Achim Reichel zeigt Hamburg


Vor mehr als 20 Jahren stand er im "Star Club" erstmals auf der Bühne. "The Rattles", Deutschlands erste Beatband mit internationaler Berufung, liefen damals selbst den Pilzköpfen aus Liverpool den Rang ab. Auch wenn er mit seiner Musik heute etwas langsamer tritt, auch wenn er inzwischen den Kiez gegen ländlichen Kuhduft vertauscht hat: Als Reiseführer durch Hamburg kam eigentlich nur er in Frage.

Treffpunkt Hafentreppe, achtuhrdreißig. Der Künstler, der bereits eine Stunde wartet -— man hat in der Nacht die Uhren umgestellt, und keiner hat’s ihm gesagt -— entsorgt zunächst sein Automobil. Eine Kiste leerer Flaschen wandert in einen Container. Bei ihm, auf dem Land, wo er seit sechs Jahren lebt, gibt’s solche Dinger nicht.

Erster Anlaufpunkt ist „Fick“ am Fischmarkt, denn mit Bernie Fick war Achim, der mal Kellner gelernt hat, in der Berufsschule. In der Kaschemme, in der Holsten-Edel flaschenweise ausgeschenkt wird (Merke: Hölsten knallt am dollsten), steppt der Bär. Bein- und leberharte Alkis lauschen einem Akkordeonspieler, der immer wieder gern gehörte Zoten zum Besten gibt.

Nur Bernie ist nicht zu sehen. Achim wendet sich vertrauensvoll an den einzigen Kellner, der alle Hände voll zu tun hat, die Suffköppe mit Bölkstoff zu versorgen. Auf die Frage, wo denn der Herr des Hauses sei. antwortet der von einer Säufer-Paranoia schwer Verfolgte barsch:

„Der Bernie hat’s nicht mehr nötig, sich mit Vollidioten abzugeben!“

Wo er recht hat, hat er recht.

Wir sind schon auf dem Weg zur Tür, als sich ein Typ aus der Trinkerschar meldet: „He, du bist doch der Achim? Ich schreib’gerade an einem Drehbuch über die sechziger Jahre. Ich ruf dich mal an, denn für mich singst du irgendwie wie ein Mann.“

Welche Rolle Achim in dem Drehbuch zugedacht ist, erfahren wir nicht mehr, denn wir müssen weiter. Der traditionelle allsonntägliche Fischmarkt, der um 9.30 Uhr seine Pforten schließen muß, ruft.

Wie man es ihm aufgetragen hat, testet Achim —- wenn’s auch bei den zigtausend Besuchern ziemlich schwerfällt —- das Angebot. Hier begutachtet er ein Kaninchen, da prüft er einen Aal, und von den Meerschweinchen ist Haus- und Hofbesitzer Reichel echt schwer zu trennen. Doch dann gemahnt eine sonore Stimme, daß nun mit dem Sonntagschlußverkauf Schluß sei, und die Aale- und Bananen-Dealer gebärden sich noch einmal ganz wild und verkaufen alles zu Vor-Währungsreform-Preisen oder verschenken’s gar.

Wir nehmen nichts mit: weder eine Trage Trauben zu DM 15.—, noch eine Palme zu DM 20.—. Statt dessen zieht es uns in die nahegelegene Gerhardstraße. Hier hat sich der zugereiste Großkünstler Jörg Immendorf mit der Kneipe „La Paloma“ ein zweites Standbein geschaffen, denn Kunst wird auf dem Hamburger Kiez seit jeher nur mäßig konsumiert, dafür wird aber um so mehr gesoffen.

Doch hier säuft früh um elf keiner, und selbst der von Immendorf geschaffene, wie mit der Trennscheibe aus dem Berg gesägte Hans Albers, der unlängst vor geladener hanseatischer Pfeffersack-Prominenz vom Maestro persönlich enthüllt wurde, vermag niemanden in dies Etablissement zu locken. Achim findet das Kunstwerk gerade“.ziemlich kantig“, als zu unserem Glück Freund Pico auf einem Moped. 20 saubere Teller im Gepäckkörbchen, um die Ecke biegt.

Pico, müßt Ihr wissen, war früher das Faktotum im „Star-Club“, ein Mensch, der Donald Duck stimmlich nachahmen und das Publikum bei den traurigsten Kapellen zum Lachen bewegen konnte. Heute bedient er als mobiler Gastronom das liegende Gewerbe.

Nach einer überschwenglichen

Begrüßungszeremonie -— „Mensch Achim, du hier?“/ „Pico, altes Haus, wie geht’s?“ —- entscheidet der Mopedfahrer, daß Achim und Anhang unbedingt in das Haus sechs der Herbertstraße müssen. Hier nämlich wirkt seit Jahren Betty, eine ehemalige Barfrau des „Star-Clubs“. Als einstiger Superstar (Rattles) und späterer Mitbesitzer dieses legendären Clubs, weiß Achim diese Einladung durchaus zu schätzen. Wir also hinein in die weltberühmte Meile der Sünde; die Fotografin und die Dame von der Plattenfirma müssen leider vor den Herbertstraßen-Barrikaden warten, denn auf feminine Besucher hagelt’s im „Red-Light-District“ seitens der Anschaffenden stets gefüllte Pisspötte.

Betty, inzwischen ziemlich füllig geworden, versieht im Haus sechs den Job einer Wirtschafterin; der Normalbürger würde Puffmutter dazu sagen. Doch trotz ihrer diffizilen Arbeit ist sie sofort für uns da, läßt Sekt- Abrechnungen von Zimmer sieben und neun liegen, kocht einen garantiert koffeinfreien Kaffee und drückt Achim an ihren mächtigen Busen.

Um uns herum herrscht Stoßverkehr. Michelle – Straps soweit das Auge reicht – —bestellt einen Piccolo für ihren Freier, Jane (oder Janine) ordert einen Tee.

Und natürlich werden sofort die glorreichen Star-Club-Zeiten beschworen. Betty weiß zu berichten, daß King Size Taylor hin und wieder mal vorbeischaut, der Bassist von den Londoners „ziemlich fertig“ ist.

Pico nagelt Achim noch auf einen Termin fest: In einer Woche wird der Star-Club mit einer großen Beerdigungsshow unter der Anwesenheit von viel ehemaliger Prominenz des Hauses feierlich abgerissen. (Nach dem Niedergang des traditionsreichen Beat-Schuppens hatte sich hier ein Sex-Club etabliert, der im letzten Jahr dummerweise den Flammen zum Opfer fiel. Hat da wer was von „warmer Abriß“ gemurmelt?) Nach einem etwa einstündigen Gedankenaustausch, der immer wieder von halbnackt vorbeihuschenden Wesen angenehm unterbrochen wird, heißt es aufzubrechen.

Unsere vor den Herbertstraße-Sichtblenden wartenden Damen sind schon mehr als sauer. Nicht nur haben sie sich 60 Minuten lang die Beine in den Leib gestanden, ein Irrer hat sie obendrein noch aus dem zweiten Stock mit leeren Weinflaschen bombardiert.

Eine kurze Entschuldigungs- und Verschnaufpause, und dann entscheidet unser „He lücht“ (so nennt man in Hamburg die Fremdenführer oder Tourist Guides; und dreimal dürft ihr raten, warum), daß er einen Bärenhunger hat. Frühstück ist angesagt. Und wo frühstückt man in der Freien und Hansestadt besser als im „Schöne Aussichten“, einem im zentral gelegenen Park „Planten un‘ Blomen“ angesiedelten Szene-Treff?

Leider Szene-Treff, denn der Laden, in dem sich allabendlich verspätete Popper und betuchte Bürgerssöhnchen die-Klinke in die Hand geben, ist rappelvoll. Neidvoll blicken wir noch auf mampfende Mitmenschen und das opulente Büffet, als unser Hamburg-Kenner schon das „LichtTest* in der Rothenbaumchaussee als Alternative parat hat. Ein guter Tip, denn hier werden wir standesgemäß von der einstigen Gemahlin des großen Barden Roy Black empfangen.

Das Kneipen/Bar/Cafe/Restaurant, das erst vor wenigen Tagen eröffnet wurde, verblüfft vor allem optisch. Da spaltet eine Axt eine Tür, der Reißverschluß einer gigantischen Hose öffnet sich, und in einem Fenster kann man bewundern, wie spießig es hier früher mal ausgesehen hat.

Das Frühstück ist passabel. Der Kaffee ist — im Gegensatz zu Bettys Gebräu — tatsächlich koffeinhaltig und der Käse lecker. Nur die Brötchen machen einem zu schaffen. Sie stammen aus der Tiefkühltruhe, und der Mikrowellenherd hat wohl die tückische Eisbildung im Inneren des Backwerks nicht restlos beseitigen können.

So gestärkt, empfiehlt Achim einen Abstecher zu „A-Mad“ in den Eppendorfer Weg. Just for Fun und nur für uns hat nämlich der überaus freundliche Ahmad die Pforten seines Klamotten- und Schnick-Schnack-Schatzkästleins geöffnet. Achim entdeckt ein Paar knallrote Lackschuhe — „Dazu brauch ich aber noch rote Hosenträger“ — und einen schrillen Blouson. Die Bühnengarderobe für die im November beginnende Ostasien-Tournee — das Goethe-Institut hat geladen — will mit Bedacht gewählt sein.

Kurz darauf meldet sich der erste Schmacht auf ein Bier, was liegt näher, als das vier Häuser weit entfernte „Schotthost* anzusteuern? Hier bekämpfen Frühschöppner den Nachdurst und späte Frühstücker den alarmierenden Hunger. Plü, der Herr des Hauses, sieht’s mit Wohlgefallen.

Weiter geht’s, die Pflicht ruft. Durch (Gott sei Dank, leere) von der Sonne herbstlich-freundlich illuminierte Straßen fahren wir in die Koppel zum „After Midnight“, Untertitel: „Hamburgs erstes Musiker-Hotel“. Geleitet von der freundlichen Hausherrin Julietta, inspiziert Achim das Haus, denn auf seiner Deutschland-Tour muß er ja seine Begleitband unterbringen.

Das Etablissement, in dem aus der ersten Liga abgestiegene und aus der zweiten Liga aufsteigende Musiker nächtigen, gefällt rundum. Und nicht einmal das bissige Kaninchen, das im Spiel-, Frühstücks- und Aufenthaltsraum ein ängstliches Meerschweinchen bewacht, weiß den positiven Gesamteindruck zu trüben.

Um den mittäglich einsetzenden Hunger zu bekämpfen, hat sich Elfie, die rührige Dame von Achims Plattenfirma, ein regelrechtes Schau-Essen ausgedacht. Sie hat nämlich einen Tisch bei „Paolino* in der Alsterkrugehaussee bestellt. Hier jedenfalls speist Hinz (die Schauspielerfamilie sitzt beinahe komplett am Nebentisch) und Kunze (wenn Freund Heinz-Rudolf mal wieder in der Stadt ist.) Daß der Chef den unstillbaren Drang besitzt, sich mit einer Zigarre Marke „AI Capone“ bei jedweder vermeintlicher Prominenz an den Tisch zu zwängen, geht ja noch, aber daß er die eilends geknipsten Ergebnisse dieses Tuns statt Photos von leckeren „Tagliatelle“ und „Involtini“ auf die Speisekarte drucken läßt, schmälert den ohnehin mittelmäßigen Genuß der Speisen gewaltig. Verständlich, daß Achim sich diesen Herrn beim Anblick des Menüs „paniert und auf dem Rost gegrillt“ wünscht. Doch Paolino tut ihm den Gefallen nicht, läßt sich aber statt dessen mit dem Künstler ablichten …

Nach diesem Essen ist allemal noch Platz für ein Stück Kuchen, und selbiges bekommt man tau- und ofenfrisch im „Cafe Eibterrassen* in der Eibchaussee. An das Publikum — uralte, aus Othmarschen und Blankenese stammende Freaks und viel zu spät in die Federn gekommene Nachtschwärmer — muß man sich gewöhnen, doch der Blick über die tief unten schmutzig dahinfließende Elbe und der Kaffee samt köstlichen hausgemachtem Kuchens entschädigen hinreichend für solch‘ Unbill.

Wir gönnen uns ein kleines Verschnaufpäuschen, bevor es auf die zu testende Tanz- und Trinker-Piste geht. Nach einem kräftigenden Imbiß bei einem Türken am Steindamm, der leider noch keinen Namen hat, stürzen wir uns kopfüber ins Nachtleben.

Warmgetrunken wird sich in der „Bar du Nord* in der Dorotheenstraße. Ein niedlicher, knopfäugiger Mixer schüttelt uns einen hervorragenden Whisky Sour und einen, die Leber bedrohenden, Mai Tai. — Wir müssen schnell gehen, denn mehr davon wäre garantiert von Übel.

Hinein ins „Madhose*, einer am Valentinskamp gelegenen Discothek, oder besser gesagt: der Discothek! Hier hat wirklich jede Musikrichrung stattgefunden, ob Rock ’n‘ Roll,

Blues, Heavy Metal, Soul, Disco, Funk, Pop oder Scratch. Klein ist er zwar, der Laden, doch hier ist —- zumindest auf dem Plattenteller -— Musikgeschichte geschrieben worden.

Der Künstler dreht ein, zwei inspirierte Runden, nicht ohne von ein paar wesentlich jüngeren Schönheiten mit glänzenden Augen dabei beobachtet zu werden, und dann nötigt ihn sein Reporter bereits zum Szenenwechsel. Die „Old Fashion Bar“ im Eppendorfer Weg muß unbedingt noch einem eingehenden Test unterzogen werden, denn hier wirkt schließlich kein Geringerer als Maestro Achim Eberhard, der Chef der „Deutschen Barmixer Union“.

Wir genehmigen uns zunächst einen „Zombie“, ein auf Rum basierendes Gesöff, das seinem Namen wirklich alle Ehre macht. Doch ein „Flyer“, gemixt aus Champagner und Tequila, bringt alles wieder ins richtige Lot, und derart gestärkt fliegen wir zum „Gala“ am Mittelweg.

Leider ist die In-Disco aber so voll, daß wir kaum durch die Türe kommen. Und da der Künstler das Tanzen auf offener Straße — zumindest heute — entschieden ablehnt, sind wir erneut gezwungen, die Szene zu wechseln.

Achim steht nun vor der schwierigen Entscheidung: ins „SamBrasil“ in die Silbersackstraße oder ins „Tropical Brasil“ am Spielbudenplatz?

Da es in dem einen wie auch dem anderen phantastische Soca-, Salsaund Samba-Musik zu hören und südamerikanische Drinks zu trinken gibt, entscheidet der Künstler sich salomonisch für einen Besuch beider Etablissements. Schon sind wir also wieder auf dem Kiez, wo unsere Rundreise vor vielen, vielen Stunden begonnen hatte.

Aber die feurigen Klänge im „Sam-Brasil“ und im „Tropical Brasil“ peppen Herrn Reichel dermaßen auf, daß es ihn noch nach dem Besuch des „Luxor“ in der Max Brauer Allee gelüstet.

Hier, wo sich die gehobene „Waver“-Szene allabendlich im passenden Ambiente ein Stelldichein gibt, zieht Achim ein Fazit unseres langen Ausflugs durch die Freie und Hansestadt: „War ziemlich anstrengend und ’nen Haufen Geld hat’s auch gekostet. Aber es ist halt der Versuch eines inzwischen ortsfremden Künstlers, auf diese Weise am Milieu teilzuhaben. „

Ziemlich müde kann ich ihm nur noch bestätigen, daß ihm der Versuch auf hervorragende Weise gelungen ist. Herr Reichel, mögen Sie wohlbehalten aus dem fernen Asien zurückkehren!