20 Jahre „Dirty“ von Sonic Youth: die Schmerz-Schritt- Macher


Heute vor 20 Jahren erschien "Dirty" von Sonic Youth. Aus unserem Archiv: eine Report über die Band. Plus: die zehn besten Sonic-Youth-Alben

Die Ungerechtigkeit der Welt sollte eigentlich — folgt man normalen Verhaltensmustern — Sonic Youths liebstes Gesprächsthema im Jahre 1992 sein. Die, die es immer schon wußten, erinnern sich: Letztes Jahr tourten die New Yorker mit ihrem ersten Major-Album „Goo“ durch Europa, im Vorprogramm präsentierten sie ihrem Publikum ein zottiges Trio aus Seattle. Sein Name: Nirvana. Ein halbes Jahr später dudelte deren Musik aus jeder Box bei Hertie, Abteilung „Junge Mode“ zwar, aber man weiß ja, was das heißt. Kim Gordon, kühl blonde Bassistin bei Sonic Youth, und nicht nur von amerikanischen Fachmedien liebevoll „Godmother Of Grunge“ genannt, sondern nebenbei auch noch unerreichtes Rollenmodell für alle Frauen im harten Männerrock, grinst: Ja, mittlerweile hat jeder seine eigene Anekdote zum Phänomen Nirvana. „Neulich sah ich einen Penner in New York, der hing in der Gosse und trällerte „Smells Like Teen Spirit'“. Merkmale eines Massenphänomens.

Millionen verkaufter Platten verdanken Cobain & Co. natürlich nicht dem Sonic Youth-Publikum. Wohl aber einem Plattenvertrag beim Major-Label Geffen, der zum Zeitpunkt jener gemeinsamen Tour längst unterzeichnet war, sogar „Nevermind“ tobte damals schon in der Schublade. Die Unterhändler im überraschenden Megageschäft: Sonic Youth. Als erste Band aus dem alternativen Rockbereich bei Geffen untergekommen, öffneten sie ihren heute berühmten Freunden dort Tür und Bankkonto. Spielten Sonic Youth heute mit Nirvana im Paket würden sie soviel Leute erreichen wie fast niemals zuvor. Doch die altgedienten Avantgarde-Rocker aus New York, die mittlerweile schon seit über zehn Jahren Hörgewohnheiten strapazieren und in der Heldenliste jeder lauten Gitarrenkombo stehen, wurden nicht umsonst vom US-amerikanischen Magazin „Entertainment Weekly“ zur „coolsten Rock-Band“ des Landes gekürt. Cobains Plattenmillionen entlocken Thurston Moore, Kim Gordon, Lee Ranaldo und Steve Shelley nur ein müdes Achselzucken. „Wir spielen schon so lange, ohne damit reich zu werden. Der Weg ist das Interessante, nicht das Ziel. Wir glauben nicht an den Schatz am Ende des Regenbogens, das ist eine sehr amerikanische Art des Denkens. Erfolg ist uns egal, deswegen hatten wir auch nie Konkurrenzgefühle gegenüber anderen Bands. “ Moore, Kims Angetrauter, fabuliert derart gelassen bis gelangweilt über seine Bandphilosophie, daß man ihm nur glauben kann.

Einen mittelgroßen Stolperstein haben sie sich dennoch selbst in den Weg gelegt. In einer Zeit, zu der Branchenseminare auf New Yorks „New Music Seminar“ „A & R after Nirvana“ heißen, muß sich jede Veröffentlichung aus dem Gitarren-Untergrund an „Nevermind“ messen. Diese Marktmechanismen machen auch vor den Urvätern Sonic Youth und ihrem zweiten Major-Album „Dirty“ nicht halt. Doch die Band hat offensichtlich kollektiv einen Kurs zum Thema „Positiv denken“ belegt, der manchmal sogar ihren Ostküstenzynismus blokiert. „Nirvanas Erfolg war für uns nur gut, “ resümiert Kim. „Sie sind jetzt bei Geffen für den Untergrundpop zuständig. So konnten wir bei dem neuen Album machen, was wir wollten. Und jetzt weiß die Firma wenigstens definitiv, daß wir mit Nirvana musikalisch kaum was zu tun haben. „

Ohne Zweifel, „Dirty“ ist etwa so Teenie-tauglich wie Habermas gesammelte Werke, und bringt doch die hypersensitive Gratwanderung der New Yorker zwischen sperriger Avantgarde und gängigen Rock „n‘ Roll-Mechanismen auf den Punkt. Zur Zufriedenheit aller Beteiligten: „Die angenehmste Produktion seit unserem Debüt.“ Daran sind wiederum zwei Namen schuld, die ebenfalls seit dem Nirvana-Wunder in aller Munde sind. Zum ersten Mal in ihrer vorbildlich unabhängigen Laufbahn haben Sonic Youth die Regler aus der Hand gegeben. Produktion und Mix von „Dirty“ übernahmen Butch Vig und Andy Wallace, überaus begehrt seit ihrer Arbeit an…? Nirvana’s „Nevermind“! „Gut, wir geben’s zu, wir wollten doch genauso klingen. Nein, im Ernst, wir kennen die beiden schon lange, und es war klar, daß wir irgendwann mit ihnen arbeiten würden, —spätestens seit Andys Mix von Slayers ,Reign In Blood‘. Diese Kraft wollte ich in unserer Musik haben, weil sie dort immer etwas fehlte.“ Operation gelungen, Patient lebt.

Das Dasein im Untergrund ist für Sonic Youth nach wie vor das beste Biotop, und entdeckt werden sie dort nicht nur von jugendlichen Nachahmern. Letztes Jahr tourten sie auf ausdrücklichen Wunsch des Meisters auch mit Neil Young. Und nur der Anregung eines Thurston Moore hat die Welt Youngs Lärmattacken auf „Ark“, der Beigabe seines Live-Albums „Weld“, zu verdanken. A propos „Rockin‘ In A Free world“ — wie war der Live-Ausflug vom Untergrund an die Oberfläche?

Kim kühl: „Seltsam. All-Hippies, Rednecks, Sekretärinnen, alle standen sie da und suchten nach ihrer Vergangenheit. Bei uns natürlich vergebens. Das hat uns fast zu Tränen gerührt. „

 

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