Unterwegs mit Helge Schneider


Seit vier Jahren ist gehobener Schwachsinn in Deutschland salonfähig. Verantwortlich für - den Boom des beinharten Blödsinns ist Helge Schneider. Exklusiv für ME/Sounds verbrachte Sebastian Schmidt zwei Tage an der Seite des Katzenliebhabers aus Mülheim a.d. Ruhr. Hier sein ergreifender Erlebnisbericht

Die Zeichen stehen von Anfang an auf Chaos. Als ich im Hotel ‚Fürstenhof‘ eintreffe, fehlt von oo-Schneider zunächst einmal jede Spur. Der stets topmodisch gekleidete Helge, so teilt man mir kurz mit, befinde sich auf einem ausgedehnten Spaziergang durch die Weltstadt Reutlingen, die ihm heute abend als musikalisches Asyl dienen soll. Mein erstes Zusammentreffen mit dem Künstler muß also warten. Ich pilgere daher zum Ort des heutigen Auftritts und mache es mir gerade leidlich in den leeren Stuhlreihen bequem, als Schneider plötzlich erscheint, um — von seinem Sauerstoffbad gestärkt — sofort in das Geschehen einzugreifen. Spätestens beim Soundcheck wird klar, daß bei Helge Schneider und seiner Band nicht nur die Uhren anders gehen: Wenn üblicherweise das Programm vor der Tour bereits feststeht und der Soundcheck nur noch zur Anpassung der Beschallungsanlage an die jeweilige Hallenakustik dient, trifft bei Herrn Schneider eher der Begriff ‚Probe‘ des Pudels Kern. Neue Songpassagen werden einstudiert und Abfolge wie Inhalt der Show aufs neue festgelegt. Der Meister geizt dabei nicht mit Kritik: „Peter, ich weiß, daß Du diesen Part eigentlich nicht so spielen kannst, wie ich mir das vorstelle — Dir fehlt einfach das Einfühlungsvermögen —, aber versuch‘ es doch wenigstens!“ Schlagzeuger Peter gibt sein Bestes, doch als nach etlichen Anläufen keine Besserung in Sicht ist, läßt man den Song eben weg. So läuft die Chose bei Schneider und Konsorten. Ohne sich an Konventionen zu halten, setzt Helge seine Vorstellungen durch und schafft dabei immer wieder die Gratwanderung zwischen den eigenen, sehr konkreten Ideen und dem Freiraum für die Spielfreude seiner Kapelle. So ist „der Boß“, wie ihn seine Musiker fast schon liebevoll nennen, immer in Bewegung und kontrolliert den Klang in der Halle ebenso wie das Lautstärkenverhältnis zwischen den einzelnen Instrumenten. Nebenbei wird dann auch durchaus mal ein bißchen gejammt, und Helge höchstselbst begleitet Organist Buddy Casino auf dem Schlagzeug.

Obwohl er eben noch locker die Drumsticks schwingt (und ich mich schon auf eine entspannte Fotosession freue), krampft Deutschlands Blödelikone — wer hätte es vermutet? — schon beim bloßen Anblick einer Kamera. Wenn’s ums Knipsen geht, ist bei dem im Grunde introvertierten Musiker Schluß mit lustig. „Wieso die Brille abnehmen“, knödelt er im schneidereigenen Idiom, „das scheint ja ein Sport der Fotografen zu sein, zu versuchen, mich ohne Brille abzulichten.“ Und doch: Trotz dieser und anderer Widrigkeiten klappt es schließlich irgendwie, den „Mann mit der besonderen Mode“ auf Zelluloid zu bannen. Danach ist gemeinsames Abendessen im Backstagebereich angesagt, wobei Steak und Bohnen auf dem Teller des Meisters jedoch kalt werden. Der vielgefragte Schneider nämlich absolviert zwischen den Bissen eines dieser lästigen Telefoninterviews. Die Geschäftstüchtigkeit des Musikers Helge mag hierbei verwundern, zumal er immer wieder beteuert, mit Journalisten weniger als nichts am Hut zu haben. Dennoch läßt er in sagenhafter Häufigkeit Interviews über sich ergehen, so daß der Eindruck entsteht, unser Helge habe ein Faible für Masochistisches.

Wie dem auch sei — der Moment der Wahrheit eilt mit großen Schritten heran, und ein Pulk von Reutlingern vor der Halle gibt ersten Aufschluß über die Beliebtheit des musizierenden Komikers in dieser Region. Je näher die Show heranrückt, desto nervöser wird Helge. In hektischer Betriebsamkeit zieht er immer enger werdende Kreise, so daß ich mir in diesen Momenten, so kurz vor dem Auftritt, sämtliche Fragen an den Chef verbiete. Ob es Lampenfieber ist oder nur die totale Konzentration, die Helge S. aus M. da plagt, bleibt letztlich ungewiß. Von jemandem verstanden zu werden, darauf legt Schneider ohnehin keinen allzu großen Wert. Warum er kurz vor der Show separate Backstage-Räume braucht und sich auf keinen Fall in der Nähe der Bühne und des Publikums aufhalten will, bleibt sein Geheimnis. Dann ist es soweit: Vorhang auf für Blödelei vom Besten. Das Publikum in der mit 1400 Besuchern restlos ausverkauften ‚Listhalle‘ rastet schon beim bloßen Anblick des Mannes mit den 1000 Grimassen aus, so daß es Helge nicht sonderlich schwerfällt, mit seinen völlig aus der Luft gegriffenen Erzählungen die Freude der Fans ins Furiose zu steigern. Jede noch so unbedeutende Nebensächlichkeit erscheint erzählenswert, und wenn Schneider die Anekdoten mal ausgehen, müssen eben die Fotografen als „blödes Pack“ herhalten, um dann verjagt zu werden. Auch für einen längeren Monolog über das bereitgestellte Wasser ist sich der Comedy-König nicht zu schade. Nach einer knappen Stunde wird dem Publikum eine Verschnaufpause für Zwerchfell und Gehirn gegönnt. Aber nur für kurze Zeit herrscht Ruhe, dann ist er wieder da, der Mann, dem die Sprüche selten ausgehen, und der blitzschnell neue Situationen erfaßt, um sie ebensoschnell in seinem Programm umzusetzen. Nach weiteren 90 Minuten ist nicht nur Helge Schneider fertig, auch seine Fans stoßen an die Grenzen ihres Aufnahmevermögens. Und so geht der eine oder andere mit dem Gefühl nach Hause, daß es doch besser ist, „den Schneider auf Platte zu hören — da kann man abschalten, wenn es einem reicht“, gesteht ein mit Helge-Shirt bekleideter Fan und zieht grinsend an einem Faden, der den. gerade erworbenen Helge-Hampelmann aus Pappe Arme und Beine in die Luft werfen läßt. Erfährt der Künstler von Kritik an seiner Show, läßt ihn das nur müde lächeln: „Man kann es nicht allen recht machen, und wer mich nicht ertragen kann, der muß es halt lassen.“ Apropos ertragen: Um das stressige Tourleben 120 Konzerte lang überstehen zu können, relaxt die Band abends gerne noch in einer Kneipe. Und so landet man auch an diesem Abend in Reutlingen in einem Cafe, dessen Besitzer zwar den Herrn Schneider kennt, aber kein Mitleid mit dem hungrigen Entertainer kennt. Folgerichtig kriegt Helge hier auch nichts zwischen die Zähne. Witzbold der Nation hin oder her, bleibt nur noch der Weg zu einer bekannten amerikanischen Fast-Food-Kette, in der Hoffnung, das Mahl möge ihm nicht den wohlverdienten Schlaf rauben. Am nächsten Mittag: Doc Schneider ist nach einem guten Frühstück wieder top in Form und gibt in der Hotellobby dem Personal Autogramme auf aktuelle Konzertberichte vom gestrigen Abend. Kurz darauf setzt sich der Schneider-Troß in Richtung Ulm in Bewegung, wobei der Frontmann von seinem Chauffeur und Bühnenassistenten Michael Tönnis gefahren wird. Die Band, nach Rauchern und Nichtrauchern getrennt, verteilt sich auf zwei Kleinbusse, die natürlich von ihr selbst gefahren werden. Auf der ca. 100 Kilometer langen Strecke wird dann über die verschiedenen musikalischen Stile gefachsimpelt und um den besten Trompeter oder Saxophonisten gestritten. Dabei bestätigen Helges Mitstreiter, daß es nicht immer einfach ist, dem übermütigen Improvisationstalent des Meisters zu folgen. Andererseits werden dadurch die Auftritte für die Band spannender, und so bestätigen die Musiker auch dem Reutlinger Gig eine ungewöhnliche Spontaneität. Demgegenüber gilt Schach als offizieller Bandsport; vom Manager bis zum Tontechniker stellt man sich dem Kampf zwischen weißen und schwarzen Figuren. Besonders in den Pausen der Konzerte gibt man sich dem Spiel hin — das entspannt so schön.

In Ulm angekommen, ist erst mal bis 16 Uhr Freizeit angesagt, und Helge erkundet mit Schlagzeuger Peter und Saxophonist Herrn Schneider, der in den jeweiligen Städten stets neue Details entdeckt. Wenn sie ihm interessant erscheinen, baut der genaue Beobachter sie in seine Show ein. So hat es Helge sichtlich Sergey Gleitmann die Stadt. Wie sollte es auch anders sein? Prompt verschlägt es sie in eine Musikalienhandlung, in der man ein Mundstück für sein Blasinstrument sucht oder, in Helges Fall, ein paar Drumsticks ersteht. Es folgt der obligatorische Spaziergang des fasziniert, daß man in Schwaben ein Eis „schlortzt“ und nicht schleckt. Nach der Entdeckungsreise geht’s zum Soundcheck in die ‚Donauhalle‘ zu Ulm. Die Tatsache, daß es dabei wieder zu einer Grundsatzdiskussion über die Programmgestaltung kommt, wundert hier niemanden mehr. Insgesamt aber verläuft der Tag im Grunde entspannt. Schon nach kurzer Zeit steht die aktuelle Abfolge der Songs, und die Musiker trennen sich, um diversen Beschäftigungen nachzugehen. Die einen schlagen sich in die Sauna des Hotels, die anderen legen eine kleine Übungsstunde auf ihrem Instrument ein, oder — richtig geraten – sie spielen Schach. Beim Essen sind dann alle wieder zusammen und Familienoberhaupt Schneider zieht seine Kreise durch den Raum, immer auf der Suche nach einem Opfer, das er auf den Arm nehmen kann. So wird die durch Herpes angeschwollene Lippe eines Bandmitglieds als optischer Leckerbissen gelobt:

„Du siehst fantastisch aus. Das solltest Du häufiger tragen.“ Oder aber jenes Holzstäbchen zum Umrühren von Helges Kaffee wird mit den Worten „Ha, erobert“ schwungvoll in die Nudeln eines Unschuldigen gerammt. So legt Schneider ständig einen gewissen Witz an den Tag, ohne dabei direkt blöd zu wirken — ein Talent, das nicht jedem gegeben ist. Auf der anderen Seite geht Helge bisweilen mit erstaunlich viel Ernst zur Sache. Den Titel „Boß“ jedenfalls trägt der 40jährige ganz sicher nicht zu Unrecht. Allerdings: Helges plötzliche Anfälle von Herrschsucht vergehen ebensoschnell wie sie kommen. Doch zurück zum heutigen Auftritt. Der Zeitpunkt der Show rückt näher, und die Musiker werfen sich in ihre todschicken blauen Anzüge mit den Hochwasserhosen, während Helge in seinem pistazienfarbenem Einteiler mit Schlag aussieht, als sei er gerade eben einem Film aus den 60er Jahren entsprungen. Auf dem Weg zur Bühne werden noch einmal letzte Absprachen getroffen. Und dann ist es soweit: Ein weiterer Abend mit Helge Schneider, auf den jeder in Halle so sehnlich gewartet hat. Deutschlands beliebtester Blödler kann sich seines Erfolges sicher sein. Gleich beim ersten Ton brechen die 2200 Besucher in euphorische Helge-Rufe aus. Dann kommt er, durch einen Seiteneingang der Bühne, das Gesicht zu einer seiner berühmten Grimassen verzerrt, mit knödelnder Stimme und einem saublöden Spruch auf den Lippen. Eben ganz genau so, wie man ihn liebt, den Helge.