UDO LINDENBERG:


Gibt es jemanden in der deutschen Rockszene, über den mehr geschrieben und der häufiger ins Bild gebracht wird? Wir sagen nein, ihr sagt nein - Udo L. ist deutscher Medienkaiser. Trotzdem starten wir in diesem Heft eine dreiteilige Serie über Udos Leben, sein musikalisches Leben vor allem. Denn diesmal ist es Udo selbst, der über Udo Lindenbergs Karriere berichtet. Die Fragen, die ihm die Zunge lösen, stellt Steve Peinemann.

Steve: Ich möchte ganz weit hinten anfangen: Was weißt du über deine Vorfahren?

Udo: Mein Großvater hat mir mal erzählt, daß mein Ururgroßvater Sizilianer gewesen sei. Was ich nicht bezweifle, aber immerhin…

Steve: Ist das ’ne Werbegeschichte, die du schon öfter erzählt hast?

Udo: Nee, nee, die hat er mir erzählt, als ich ein kleiner Junge war. Ich sag, was war eigentlich los… Vater, Großvater… dann ging das immerweiter zurück, wo kommen wir denn eigentlich her? Oder war das der Urknall oder wie? So was hab ich ihn gefragt, als ich so sechs oder sieben war. Und da ist er mit mir an einen Fluß gegangen, der Fluß heißt Dinkel. Er hat mir gesagt, siehst du, hier ist ein Fluß. Es gibt viele Flüsse, und es gibt den Rhein, und es gibt einen Hafen, der heißt Duisburg-Ruhrort. Da ist mal ein Schipper angekommen, hat angelegt, und der kam von weit, weit her: aus Sizilien. Dann hat er sich mit irgendeiner Dame zusammengetan, und dann haben die die Sippe aufgezogen. Irgendwann sind sie dann nach Gronau gekommen. Aufm Umweg über Holland. Viel mehr weiß ich darüber auch nicht.

Steve: Und was weißt du über deine Großeltern mütterlicherseits?

Udo: War ein… wie sagt man? In so ’ner Fabrik. Weißt du, Gronau war ’ne Textilstadt. Da gab’s viele Textilfirmen, so Baumwollspinnereien und eigentlich kaum was anderes. Jetzt ist das grenztechnisch so’n Subventionsgebiet, weil es da jahrzehntelang wirklich nur diese eine Industrie gegeben hat. Und in so ’ner Fabrik war er tätig. Ich glaub, als ’ne Art Werksleiter. Und seine Frau war eine ordentliche Hausfrau, mit vielen Kindern.

Steve: Verbindest du irgendwelche Kindheitserlebnisse mit dem Garten oder mit dem Haus? Oder mit deinen Großeltern?

Udo: Wenig, das ist für mich wirklich alles so weit weg. Ich hab das damals so ziemlich zurückgelassen, als ich fertig war mit Gronau.

Wenn ich später mal hinkam, bin ich durch die Straßen gegangen und habe mir zum Beispiel auch das Haus mal angeguckt, das kam mir viel kleiner vor als damals. Und wie die Leute da lebten, das kam mir noch trauriger vor. Es überfiel mich da eigentlich immer so ’ne Trauer, irgendwie… obwohl ich mir gedacht hab… die leben eben so, die freuen sich auch, die haben auch ihren Spaß dran. Ob meine Art zu leben eine bessere war, wußte ich auch nicht. Für mich ist’s besser, aber für die wär’s wahrscheinlich nicht besser, ne. Ist alles schwer zu sagen.

Steve: Kannst du was über die Musik sagen?

Udo: Ich hörte dann mal Elvis und Bill im Radio, aber ich hörte auch Fred Bertelmann, auch Louis Prima, den ich sehr prima fand damals. Weißte, es war ’n ziemlicher Mischmasch. Ich hab alles gut gefunden, was so ’n bißchen schneller klang. Ich hab Musik überhaupt gut gefunden, und da ich geschmacklich noch nicht so fixiert war (und auch heute paß ich auf. nicht zu einseitig zu sein), hab ich mir auch „Im Hafen von Adano“ und lauter so ’n Schiet reingezogen.

Sonntags morgens, wenn meine Eltern schliefen, bin ich sehr früh aufgestanden, hab den Plattenspieler angemacht und die großen Schellackplatten draufgelegt, war so ,,Ave Maria'“ und so was, unheimlich viel Grützmusik, aber ’n paar ganz tolle Sachen. Meine Eltern haben das sehr geliebt, wenn ich sie mit der Musik weckte und dann die Musik lauter drehte. Die mochten diese Musik. Ja. es war ein unheimliches Durcheinander, musikalisch, und auch so mit Filmen. Ich fand es einfach nur interessant.

Vor allem jede rhythmische Musik. Da hab ich sehr früh mitgekriegt, daß ich bei jeder rhythmisch starken Musik ein unheimliches Jucken in den Fingern kriegte und sofort mittrommeln mußte… auf allem, was da grad so rumstand, auf Kochtöpfen, auf Blumenvasen und Tischen und aufm Knie. Dann irgendwann kam Tommy Steele.

Gegenüber bei uns zu Hause war so ein Lebensmittelgroßlager Edeka, und die hatten immer Benzinfässer, für die Lkws und so, leere Benzinfässer. Und die klingen echt spitze. Wenn man da draufhaut, gibt das interessante Sounds. Und ich hab da stundenlang drauf rumgekloppt, hab mir Trommelstöcke selbst geschnitzt, bin in ’n Wald gegangen, hab da irgendwelche Äste geschnitzt und losgeknallt, so daß die gesamte Nachbarschaft total genervt war. Alle haben meinen Eltern immer gesagt: „Was haben Sie denn da für einen schrecklichen Sohn?“ Ohropax kam groß in Mode in der Gartenstraße.

Steve: Hast du gute Erinnerungen an Freunde, an Mädchen aus der Zeit vor fünfzehn?

Udo: Ja, ich glaub, daß das bei mir ziemlich normal abgelaufen ist, solche Beziehungen. Wie andere Jungs sich auch in die Siebenjährige von nebenan verknallten, im Sandkasten.

Steve: Wer war für dich die Siebenjährige von nebenan?

Udo: Weiß nicht mehr genau. O doch. „Püllein“ hieß sie. Das war irgendein Mädchen. Mit der spielte ich im Sandkasten, oder wir haben geknickert, oder ich hab gesagt: ,,Guten Tach, ich bin der Onkel Doktor.“ Irgendwie das Übliche, und dann hat sie gesagt: „Du spinnst, aber du bist trotzdem ganz nett, und morgen, wenn du zur Schule gehst – ich wohne am Weg zur Schule -, holste mich ab.“ Habe ich sie abgeholt und mich gefreut und hab ihr ’n Knicker geschenkt, eine Murmel, oder ’ne tote Ratte.

Steve: ’ne tote Ratte? Das is ’n Spruch jetzt…

Udo: Nee, so tote Mäuse. Das ist ja so üblich. Drei Murmeln gegen eine tote Maus.

Steve: So in diesen frühen Jahren unter fünfzehn… Kannst du dich an deinen ersten Schultag erinnern, oder an die Kumpels damals?

Udo: Ich kann mich daran erinnern: Mit elf hab ich angefangen zu trommeln, und da wurde die Musik für mich das Wichtigste.

Steve: Dieser Musikwerdegang, das ist alles offizielle Karriere. Hab ich inzwischen alles gelesen!

Udo: Aber dieses Zusammenkommen über Musik: Musik hat auch mit so ’ner abstrakten Zärtlichkeit zu tun. Miteinander musizieren heißt auch, auf die intimsten Dinge des anderen einzusteigen.

Steve: Wie war das damals, so frühpubertäre Erotik?

Udo: Ich war ja nun als Trommler bei den Mädels sehr angesagt, ich war ja so ’ne Art Star, ich war ja der kleine Matz, der in kurzen Hosen auftrat und hinter einem Riesenschlagzeug saß. Es gab damals diese sehr großen Trommeln, hinter denen man so Knirpse kaum sehen kann. Und die Damen hoben drauf ab. Es gab dann auch Fotos und Stories in den Zeitungen, in der ,,Gronauer Zeitung“, was die Ladies sehr für mich einnahmen…

Und wurde gefeiert als eine Art Sensation, als Wunderkind. Und ich hab nicht nur in der Band mit Alten gespielt, sondern irgendwie als potentieller Kapellmeister auch noch so ’ne Schülerband aufgezogen.

Steve: Du ziehst es vor, jetzt auf die Musikkarriere zu kommen, aber das steht schon überall…

Udo: Nee, ich wollte jetzt gerade auf die erotischen… Na ja, mit der Band hatten wir ja ziemlichen Erfolg bei den Mädchen und so, aber vorher noch: die Marion Michael ausm Kinoschaukasten und Eva. Die war so ein ganz langes Gerät ausm Dorf. Später, ich weiß nicht mehr genau, wann, hab ich der auf jeden Fall gesagt: Willst mal sehn, wo die Kornblumen blühn? Oder irgendwelche Hasen einfangen, da draußen aufm Feld, im Roggenfeld?

Ich hab irgendwie gemerkt, das juckt da jetzt irgendwie, und das war ’n sehr interessantes Jucken. Dann hab ich erst mal gesagt, juckt das bei dir auch so komisch? Was kann man dagegen tun? Laß mal gucken, laß uns mal – einen Hasen einfangen. Ja, und dann sind wir ins Feld gegangen, und da war kein Hase. Dann mußten wir ja irgendwas anderes machen, und da haben wir eben gescheckt,was mit der Juckerei nun so los wäre.

Steve: Zur Musik: Nach der tragischen Fred-Bertelmann-Zeit bist du ja wohl auf Jazz gekommen?

Udo: Ja, über meinen Bruder Erich. Der hat damals Jazz-Platten mit nach Hause gebracht. Ich hab Fred Bertelmann gehört, Chris Howland, oder „Herr Sanders öffnet seinen Schallplattenschrank“ und so. Meinem Bruder war das alles zu „primitiv“, und er sagte: „Mußt mal anhören: Harmonisch, rhythmisch sind die Jazzer doch eigentlich viel interessanter.“

Steve: Was für Jazz hat dein Bruder, oder wahrscheinlich seine Clique, gehört?

Udo: Ja, das war Benny Goodman zum Beispiel. Chris Barber gab’s damals auch. Glenn Miller. Ja, eben all die Klassiker. Weiß nich, Muddy Waters und so, kennst ja wahrscheinlich, alles dabei. Na ja, ich hab mich hauptsächlich für die Trommelmeister interessiert. Gene Krupa war für mich damals total der Größte.

Steve: Hast du noch andere Trommelvorbilder von damals in Erinnerung? Cozy Cole, Louis Bellson?

Udo: Ja klar, die hab ich auch gehört.

Steve: Wen noch?

Udo: Du, das weiß ich nich mehr, hab ich wieder vergessen. Big Bill Broonzy hieb ein Bluessänger. Und dann halt ich auch ’n „Jazzkeller'“. Mein Bruder hat den mit eingerichtet, und da hatten wir ’n kleinen Plattenspieler. Und zwar war das hinten bei uns im Hühnergarten, hinter der Großhandlung. Den „Keller“ gibt’s auch heute noch, da war ich vor ’n paar Monaten noch mal, da steht immer noch dran: „Jazzclub Gronau“ und ,“Hot Jazz“ und „Bar“ und „Diele“. So ’n Lagerraum war das. Die Hühner warn nebenan, und die gackerten dann immer, wenn sie die Hotten Rhythmen…

Steve: Als Kinder habt ihr euch Höhlen gebaut, im Pappkarton, wo ihr eure ersten, von der Erwachsenenwelt abgetrennten Erfahrungen gemacht habt. Später dann diesen „Jazzkeller“. Was warn da für Leute beteiligt? Was habt ihr da gemacht?

Udo: Das warn meine Freunde Clemens und Kalle, und Jack… Das warn so meine besten Kumpels damals, an die ich mich am stärksten erinnere. Da ham wir gesessen und ham immer so Fotos ausgeschnitten, aus der „Hör zu“, und ham die an die Wand geklebt: „Caterina Valente, hat ’n Arsch wie ’ne Ente“ und so. Und da hingen wir dann rum und ham uns überlegt, was machen wir jetzt?

Steve: Die Band. Die Musikkarriere. Wie ging das los?

Udo: Mein Bruder hat mich zu dieser Band mitgenommen, zu dieser „Border-Town-Jazzband“ im ,,Schützenhof“ in Gronau. Ich war elf. Erstmals sah ich ein richtiges Schlagzeug. Und ich hab zu meinem Bruder gesagt: Ich möchte unheimlich gerne mal ein Stück mittrommeln, einfach so. Und er kannte die Jungs von der Band, die so in seinem Alter waren, weiß nicht, zwanzig, neunzehn, achtzehn. Er hat die Jungs gefragt. Ich hab getrommelt, einfach so, obwohl ich vorher noch nie an einem Schlagzeug gesessen hatte, und es gefiel den Leuten irgendwie sehr. Ham gesagt, „Naturtalent“ und so, und „Is alles klar“. Und: ,,Da wir sowieso ’nen Schlagzeuger brauchen…“ (Der, der das Schlagzeug spielte, wollte lieber Banjo spielen, und da wurde der Schlagzeugjob frei). Und dann ham sie gedacht, das is ’n unheimlicher Gag, so ’n Frischling in kurzen Hosen, den werden wir jetzt einfach mal engagieren. Und dann war ich immer dabei. Die spielten am Wochenende, so ein-, zweimal die Woche. So wie andere Leute zum Kegelclub gingen. Ja, und dann bin ich da eben eingestiegen. Allerdings immer nur bis zehn, dann mußte ich nach Hause. Und dann hatten sie noch so ’n Ersatztrommler, einen für die Nacht. Da war ich immer sehr sauer, wenn der kam. Ich hätte so gern ’n bißchen länger getrommelt, aber das ging ja nun nicht. Meine Eltern meinten: „Also, für so ’n Zwölfjährigen geht das einfach nicht an, daß er nachts da immer rumtrommelt. Und nachher trinkt er auch noch Bier!“ Und ich kriegte immer Schokolade, wenn die andern Bier kriegten. Was ich überhaupt nicht in Ordnung fand. Ich hätte auch lieber gern mal ’n Bier getrunken. Die Band löste sich dann aber irgendwann auf. Da ich Kapellmeisterambitionen hatte, hab ich dann so mit dreizehn die „Dixi Devils“ gegründet. Das war ’ne Schülerkapelle. Die warn alle in meinem Alter, und dann ham wir auch ’n richtigen Jazzclub gegründet. In so’m Jugendheim hatten wir ’n Raum, und da hatten wir einmal die Woche das große Treffen. Das lief sehr „ordentlich“ ab, mit Clubbuch und so. War so ’n städtisches Jugendheim. Den Laden ham wir uns ’n bißchen eingerichtet, so dekoriert, irgendwie ganz schön, und dann ham wir auch selber Veranstaltungen gemacht, Jazz-Band-Balls, sonntags nachmittags, im „Parkhaus Gronau“.

Steve: Ihr habt damals Dixieland-Musik gemacht?

Udo: Ja.

Steve: Damals gab’s diese erste „Rock’n’Roll-Welle“. Wieviel hast du davon mitgekriegt?

Udo: Also in Gronau sah das so aus, daß die Rock’n‘ Roller Mopeds hatten und Fuchsschwänze dran und Lederjacken auch und unheimlich böse warn und so aussahen, als hätten sie ganz viele Messer in der Tasche. Die wirkten irgendwie ziemlich gefährlich. Wir ham uns da rausgehalten.

Steve: Inwiefern warn die Rock’n’Roller böse?

Udo: Die warn wahrscheinlich auch älter. Ich glaub, das war ’n Altersding. Die sagten auch immer, du kriegst was in die Fresse und so. Und da ham wir gesagt, halten wir uns lieber raus, das ist zu gefährlich.

Steve: Gab’s soziale Unterschiede zwischen den damaligen Rock’n’Rollern und euch?

Udo: Warn mehr so die „Proleten“. Während wir ja mehr aus der Bürgerecke waren. Das machte schon so ’n gewissen Unterschied. Und Jazz war damals etwas Vornehmeres, mit ‚m höheren Anspruch. Rock’n’Roll war ’ne Sache, die sehr unter der Hand lief. Da gab’s mal im Radio ’n Elvis oder so, und das klang unheimlich gefährlich und nach Aufruhr. Ganz wild. Das klang nach ‚m ganz anderen Leben was mich unheimlich interessierte. Aber die Auswirkung des Rock’n’Roll in Gronau, als ich so dreizehn war, war eher: „So was Böses“.

Steve: Ist eure Jazzbegeisterung damals voll akzeptiert worden von den Erwachsenen?

Udo: Ja, das mochten die. Meine Eltern mochten das, meine Mutter stand zum Beispiel unheimlich auf Dixieland.

Steve: Und die Eltern der Mädchen? In den Jahren…

Udo: Ja, also denen ging’s weniger um die Musik, denen ging’s mehr um die Gefährdung des Jungfernhäutchens.

Steve: Du hast irgendwann mal ’n Preis gewonnen als Dixietrommler… Wann? Wo?

Udo: Ich glaub, da war ich dreizehn, in Osnabrück war das, Nordwestdeutsches Jazz-Jamboree. Da hab ich den ersten Preis gemacht. Hm. Also ich war irgendwie so ’n Naturtalent, oder so was. Ich hab das auch gar nicht analysiert, ich hab einfach nur losgetrommelt. Und das war vielleicht gar nicht so schlecht. Es gibt leider überhaupt keine Aufnahmen aus der Zeit.

Steve: Auch nicht irgendwelche total verschrammten Bänder?

Udo: Ja, ich weiß nicht, womöglich gibt es was, aber ich weiß nicht, wer die hat. Irgendwann muß ich mal… Das würde mich auch mal interessieren.

Steve: Hat sich die Jazzerei ausgewirkt auf die Schule?

Udo: Ja. Ich hab an der Schule überhaupt keine Interesse mehr gehabt. Schule war mir total scheißegal.