Die wilde Zeit :: Regisseur: Oliver Assayas

Something in the Air: Der erste Film, der sich anfühlt wie 1971.

Was die großen Regisseure unserer Zeit auszeichnet, ist ihr intrinsisches Gespür für den Einsatz von Rock und Pop. Die Filme von Fincher, Soderbergh, Refn, Winterbottom, Audiard, Linklater – alle nicht vorstellbar ohne ihre Musik, die tief in ihrer DNS verwoben ist und einen ebenso großen Stellenwert einnimmt wie die visuelle Gestaltung oder die Führung der Darsteller. Und natürlich Olivier Assayas, der einen mit jeder neuen Arbeit wieder daran erinnert, dass er zu den Ausnahmetalenten des internationalen Kinos zählt. Der dornige Kammerfolk der Incredible String Band in „Summer Hours“ oder der Turbo-Boost der Dead Boys, wenn die Terroristen in „Carlos“ das Gaspedal durchtreten: Assayas’ Filme zeichnen sich aus durch die exquisite Auswahl und den perfekten Einsatz ihrer Musik – es sind Filme eines Mannes, der den Pop verstanden hat. Aber so weit wie in „Die wilde Zeit“ ist der 57-jährige Franzose noch nie gegangen: Der ganze Film ist erfüllt vom Klang und Duft der frühen Siebzigerjahre, aber eben nicht der Seventies wie aus der Oldie-Hitparade, hundert Prozent kamellenfrei, sondern mit handverlesenen Tracks, die dem Lebensgefühl der Gegenkultur Ausdruck geben.

Der Film spielt nach der Revolution der Studenten im Jahr 1971 und handelt von einem 16-Jährigen und seinen Freunden, die versuchen, die Fesseln des Elternhauses abzuschütteln und einzulösen, was die 68er versprochen hatten. In einer frühen Szene des Films stöbert der Protagonist durch seine Sammlung – Amazing Blondel, Nick Drake, Soft Machine – und legt schließlich zielstrebig eine Platte von Syd Barrett auf. Einerseits ein Verweis auf eine vergleichbare Szene in Cameron Crowes „Almost Famous“, anderseits eine Absichtserklärung: „Die wilde Zeit“ ist ein zutiefst persönlicher, autobiografischer Film, unaufgeregt strukturiert wie ein Entwicklungsroman, der die innere und äußere Reise seines Helden verfolgt und festhält, was sein Leben prägt: Gewaltsamer Widerstand, freie Liebe, Drogen, Kommunenleben, Esoterik werden undidaktisch verhandelt. Assayas macht nachvollziehbar, wie sich die Zeit wohl angefühlt haben mag. Er lässt nicht die zermürbenden politischen Debatten aus, die jeden Aufbruch und jede utopische Hoffnung ersticken. Und er zeigt, wie ein Junge, der kurz zuvor noch in Italien hautnah miterlebt, wie das Kino seinen Beitrag zur politischen Erziehung der Arbeiterklasse leisten kann, schließlich in London landet, wo er als Assistent bei einem schäbigen B-Film zwar seine Ideale begräbt, aber doch seine künftige Bestimmung findet. Groß. (Kinostart: 30. Mai 2013)

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