Die heißesten Newcomer 2015: Schnipo Schranke – die hiesige Indie-Sensation des Jahres


Sackhaar und Love: So nah wie beim Riot-Pop von Schnipo Schranke waren sich Pop, Provokation und Kraftausdruck in Deutschland schon lange nicht mehr.

Es bedarf wenig Weitsicht geschweige denn prophetischer Qualitäten, um für 2015 einen weitreichenden Aufmerksamkeits-Boost für das Duo Schnipo Schranke zu prognostizieren. Eher scheint es vergleichbar damit, wenn man beim Sport auf den Führenden setzt. Viel spannender ist da schon: Wie konnte es angehen, dass sich Fritzi Ernst und Daniela Reis ohne jeglichen Tonträger, ja bis dato noch ohne Label (nicht mehr lange allerdings) so nachhaltig auf alle Zettel und Blogs eingeschrieben haben?

Die Antwort lautet – mit Verlaub: „Pisse“. Das Stück fand sich als Rausschmeißer auf dem diesjährigen erweiterten Labelsampler (aha, doch ein Tonträger!) der Geschmackspower-Klitschen Staatsakt und Euphorie. In dem Song zündet das lyrische Ich aus Bock und Verzweiflung seine Fürze an, hält das Handy des Verflossenen zwischen den Arschbacken. Vergebens, der haut trotzdem ab. Ein trauriges, ernsthaft verstörendes Liebeslied. Eins, das sich was scheißt um zugedachte Frauenrollen in Pop. Kein sphärisches Indie-Gegniedel zu Elektro oder Geigen, keine epilierte Charts-Sexyness. Eher Nina Hagen ohne Dachschaden und Jesus – und als hätte sexualisierter 90er-Jahre-Battle-Rap aus Deutschland auch eine weibliche Entsprechung besessen. Tja, da drehen sich Kool Savas und Prinz Porno im Puff rum vor Gram. Herrlich!

Kurzum: Bei Schnipo Schranke handelt es sich um eine obszön-originelle Mischung aus körperlichem Chanson und offensivem HipHop-Sprech – irgendwo zwischen smartem Konzept und angetrunkener Art brut (die Kunstrichtung, nicht die Band). Kein Wunder, dass dieser Ansatz und der dazugehörige Ohrwurm ihnen im letzten halben Jahr eine Schneise durch den ADHS-Wust der Popkultur geschlagen haben, Siege in etlichen Jahrescharts inklusive. Zwei Frauen, die von Scheiße, Pisse, Kotze, Sackhaar und Love singen, die sich abwechseln an Gesang, Schlagzeug und Keyboard – das fällt auf.

Erst recht, nachdem YouTube in seiner Prüderie ihren sehr konkret visualisierten „Pisse“-Clip löschte. Da scheint es nur noch ein Ornament zu sein, dass sie live stets uniformiert auftreten – in der Uniform der FDJ wohlgemerkt. Dabei sind die beiden voll Wessi, trafen sich in Frankfurt an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, lebten in WG und Sünde mit Teilen der „Titanic“-Redaktion und zogen dann gemeinsam nach Hamburg.

Hier nun entsteht die erste Platte, erscheinen soll sie im August. Und wenn das geschieht, wird nicht nur die Hysterie der Checker gewaltig sein, denn auch für Feuilleton und Mainstream ist hier viel drin – und sei es bloß Voyeurismus. Schnipo Schranke werden in jedem Fall die hiesige Indie-Sensation des Jahres.

Ein bisschen wie: Petting mit einem betrunkenen Filmstar

Gar nicht wie: einem der Musiker-Alltag in der Pop-Akademie geschildert wird

Dieser und alle weiteren Artikel über die Newcomer dieses Jahres sind in der Februar-Ausgabe des Musikexpress erschienen.