Am Kleiderschrank der Mutter


Alle lieben Florence Welch. Nur ME-Style-Experte Jan Joswig hat seine Zweifel. Ist sie doch nur eine berechnende Schneekönigin mit Modelmaßen? Oder ist unser Autor am Ende nur neidisch?

Florence Welch ist die demaskierte Fratze der Fashionbloggerinnen. Wenn man sich die Fashionbloggerinnen als Dorian Gray denkt, verkörpert Florence Welch das Bildnis des Dorian Gray, in das alle Übel eingezeichnet sind. Eine Legion von Minimädchen stellt tagtäglich Outfit-Posts von sich, geknipst vor dem Spiegel mit der Handykamera, auf seine Blogs. Sie wollen nicht vom unschuldigen Kindheitsspiel lassen, am Kleiderschrank der Mutter zu stehen und die verschiedenen Kostümierungen durchzuprobieren, sich vor dem Spiegel in unterschiedliche Rollen zu träumen, bevor sie sich auf eine (weitaus unmondänere) reale Rolle festlegen müssen. Sie klammern sich an die Phase exhibitionistischer Pubertät, wenn man das Verkleiden als Prinzessin oder Pony aus Kinderkarnevalszeiten langsam an die Wirklichkeit der Erwachsenen anpassen möchte. Und vielleicht kann man auch seine Existenz auf diesem Blog aufbauen, vielleicht bildet sich hier eine Form puritanischer Prostitution heraus, und man wird bezahlt für seine Kostümwechsel im intimen Mädchenboudoir?

Ach, süße Pausbäckigkeit! Gegen diese Naivität setzt Florence Welch die spitzen Wangenknochen erwachsener Verhärtung. Die Ambivalenz von unschuldigem Spieltrieb und egomanischer Eitelkeit, die all diese Outfit-Posts auszeichnet, ist bei Florence Welch endgültig in Richtung egomanischer Eitelkeit gekippt. Auch sie ist eine große Verkleiderin, geradezu eine Extremistin des Verkleidens. Ob als Backfisch im Pünktchenrock, Beatnik mit Schlapphut, Stummfilmdiva im goldbesprenkelten Schlauchkleid, Rock’n’Roll-Vamp oder Landei, Vorortschwalbe oder Superheldin, das Rollenkarussell dreht sich und dreht sich und dreht sich. Aber Florence Welch sucht nicht mit pausbäckiger Unsicherheit nach ihrer wahren Rolle, sondern sonnt sich in einer Selbstgefälligkeit, die weiß, dass sie in jeder Rolle eine blendende Figur macht. Dabei hat sie nicht einmal etwas von einer Selbstvermarkterin, die sich als flexible Marke zu optimieren versucht. Über solchen merkantilen Identitätszwängen schwebt sie meilenweit. Die Welt ist ihr Spiegel und ihre Bühne. Ich stelle mir vor, wie sie einen Bettler im Schmuddelcape anzischelt: „Ah, du passt gut zu meinem Beatnik-Look, wenn du mich bis zum nächsten Café begleitest, geb‘ ich dir zehn Pfund.“ Ein Außen registriert sie nur, wenn sie es als Verlängerung ihrer Person gebrauchen kann. Auch ihre Mitmusiker anonymisiert sie zu einer Maschine. Mit ihren exaltierten, theatralischen Ausbrüchen in der Musik demonstriert sie reines Verdrängungsgebaren: Geht mir aus dem Weg, macht Platz für meine Emotionalität. Es gibt keine Widerstände für Florence Welch. Sie kennt keine Bescheidenheit.

Weder ist sie eine spinnerte Träumerin wie Kate Bush (mit der sie den Tanzstil teilt) noch eine Popdienerin wie Madonna, die ihre Bühnenpersönlichkeiten als Verlängerung eines Schallplattenkonzeptes entwirft. Madonna beugt sich einer höheren Idee. Florence Welch ist sich selbst die höchste Idee. Die Glamourwelt liebt solche Charaktere. Ich hätte einen ähnlichen Riemen über Róisín Murphy rausgiften können. Aber gut, wer zweifelt an der moralischen Seichtheit der Glamourwelt? Als einzige Gerechte ragt die unbestechliche Rubrik „Fashion-Fiaskos“ im Schandmaulblatt „InTouch“ heraus.

Der große Karl Lagerfeld jedoch hat die seltsam eisige Egomanin Florence Welch durchschaut. Er kleidet sie als Pailletten-klirrende Schneekönigin aus Andersens Märchen – und lässt sich von ihrem herrischen Arm in die zweite Reihe abdrängen. Lagerfeld enttarnt sie mit einem Streich, mit einem Outfit. Seht her, deckt das Schneeköniginnenkleid auf, die exaltierte Künstlerin, die Boheme-Existenz, sie ist eine selbstgefällige, überhebliche, materialistische Herzgefriererin mit Modelmaßen, die in ihrem permanenten Rollen-wechsel-dich-Spiel einzig ihre Überlegenheit in allen Lebenslagen demonstrieren will. Ihr Spiel ist nackte Härte, der gleichgültige Zynismus einer Privilegierten. Und Florence Welch, sie kann nicht entkommen, dort exponiert auf dem Chanel-Laufsteg. Lagerfeld hat sie demaskiert. Ein großer Moment in der Geschichte der Haute Couture.

Während ich diesen Text noch einmal überfliege, kriecht mir die Frage in den Nacken, ob ich im Herzen nicht auch nur eines der Fashionblog-Minimädchen bin, das schwer am Neid auf Florence Welch zu knabbern hat. Vielleicht sollte ich mich lieber in Hermann Hesse vertiefen.