Wiedersehen mit Andreas


Die Haustür war nur angelehnt. Ich öffnete sie und gelangte in einen schmutzigen Gang, dessen Wände mit bunten Postern beklebt waren. Ich lief ein paar Schritte weiter und fand eine Treppe, die zum oberen Stockwerk führte. Die Stufen knarrten, obwohl ich versuchte, keine Geräusche zu machen. Alles war genau so, wie Thomas es mir beschrieben hatte. Ich befand mich auf einem langen Korridor, der zu vier verschiedenen Türen führte. Ich fand keinen Lichtschalter und wusste nicht, wo Thomas Zimmer war.

Wahllos klopfte ich an die Tür, die mir am nächsten war, doch niemand antwortete. Ich öffnete sie und gelangte in ein winziges Zimmer, das im Halbdunkel lag. Die Vorhänge waren noch zugezogen, obwohl es schon später Nachmittag war. In der Mitte des Raumes befand sich eine breite Matratze und auf der Matratze entdeckte ich eine Gestalt, die unter einem Stapel Decken lag und zu schlafen schien. Ich erschrak und wollte das Zimmer verlassen, stiess aber mit dem Fuss gegen einen Hocker, der krachend zu Boden fiel. Die Decken bewegten sich und ein Junge starrte mich an.

„“He, was willst du“, sagte er mürrisch und gähnte. Dann zog er mit der einen Hand die Gardinen zur Seite.

„Ich suche meinen Freund“, sagte ich, stockte und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Er war kein Zweifel möglich. Das war Andreas. Oder täuschte ich mich? Ich wischte mir mit der Hand über die Augen, aber der Schein trog nicht. Es war Andreas. In diesem Moment schien auch er mich zu erkennen. Er stand auf, kam auf mich zu und lachte.

„“Was ist die Welt doch klein“, murmelte er. Ich war verwirrt und keiner Antwort fähig. „

„Setz‘ Dich“, sagte er und ich nahm neben ihm auf der Matratze Platz. Ausser der Matratze befanden sich keinerlei Möbel in dem Zimmer. Einige Kleidungsstücke lagen auf dem Boden, in der Ecke stand ein Plattenspieler.

Er hatte sich verändert. Nicht viel war von dem Andy übriggeblieben, den ich so gern gehabt hatte. Sein Gesicht war schmal geworden und seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz.

Wir waren zusammen aufgewachsen, wohnten ihm gleichen Haus. Unsere Eltern waren Nachbarn. Ich kannte nur ihn, er war mein erster Freund. Später lernte er ein anderes Mädchen kennen, zog aus und trampte mit ihr durch die Gegend.

Er sah, dass ich einen Koffer bei mir hatte.

„“Du willst hier wohnen?“ Ich nickte.

Er lächelte. „“Nun, dies ist ein offenes Haus, besser gesagt: eine Kommune …“ Ich antwortete nicht.

„“Du bist erwachsen geworden“, sagte er nachdenklich.

„“Thomas wartet auf mich“, ich stand auf.

„Dann lass‘ ihn nicht warten“, antwortete er und legte sich wieder auf die Matratze.

Thomas

Thomas wartete schon auf mich. Er sass auf der Fensterbank, rauchte und liess seine langen Beine baumeln.

„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, sagte er, rutschte von der Fenster, bank und zeigte mir mein Zimmer. Es war nicht besonders hübsch, sehr kahl, aber es war gross und sehr hell. Ich setzte mich auf das Bett, zog eine Packung Zigaretten aus des Tasche und zündete mir eine an.

„Ein irrer Typ“, sagte Thomas eines Tages und meinte damit Andreas. Wir sassen in meinem Zimmer, tranken Whisky und spielten die neusten LP’s. Zufällig war unser Gespräch auf Andreas gekommen und ich merkte jetzt, dass Thomas Andy nicht mochte. „

„Der liegt nur den ganzen Tag auf seiner Matratze und hascht“, sagte er. „Wenn der so weitermacht, dann ist er in einem halben Jahr fertig“.

Ich stellte fest, dass sich Andreas und Thomas äusserlich unheimlich glichen. Gefiel mit Thomas darum so gut? Ich konnte mir keine Antwort darauf geben.

„“Wie lange wohnt er schon hier?“ fragte ich.

„Keine Ahnung, vielleicht acht oder neun Monate. Irgendsoein Typ hat ihn eines Tages mitgebracht und ihn hier einquartiert. Er hat das kleinste und dreckigste Zimmer, braucht dafür aber nur ein paar Mark monatlich zu zahlen . ..“ Draussen war es stockdunkel und ich sah aus dem Fenster. Ich hörte Thomas Stimme aber seine Worte drangen nicht mehr zu mir durch.

„He, du träumst ja“, Thomas stiess mich an und ich stellte fest, dass ich noch immer aus dem Fenster starrte. Ich nahm einen Schluck von meinem Whisky. Er war scharf und brannte in meiner Kehle. Tränen stiegen mir in die Augen …

Etwas war echt

Ich konnte mir mein Verhalten nicht erklären. Die Vergangenheit liess mir keine Ruhe, immer öfter musste ich an Andreas denken. Manchmal ertappte ich mich sogar dabei, dass ich viele Male auf dem Korridor hin und her lief, in der Hoffnung, ihm zu begegnen. Doch wir trafen uns nie.

Thomas spürte bald, dass ich mich verändert hatte, ich konnte ihm nichts vormachen, wollte es auch nicht mehr. „Du musst versuchen, mich zu verstehen“ sagte ich und wusste, dass meine Worte leer und ohne Bedeutung waren. Ich wartete auf etwas was nicht kam und meine Worte waren nichts als ein Mittel, sich über dieses Warten hinwegzutäuschen.

„“Liebst du ihn“, fragte er. „

„Ich weiss nicht“, sagte ich. Er strich sich mit der Hand über die Augen, eine vertraute Geste und plötzlich hatte ich den Wunsch, ihm die Arme um den Hals zu legen, ihn zu trösten, ihm zu sagen, dass ich gelogen habe. Aber ich rührte mich nicht. Später fand ich mich vor Andys Zimmertür wieder und ohne Zögern trat ich ein. Er sass auf seiner Matratze, rauchte und wühlte in einem Stapel Langspielplatten. Ich setzte mich neben ihn. Er wirkte müde, schlaff und abgespannt. „

„Wie geht es Thomas“, sagte er. „

„Mit Thomas ist es aus“, antwortete ich. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Dann bleibst du jetzt bei mir“, murmelte er. Ich antwortete nicht. „“Warum hast du nie etwas von dir hören lassen“, sagte ich schliesslich und vermied, ihn anzusehen. „

„Ich wollte nicht, dass du dich an mich bindest“ antwortete er und öffnete kurz die Augen. Ich wusste, es war nicht fair von mir, ihm jetzt Vorwürfe zu machen, er hatte zu wenig Energie, sich zu verteidigen. Er zog mich zu sich heran und legte seinen Kopf in meinen Schoss. Ich rührte mich nicht. „

„Jetzt lass‘ ich dich nicht mehr los“, flüsterte er. „Etwas zwischen uns ist echt, nicht wahr?“ „“

Ja“, sagte ich und sprach so sanft wie möglich. „“Etwas zwischen uns ist echt“. Ich hatte das Verlangen, mich an ihn zu lehnen und an nichts zu denken. Andreas war nicht mehr Andreas, und auch ich hatte mich verändert. Ich war wirklich erwachsen geworden. Ich fühlte nichts mehr und plötzlich tat er mir leid. Als er eingeschlafen war, stand ich vorsichtig auf. Ich sah ihn noch einmal an und fühlte, dass dieser Abschied endgültig sein würde.

Die Nacht war schwarz

Ich packte meinen Koffer und verliess das Haus. Die Tür war nur angelehnt, wie immer. Die Nacht war schwarz, es regnete ein wenig. Ich wusste nicht wohin und lief ziellos durch die Strassen. Autos fuhren an mir vorüber, die Häuser lagen in tiefem Schlummer. Ich wusste, spätestens in zwei Monaten würde ich Andreas vergessen haben, es war besser so. Ich fand den Bahnhof und wartete auf den nächsten Zug. Irgendwo schlug eine Uhr elf mal…