zu einem Symbol für die faschistische Monumental­architektur. Die Berliner dagegen verbinden Tempelhof eher mit der Luftbrücke der Westalliierten zur Zeit der Berlin-Blockade durch die Sowjetunion. Militärmaschinen, die liebevoll „Rosinenbomber“ (englisch: „Candy Bomber“) genannt wurden, versorgten die eingeschlossene Stadt ab Juni 1948 über ein Jahr lang mit Lebensmitteln. Seit seiner Schließung vor vier Jahren erfuhr der Flughafen durch diverse freizeitliche und kulturelle Veranstaltungen, wie etwa das Berlin-Festival, eine Bedeutungsänderung. Wer, wenn nicht Tocotronic, die erfolgreichste antifaschistische Band der Republik, sollte durch die Aufnahmen ihres neuen Albums an diesem historischen Ort ihren Beitrag zur Umdeutung des Nazi-Baues leisten?

Das Ambiente des Studios unter­scheidet sich sehr angenehm von dem seiner „modernen“, klinisch eingerichteten Geschwister. Wenn es eine Entsprechung für Analogaufnahmen in der Innenarchitektur gibt, dann ist es dieses Studio. Die weiten Flure und die holzvertäfelten Räume des „Candy Bomber“ strahlen den Charme eines Bürogebäudes aus den 50er-Jahren aus – früher war hier ein Rechenzentrum des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA untergebracht.  Sänger Dirk von Lowtzow und Bassist Jan Müller führen gutgelaunt durch das Studio. Die Aufnahmeräume sind vollgestopft mit Gitarren, Bässen, Keyboards, Trommeln, Effektgeräten, Kabeln, Mikrofonständern, schallschützenden Paravants. Die beiden schwärmen vom Equipment. „Manches davon stammt aus den 40er-ein Telefunken T9-Vierspurtonbandgerät aus dem Jahr 1958. Auch nicht zu verachten: das Mischpult, ein „Paris-Munich“, das früher im Besitz der Deutschen Grammophon Gesellschaft gewesen ist. Das imposante Teil wurde in den 60er-Jahren für zahlreiche Orchesteraufnahmen unter der Leitung des Dirigenten Herbert von Karajan benutzt. Soviel nerdiges Interesse an vintage Equipment hätte man Tocotronic dann doch nicht zugetraut. Gerne erinnern wir uns an den Song „Hamburg rockt“ auf dem Tocotronic-Debütalbum Digital ist besser, in dem es so schön heißt: „Gitarrenhändler ihr seid Schweine. Gitarrenhändler ich verachte euch. Es ist gar nicht so leicht, Musik zu machen. Darüber könnt ihr natürlich nur herzlich lachen“. Aber dieses Zurück zum Analogen ist kein Selbstzweck. Erinnern wir an die Alben der so genannten „Berlin-Trilogie“ – Pure Vernunft darf niemals siegen, Kapitulation, Schall & Wahn – auch diese malten ein warmes, analoges Soundbild. Es geht bei den reifen Tocotronic nicht um Nerdismus, sondern um das Endergebnis der Aufnahmen, es geht um das Sounddesign, um ein analoges Gefühl. „Wir waren euphorisiert von diesem Klang. Wir haben von 11 Uhr morgens bis halb elf in der Nacht im Studio gearbeitet“, sagt von Lowtzow. „Zum letzten Mal haben die Beatles 1967 so aufgenommen“.

Tocotronic halten sich seit sieben Tagen in diesem Studio auf, um die Basic Tracks ihrer neuen Songs aufzunehmen. Heute ist der vorletzte Arbeitstag für die Band im „Candy Bomber“. Und morgen wird noch die österreichische Thereminspielerin Dorit Chrysler vorbeikommen, um einen Part einzuspielen. In der nächsten Woche schließlich wird Dirk von Lowtzow den Gesang in Moses Schneiders „Transporterraum“-Studio aufnehmen. „Wir dachten, wir würden länger für die Aufnahmen brauchen“, sagt Dirk von Lowtzow. Aber im Prinzip haben Tocotronic auch länger gebraucht als diese sieben Tage. Wenn die Band, wie im vergangenen Jahr geschehen, in ihrem stets launig verfassten Newsletter an ihre „Fanatikerinnen und Fanatiker“ zwölf Monate der Nichtaktivität ankündigt, bezieht sich das auf die Außenwirkung; für ihre Hörer sind Tocotronic in dieser Zeit von der Bildfläche verschwunden, im Bandgefüge aber brodelt die Kreativität weiter wie die Lava in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. „Das Sabbatjahr war ein bisschen Fake“, erklärt Jan Müller. Denn seit gut zwölf Monaten sind Tocotronic mit den Vorbereitungen für die Aufnahmen beschäftigt. Das, was jetzt hier im Studio in Berlin-Tempelhof abläuft, steht ziemlich am Ende eines sehr langen Prozesses, bei dem es größtenteils um Vorbereitungen, ums Liederschreiben und ums Proben geht. „Wir probieren soviel im Vorfeld aus, dass der Studioaufenthalt dann fast wie eine Belohnung ist,“ sagt Arne Zank, der gerade zu uns gestoßen ist.

Danach erhebt sich Gitarrist Rick McPhail vom Sofa im Kontrollraum und begibt sich in eines der Aufnahmestudios. Der Gitarrist soll einen Overdub einspielen. Es wird ein ziemlich verzerrtes Gitarrensolo werden. Studiomitbesitzer Ingo Krauss sitzt als Toningenieur am Mischpult – hochkonzentriert schiebt er die Regler hin und her und blickt dabei auf den Computermonitor. Von Lowtzow und Müller sitzen daneben. Anschließend diskutieren sie mit Krauss über das Ergebnis. Der Toningenieur findet den Take ganz gelungen. „Vielleicht klingt es ein bisschen dicht“, hält von Lowtzow dagegen. Also nochmal. McPhail beginnt einen zweiten Durchgang. Er lässt das Solo mit einem sehr langen Feedback ausklingen, er quetscht die Töne aus seiner Gitarre heraus. Es klingt wie bei Neil Young zu seinen besten Zeiten. Und alle sind zufrieden. Irgendwann später, wenn wieder ein Overdub gelungen sein wird, wird Dirk von Lowtzow ausrufen: „Es ist doch alles herrlich!“

Der Sänger und Gitarrist von Tocotronic unterreibt ein bisschen, wenn er anmerkt, dass Produzent Moses Schneider sehr „hilfreich“ gewesen sei mit seiner unkonventionellen Arbeitsweise. Das Album hier in diesem Studio mit den alten analogen Geräten aufzunehmen, war die Idee des Produzenten, der seit 2005 bei jedem Tocotronic-Alben auf dem Regiestuhl saß. Apropos. Was macht Moses Schneider eigentlich gerade? Er wirkt sehr entspannt an diesem Tag, nicht nur, weil er vor ein paar Minuten den eingangs erwähnten zukünftigen Schlagzeuger von der Kinderkrippe abgeholt hat. Die Hauptarbeit für die Aufnahmen der Basic Tracks ist für ihn eigentlich getan. Es geht nur noch um Feinheiten, die sein Assistent Max Möhler oder eben Toningenieur Ingo Krauss übernehmen. Schneider weist auf den Balanceact hin zwischen der „extremen Limitierung“ des vintage Equipments und dem sehr guten Sound, der daraus resultiert. „Ich hatte Schiss, dass das Vierspurgerät kaputtgeht“, sagt der Produzent. Noch aber läuft die 54 Jahre alte Bandmaschine.

Inzwischen hält sich die ganze Band im Kontrollraum auf. Arne Zank läuft herum und blickt nervös um sich. „Ich suche mein ,Kreuzberg 36‘-Feuerzeug. Moses, hast du das genommen?“ Schneider verneint, aber irgendwo auf einem Tisch zwischen Kaffeetassen, Wassergläsern, Bierflaschen und Aschenbechern oder in einer Sofaritze findet jemand ein Feuerzeug und gibt es weiter. Dann ist wieder Rick McPhail an der Reihe. Er greift zu einem ganz besonderen Instrument, seiner „Coral Sitar“. Es ist ein Mittelding aus einer Gitarre und einer Sitar und ziemlich legendär dazu. Syd Barrett und Jimmy Page haben dieses Instrument gespielt, Bands wie The Clash, R.E.M., Oasis und MGMT haben die elektrische Sitar auf Alben eingesetzt. Rick will sein Modell demnächst verkaufen, aber bevor er das tut, möchte er es zumindest bei einem Tocotronic-Song ausprobieren. Nach zwei Takes ist die Aufnahme „im Kasten“. Am frühen Abend verabschieden sich McPhail und Zank. Die beiden letzten Hamburger in der Band fahren nach Hause. Am nächsten Tag werden sie in McPhails Studio noch ein paar Overdubs einspielen.

Das letzte Tocotronic-Album Schall & Wahn aus dem Jahr 2010 war die erste Nummer eins für die Band, es hatte Lady Gagas The Fame von der Spitze der Charts verdrängt. Wie soll denn der Nachfolger heißen? „Das dürfen wir dir noch nicht sagen“, antwortet Dirk von Lowtzow. Wir wissen aber, dass das Album im Januar 2013 veröffentlicht werden soll, also ganz früh im Jahr des 20-jährigen Bandjubiläums. Tocotronic haben 16 Stücke dafür aufgenommen. Es wird wahrscheinlich ein Doppelalbum werden. Wir können keine Aussage darüber treffen, wie es klingen wird, weil wir im „Candy Bomber“ lediglich Fragmente gehört haben, keinen Gesang und keine Texte und deshalb keine Rückschlüsse auf das Gesamtbild ziehen können. Aber es gibt ein paar Menschen aus dem Tocotronic-Umfeld, die die neue Musik bereits gehört haben. Sie sprechen schon jetzt von einem musikalischen Monument, das sich hier ankündigt. Und sie ziehen Vergleiche – unter vorgehaltener Hand – mit dem legendären „Weißen Album“. Aber nicht dem von Tocotronic.