Wer hören will, muss fühlen


Mit Biophilia kündigt Björk das Ende des Albums an, wie wir es kennen. Ihre App revolutioniert die Popmusik. Die Zukunft als Sturm der Bilder.

Alles auf Anfang. Es ist 2011! Wir sollten uns nicht sentimental an der Vergangenheit festklammern, sondern sagen: Okay, nehmt es nicht persönlich, aber welches dieser Dinge, die wir verwenden, funktioniert und welches nicht? Gehen wir es noch einmal von vorn an!“ Wer außer Björk könnte solchen Rationalisierungsjargon aus der Managerfibel wie eine künstlerische Strategie klingen lassen? Und wer außer ihr würde daraus dieselben, fantastisch absurden Schlüsse ziehen?

Ein Rundgang um die unter dem Glasdach einer viktorianischen Markthalle aufgestellte Bühne vor der Live-Premiere ihrer neuen Biophilia-Show in Manchester zeigt, was Björk in ihrer Welt für ersetzbar und was sie für notwendig hält: Anstelle der eingesparten Band steht da ein Laptop, ein Mischpult und der seit ihrer letzten Tour obligate, elektronische Klangbaukasten namens ReacTable. Gegenüber davon der gut verkabelte Arbeitsplatz des Schlagzeugers und virtuosen Hang-Trommlers Manu Delago. Den Rest der Bühne säumt eine Galerie bizarrer, vom Computer gesteuerter, aber großteils mechanisch betriebener Instrumente – von der automatisierten Orgel bis zum sogenannten „Sharpsichord“, bestehend aus dem Eisenrahmen eines Spinetts, einer gigantischen Spieluhrwalze, der Tastatur eines Harmoniums und zwei großen Tontrichtern aus Stahl mit Solarkollektoren oben drauf.

Noch irrwitziger, die „Schwerkraftharfe“: zwei drei Meter hohe Holzschafotte, an denen jeweils zwei rundum mit Harfensaiten bespannte Pendelarme hängen, die im Vorbeischwingen die an den Schafotten befestigten Plektren streifen. In einem Käfig von der Decke baumelt eine zum Abfeuern brutzeliger Basslines gedachte Teslaspule. Jede dieser unfassbar aufwendigen Maschinen wird jeweils nur bei einem einzigen Song zum Einsatz kommen. So viel zu Björks eigenwilligen Vorstellungen davon, was „funktioniert“. Und sie hat recht. Die Campfield Hall mit ihrer schmiedeeisernen Deckenkonstruktion und schwarz übermalten Dachfenstern versprüht dank des wundersamen Maschinenparks die fantastisch-anachronistische Magie eines Filmsets von Tim Burton.

Ein Auftritt in einer Zauberwelt. Nach einleitenden, esoterischen Worten des britischen Fernsehbiologen Sir David Attenborough schwebt sie schließlich heran, die mit einer schulterbreiten Lockenperücke bekrönte Björk in Begleitung eines bloßfüßig neben ihr einhertrippelnden, 24-köpfigen isländischen Mädchenchors.

„Brilliant woman!“, ruft eine Frau aus dem Publikum. Was folgt, hat allerdings nur wenig Bezüge auf jene Musik, die Björk seit ihrem internationalen Durchbruch mit den aus der isländischen Punk-Szene hervorgegangenen Sugarcubes Ende der Achtziger als exzentrisch-feministische Heldinnenfigur der Popwelt etabliert hat. Über die kommenden zwei Stunden wird sie zwar da und dort aus dem zigmillionenfach verkauften Katalog ihrer fast zwei Dekaden langen Solokarriere schöpfen – etwa in von mächtigen Chor-Arrangements getragenen Versionen von „Isobel“, „All Is Full Of Love“ oder „Declare Independence“. Aber selbst diese kleinen Konzessionen an die Erwartungen des Publikums ordnen sich soundmäßig ganz der Ästhetik des neuen Materials aus Biophilia unter.

Es ist tatsächlich Björks schiere Autorität als „brillante Frau“, die 1 800 Leute dazu bringt, sich geduldig einer Performance auszusetzen, die über weite Strecken mehr mit sogenannter zeitgenössischer Musik als irgendeinem erkennbaren Begriff von Pop zu tun hat. Die Bildschirme über der Bühne zeigen Grafiken der Apps, die zu jedem Song des neuen Albums entworfen wurden und einen interaktiven Umgang mit der Musik ermöglichen sollen, dann wieder Ausschnitte aus einem nie fertiggestellten, mit Michel Gondry für National Geographic gedrehten 3-D-Film samt Seesternen, die im Zeitraffer über den Meeresboden laufen. Und danach Darstellungen von DNS-Strängen, die sich zu belebten Bildern formieren. „Trunk of DNA“, singt Björk. „Trunk!“, antwortet der Mädchenchor, während die DNS auf dem Bildschirm ein menschliches Antlitz im Stil der manieristischen Früchte-Porträts Arcimboldos bildet. Als Björk in ihrer typischen, gleichzeitig wissenden und naiven Atemlosigkeit auch noch die Permutationen des Proteins beschreibt, kippt die lehrreiche Darbietung beinahe in den Bereich der Selbstparodie. Eine animierte Illustration der Formation der Kontinente erinnert an schulische Versuche, den Erdkundeunterricht sexy zu machen, ganz zu schweigen von Attenboroughs eingespielten, salbungsvollen Zwischenansagen wie: „Cosmogony. Music of the spheres. Equilibrium.“ Im Nachhinein mag das wie Spinal Tap klingen, doch im Moment seiner – auf Björks Anweisung übrigens nicht mitgefilmten – Aufführung verleiht die blanke organisierte Perfektion dieser ungewöhnlichen Show selbst ihren prätentiösesten Exzessen noch etwas Heroisches.

Drei Wochen nach dem Spektakel von Manchester treffen wir Björk in einem Hotel im Londoner Nobelviertel Little Venice, unweit ihrer gelegentlichen englischen Residenz – für gewöhnlich pendelt sie zwischen Island und der New Yorker Heimat ihres Lebensgefährten Matthew Barney. Diesmal trägt sie eine Perücke aus roter Wolle, einen altrosa Seidenkimono mit ausladenden Ärmeln und elfenbeinfarbenem Kragen, darunter weiße Strumpfhosen. Auf dem Tischchen vor ihr steht eine Schale, aus der sie eine exotische Nuss nach der anderen pickt, während sie unaufhaltsam die weitverzweigte Botschaft von Biophilia auseinandersetzt. Immer wieder kommt sie dabei auf das in ihrer Vision nebst der Biologie zumindest gleichwertige Thema der Musikpädagogik zurück: „Als Kind ging ich mit fünf Jahren in die Musikschule, und sie trainierten uns von Anfang an darauf hin, irgendwann einmal in einem Symphonieorchester zu spielen. Was ist das für eine Einstellung? 90 Prozent der Leute, die auf eine Musikschule gegangen sind, halten sich für Versager, weil sie dieses Ideal nicht erfüllen konnten. Dabei haben Kinder im Alter zwischen fünf und sieben Jahren ganz besondere Fähigkeiten. Jede Zeichnung ist ein Meisterwerk, sie lernen Sprachen, lernen zu schreiben und zu lesen, alles fällt ihnen leicht. Warum sollten wir sie nicht auch mit Musiklehre spielen lassen?“

Björk gibt zu, dass ihr künstlerisches Interesse am Unterrichten viel mit ihrer eigenen achtjährigen Tochter Isadora zu tun hat: „Ich habe meine Gedanken darüber verarbeitet, welche musikalische Erziehung ich ihr vermitteln will. Alles, was es da gibt, ist so absurd akademisch. So als könnte man tanzen lernen, indem man fünf Bücher darüber gelesen hat. So kann das nichts werden. Man muss es tun! Ich selbst habe begonnen, meine eigenen Melodien zu erfinden, als ich als Kind zur Schule gegangen bin. Das war ein 40-minütiger Fußweg, bei jedem Wetter. Ich bin die Straße entlanggegangen und habe dabei vor mich hin gesungen. Heute schreibe ich meine Melodien noch immer auf dieselbe Weise. Ich hätte längst lernen können, Gitarre oder Klavier zu spielen, aber dann wären meine Songs jetzt wahrscheinlich so wie die von allen anderen. Und diese Art Musik zu machen, hat für mich etwas Langweiliges und Stagnierendes an sich.“

Dabei lässt die leidenschaftliche Autodidaktin Björk als Mutter allerdings auch die Klassiker nicht zu kurz kommen. Ganz im Gegenteil: In ihrer eigenen Kindheit habe sie ganz früh Rimski-Korsakow, Beethoven und Bach gehört, und geschadet hat es ihr offenbar nicht: „Die Kinder verstehen das vollkommen, wenn man sich auf ihre Ebene begibt. Sie sind fortgeschrittener, als man denkt“, sagt Björk und singt spontan die erste Zeile des alten Kinder-Techno-Hits von Aqua „Barbie Girl“: „Natürlich mögen sie so was. Aber ein Stück wie, Peter und der Wolf‘ ist von der Struktur her schließlich auch kein Popsong, und trotzdem steigen sie darauf ein. Was ich damit sagen will, ist: Kinder sind nicht dumm.“

Was man allerdings auch beim erwachsenen Teil ihres Publikums voraussetzen kann, der sich von Björks selbst verliehenem Bildungsauftrag unter Umständen doch befremdet fühlen könnte. Auch Erwachsene könnten aus Biophilia lernen, meint sie aber: „Und abgesehen davon, soll man sich dieses Album auch noch in zehn Jahren einfach nur als gute Musik anhören können, ohne zu wissen, dass es ein pädagogisches Projekt ist, das aus Apps besteht.“

Apropos Apps: Vor unserem Interview hat Björks Assistent James uns auf seinem iPad, dem dabei, wie es sich gehört, die Batterie ausging, eine praktische Demonstration jener revolutionären neuen Form des Musikkonsums angedeihen lassen. Was Björks Team beim Presseempfang in Manchester vollmundig mit der Erfindung von Oper und Spielfilm gleichgesetzt hatte, entpuppt sich in der Realität als eine recht charmante Spielerei. Zu den Klängen von „Crystalline“ Kristalle zu sammeln oder alternative Partituren zu manipulieren, das hat schon was. Es lenkt aber auch von der Musik selbst ab, schon überhaupt, wenn jene – von allen Bässen befreit – aus dem kleinen Lautsprecher eines iPads, oder noch schlimmer, eines iPhones hervorpiepst.

Doch das Fühlen scheint in der Genese von Biophilia mindestens genauso wichtig gewesen zu sein wie das Hören: „Ich mache elektronische Musik nun schon seit 1993, und die Achillesferse dieser Musik war immer, dass man keine spontanen, impulsiven Entscheidungen treffen kann“, erklärt Björk. „Plötzlich geht das. Man kann taktil damit umgehen. Auf meiner letzten Tour hatten wir einen sogenannten Lemur mit, den Dinosaurier der Touchscreens, und dieses Instrument namens ReacTable, das wir immer noch verwenden. Damit hat alles angefangen. Das Projekt durchlief seither verschiedene Stadien, die nicht realisiert wurden, aber es endete schließlich wieder als Touchscreen-Projekt auf dem iPad. Das ist kein Zufall, aber es war auch nicht geplant.“

Zwischen der angesprochenen letzten Tour zu ihrem 2007 erschienenen Volta-Album und heute liegt, insbesondere aus isländischer Perspektive, eine Ewigkeit. Björk war gerade (unter anderem mit ihrer Benefiz-Single „Nattura“) als Gegnerin der Ausbeutung ihrer Heimatinsel durch die globale Aluminiumgewinnung umweltschützerisch tätig, als sich das isländische Wirtschaftswunder durch den Bankencrash 2008 jäh zum Desaster wendete.

„Wir sind vier Monate lang kreuz und quer durch das Land gefahren, hatten Konferenzen abgehalten, uns als Umweltschützer engagiert. Mein letztes Projekt hatte sehr viel damit zu tun, mich auf den Stuhl zu stellen und mich zu beschweren. ‚Declare Independence! Ich will Gerechtigkeit!‘ Das hatte ich nun hinter mir. Diesmal wollte ich Lösungen anbieten. Ich habe also der Regierung ein Manifest überreicht, eine ganze Kiste voller Lösungen. Zum Beispiel, dass Arbeitslose ihre eigene Firma gründen können. Dass wir Jobs schaffen können, ohne Aluminium zu schmelzen.“

Aus dem Umweltschutz-Aktivismus ergab sich eine Art musikalisches Sozialprojekt: „Ich habe selbst vier Brüder und Schwestern, die zwischen 1970 und 1977 geboren wurden. Sie hatten gerade Häuser gekauft, Familien gegründet und stehen jetzt vor dem Bankrott.“ Björk wollte eine der leer stehenden Büroruinen der Boomjahre in ein klingendes Haus umwandeln, das „eine Musikschule mit Touchscreens“ beherbergen sollte, „wo in jedem Raum ein Song zu Hause ist“. Aus diesen wohltätigen Ambitionen wurde dann allerdings ebenso wenig Konkretes wie aus erwähntem, geplantem 3-D-Naturfilm mit Michel Gondry. Was blieb, war die immer noch reichlich versponnene Idee, das Format des Albums als eine Sammlung von Apps neu zu erfinden.

Böse Zungen unken, ein für die Künstlerin attraktives Feature der Apps sei nicht zuletzt der geschlossene Markt des App-Stores, in dem sie gehandelt werden. Ist Biophilia bei all seinen hochfliegenden Ambitionen von sechswöchigen Gastspielen in acht verschiedenen Städten samt pädagogischen Seminaren für Kinder am Ende doch nur ein Versuch, in Zeiten des unkontrollierbaren digitalen Musikkonsums eine sichere Einkommensquelle zu erschließen?

Björk winkt ab: „Uns ist schon vor zwei Jahren das Budget ausgegangen. Die Leute, die die Apps konstruiert haben, haben umsonst gearbeitet, und wir teilen uns die Kosten und die Einnahmen halbe-halbe. Wenn Sie nun sagen: ‚Björk ist eine schlaue Geschäftsfrau, CDs verkaufen lohnt sich nicht mehr, also macht sie Apps.‘ Hand aufs Herz, das ist nicht wahr. Sehen Sie sich die lange Reise an, die dieses Projekt zurückgelegt hat: Vom Bankencrash bis zum Erscheinen des iPads … Ich hätte nie das Skript dafür schreiben können, das ist unmöglich.“

Sie knackt noch eine Nuss und zerschmettert den Mythos von der verstiegenen Elfenfigur: „Verglichen mit dem Bankencrash in Island sind die Probleme der Musikindustrie ein Witz. Zu Punk-Zeiten haben wir unsere Plakate selber gemacht, uns das Auto von den Eltern geborgt und Platten selber ausgeliefert. Do It Yourself halt! Industrie kommt, Industrie geht. Das ändert nichts dran, was ich tue.“