Alanis Morissette: Die Do-it-yourself-Frau


Seit der Initialzündung von "Jagged Little Pill begibt sich Alanis Morissette zunehmend auf die Suche nach sich selbst. Als eine der erfolgreichsten Musikerinnen aller Zeiten hat sich die Kanadierin nun erlaubt, alle guten Ratschläge zu ignorieren, um ihre neue Platte "Under Rug Swept" komplett im Alleingang aufzunehmen.

Nein, verprügeln würde Alanis Morissette niemanden, beruhigt sie den ME lachend, und tough sei sie auch nicht wirklich. Ein bisschen „bestimmt“ höchstens, lind doch: Der schlaffe Händedruck, mit dem sie Journalist für Journalist in ihre New Yorker Hotel-Suite führt, täuscht. Als Morissette im Dezember über ihr neues Album „Under Rug Swept“ spricht, hat sie nicht nur ihre alte Band rausgeworfen, ihren Produzenten in die Wüste geschickt und die uneingeschränkte Souveränität in allen künstlerischen Fragen durchgesetzt – sie hat vor allem auch einen neuen, besseren Vertrag in der Tasche. Lind das, obwohl Maverick Records der Kanadierin im letzten lahr die Anwälte auf den Hals gehetzt hatte, um all dies zu verhindern. „Einige der Verträge, die Piattenfirmen mit ihren Künstlern haben, sind einfach archaisch“, meint sie schulterzuckend, „da wollte ich genauen Einblick haben. Ich musste ein bisschen extrem werden und klarstellen, dass ich ohne mit der Wimper zu zucken auch zu einer anderen Firma wechseln würde.“ Und da man einer 27-Jährigen, die im Laufe ihrer kurzen Karriere weltweit bereits über 40 Millionen Platten verkauft hat, nicht einfach die Türe weist, saß das Major-Label in diesem Fall ausnahmsweise nicht am längeren Hebel. Mavericks Juristen haben in den zahllosen Meetings lediglich eines erreicht: dass das Album auf Grund der Streitereien zum Ärger der Fans über Monate verschoben wurde. Auf die Frage aber, wie viele ihrer Ziele Morissette im letzten Jahr durchsetzen konnte, antwortet sie unbeschwert mit zwei Worten: „Oh, alle!“

Kein Wunder, dass die Beziehungen zwischen Morissette und Maverick heute belastet sind. Die Plattenfirma, die von Madonna und Warner Music gemeinsam geleitet wird, hat über die letzten zwei Jahre Verluste von etwa 60 Millionen Dollar erwirtschaftet. Sechs Top-Manager mussten kürzlich das Label verlassen, das nun mehr denn je darauf angewiesen ist, mit „Under Rug Swept“ Erfolg zu haben. Analysiert man aber den professionellen Werdegang von Morissette, dann wird schnell klar, dass das künstlerische Selbstbestimmungsrecht, das die Kanadierin mit beeindruckender Dickköpfigkeit durchgesetzt hat, in ihrer Situation niemandem dient: Seit die junge Künstlerin 1997 begonnen hat, eigene Entscheidungen zu treffen, befindet sie sich in einem kommerziellen Sturzflug, wie ihn das Business sonst meist nur von entmündigten Retorten-Popstars kennt. Während „Jagged Little Pill“ dank Promi-Songschreiber Glen Ballard als eines der erfolgreichsten Debüts aller Zeiten allein in den LISA mehr als 15 Millionen Anhänger fand, verkaufte sich der weitaus eigensinnigere Nachfolger „Supposed Former Infatuation Junkie“ dort nur noch rund drei Millionen Mal. Verständlich also, dass bei Maverick vor gut einem Jahr der Notstand ausgerufen wurde, als Alanis verkündete, sie werde ihr drittes Album „Under Rug Swept“ nun komplett im Alleingang aufnehmen.

Madonna – so vermeldete die Presse – habe in ihrer Eigenschaft als Maverick-Chefin damals eigens Proben für die „Drowned“ -Welttournee abgesagt, um Alanis zur Vernunft zu bringen. Ein Gerücht, wie sich herausstellt: „Gar nichts hat sie abgesagt“, stellt Alanis erstmals klar und klingt dabei ein bisschen eingeschnappt. „Mit Madonna habe ich nie gesprochen. Ich hab sie das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen.“

Der Haussegen scheint schief zu hängen, seit sich die hoffnungsvolle Rock-Newcomerin in eine omnipräsente und bisweilen arg narzisstische Selbstdarstellerin verwandelt hat: „Ich glaube, dass die bei Maverick nie wirklich meine Entwicklung verstanden haben. Ich war ihnen immer ein Mysterium, und das haben sie auch zugegeben“, sagt sie leise. Für einen stillen Augenblick verliert sie sich in einer traurigen Erinnerung, bis sie sich mit einem Ruck entschließt, wieder gut Wetter zu machen. „Aber jetzt ist ja alles in Ordnung. Warner Brothers betreut mich, und in den letzten Wochen hab ich scheißviel mehr Unterstützung gespürt als die sieben lahre davor“, sagt sie, legt den Kopf schief und lässt ein Lächeln erstrahlen, das alle Fäkalsprache vergessen macht. Ob alles in Ordnung ist, werden die nächsten Monate zeigen. Die Vorzeichen, unter denen „Under Rug Swept“ entstanden ist, sind jedenfalls alles andere als gut.

„Es war extrem schwer für mich, ständig beide Gehirnhälften zu nutzen“, stöhnt Morissette. „Ich hatte siebenstündige Business-Meetings und musste danach noch ins Studio, um kreativ zu arbeiten.“ Das Team von Maverick, das nicht bereit war, die Aussagen seiner Künstlerin für diesen Artikel zu kommentieren, versuchte laut Morissette immer wieder, Produzenten ins Studio zu schleusen. Womöglich auch, um die Künstlerin zu entlasten? „Mit einem Produzenten zu komponieren war für mich nie eine Option“, winkt Morissette ab, „denn mir war mit dieser Platte die Erfahrung wichtig, alles ganz alleine zu machen.“ Vor Beginn der Aufnahmen hat sie sich zusätzlich von ihren langjährigen Bandkollegen getrennt, die angeblich trotzdem noch „wie eine Familie“ für sie sind. Drei davon haben jetzt Sub.Bionic! gegründet und sprechen auf der neuen Website musikalische Empfehlungen aus. Darunter finden sich Fiona Apple und Macy Gray, ihre ehemalige Auftraggeberin sucht man vergeblich.

Auch Cleri Ballard, der über die letzten 18 Jahre unzählige Künstler von Dave Matthews über No Doubt bis hin zu Michael Jackson beim Songwriting unterstützte, hatte keinen Platz mehr im Leben von Morissette. Dabei dürfte der Kalifornier 1995 auf die Entstehung von „Jagged Little Pill einen Einfluss gehabt haben, der kaum überschätzt werden kann. „Er hat für mich die Rolle eines Puffers übernommen. Er hat sich um die Welt da draußen gekümmert, und ich konnte mich einfach in der Ecke verstecken und schreiben“, sagt Morissette. Ballard dagegen wählte deutlich andere Worte, als er dem amerikanischen „Keyboard“-Magazin den Arbeitsprozess schilderte: „Ich habe ständig Ideen am Fahnenmast hochgezogen, und sie stand davor und hat salutiert, wenn ihr eine gefallen hat.“ Und Gefallen fand sie damals vor allem an Themen, die mit Wut und Rache zu tun hatten. Ihre Beziehung mit dem Komiker David Coulier war zu einem bitteren Ende gekommen, als Alanis von Kanada nach Kalifornien zog, und Ballard wusste genau, wie er diese Enttäuschung nutzen konnte:

Geduldig schneiderte er ihr ein zorniges Album auf den angespannten Leib, schlug Kapital aus einer Energie, die vielleicht karmisch nicht gerade förderlich, sicher aber von Grund auf ehrlich war. Mit kraftvollen Songs wie „You Oughta Know“ und „All I Really Warn“ tröstete Morisselte sich selbst und Millionen wütende Teenager, so dass „Jagged Little Pill“ bei frustrierten Jugendlichen dank seiner kathartischen Wirkung so unglaublich erfolgreich werden konnte. Doch der Ärger ist verflogen, seit Alanis mit ihrer Mutter und zwei Tanten in Süd-Asien war. „Thank You India“, sang sie auf ihrem zweiten Album, und recht schön bedankt haben sich auch die Heerscharen von Fans, die mit der ach so spirituellen und geläuterten Morissette nichts mehr anzufangen wussten. „Das Gefühl von ‚Jagged‘ war ausschließlich und eindimensional Ärger“, säuselte sie kürzlich. „‚Supposed‘ dagegen war ganz und gar Zen-spirituell. Aber ich habe mich nie als völlig erleuchtet betrachtet.“

Ballard war zwar bei den Aufnahmen zu „Supposed Former Infatuation Junkie“ noch immer zugegen, doch hatte die Zusammenarbeit völlig neuen Spielregeln zu gehorchen: Alanis brachte bereits vier fertige Songs ins Studio mit, und textlich ließ sie sich nun überhaupt nicht mehr auf Kompromisse ein. Ballard erklärte: „Die Arbeit war bestimmt davon, dass sie mehr zu sagen hatte und auch mehr sagen wollte. Deswegen sind auch mehr Worte auf diesem Album.“ Der Tatsache, dass solch missionarischer Übereifer den Songs oft schadet, ist sich Morissette offenbar bewusst, wenn sie mit einem unsicheren Lächeln sagt: „Ich weiß, ich will immer viel zu viel sagen. Oberste Priorität hat der Inhalt, den ich kommunizieren will. Das kommt vor der Melodie. Wenn ich etwas sagen will, dann muss ich dafür sorgen, dass es reinpasst.“ Ganz konkret zwangen 396 Worte den Song „Couch“ in die Knie, 415 gar „I Was Hoping“. Das neue Werk bietet ein ähnliches Bild. Zum Vergleich: „Head Over Feet“ und „You Oughta Know“ aus dem Erfolgsalbum kamen noch blendend mit 236 bzw. 245 Worten aus, Carole Kings „Home Again“ mit 72.

Und Carole King, sagt Morissette, ist ein großes Vorbild. Was doch ein wenig verwundert, denn das Kunstverständnis, das Alanis ihrer Arbeit zu Grunde legt, könnte zum Ansatz einer Carole King kaum gegensätzlicher sein. So demonstrierte King auf „Tapestry“ mit Zeilen wie „I feel the earth move under my feet“ oder „Sometimes I wonder if I’m ever gonna make it home again“, wie ergreifend einfachste Inhalte sein können, wenn man sie in die richtigen Worte packt. Gerade für die Kunst der Poesie, ein Maximum an Wahrheit mit einem Minimum an Bedeutung auszudrücken, scheint Morissette die Geduld zu fehlen. Texte, die Dinge offen lassen, ohne dabei in die Beliebigkeit abzugleiten, sind ihre Sache nicht. Wo Carole King den Zuhörer animiert, die Strophen mit der eigenen Phantasie zum Leben zu erwecken, da zählt Alanis auf ihrer neuen Platte detailliert „21 Things“ auf, die ein Liebhaber erfüllen muss, um ihr zu gefallen, oder analysiert die komplexe emotionale Beziehung zu ihrem Vater. Eine derartige Nabelschau, die sich wie ein roter Faden durch „Supposed…“ und „Under Rug Swept“ zieht, wird im Showgeschäft meistens vermieden – weil sie den Fans wenig Raum lässt, die Inhalte auf sich selbst zu beziehen.

Apropos Vater. Versteckt sich Alanis bisweilen hinter pseudointellektuellen Text- und Melodiekonstrukten mit bemüht cleveren Inhalten, dann lässt sich das größtenteils auf ihre Kindheit zurückführen. Wer im Hause Morissette geliebt werden wollte, hatte klug zu sein. Der Wert eines Menschen wurde nicht selten an seinem IQ gemessen. In „Perfect“ auf „Jagged Little Pill“ und „So Unsexy“ auf der neuen LP lässt Alanis durchblicken, dass Alan Morissette strengste Ansprüche an seine Tochter stellte. „Das stimmt absolut“, bestätigt Alanis, die sich als Kind häufig abgelehnt gefühlt hat. „Er hat sehr hart gearbeitet und sich auch selbst immer unter Druck gesetzt.“ Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass Alanis bereits im Alter von zehn Jahren für die Serie „You Can’t Do That On Television“ vor der Kamera stand, dass sie als Teenager einen Plattenvertrag bekam und in Kanada zum Star wurde. „Als. ich 13 war, musste ich die Rolle einer 40-Jährigen spielen“, gab sie einst zu Protokoll. Eine Last, die sie – w:e ihr heute klar ist – noch immer auf den Schultern trägt: „Ich denke, dass man Spuren davon noch in meinem Songwriting findet. Ich habe bei dieser Platte mein Gehim angestrengt wie nie zuvor.“ Vater Alan Morissette schlägt heute noch Profit daraus, seine Tochter zum Star gemacht zu haben: Der geschäftstüchtige Kanadier veranstaltet Gruppenseminare zur Karrire-Förderung von Talenten im Kindesalter.

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Künstlerin auch gutwillige männliche Bevormunder scheut. Songwriting ist für die junge Erwachsene heute ein Mittel zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Dass ein solcher Prozess weniger der Unterhaltung von Millionen als vielmehr der Eigentherapie dienlich ist, versteht sich von selbst: „Wenn ich mit der Arbeit an einer Platte fertig bin, fühle ich mich inspirierter als zu Beginn“, so Alanis.

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