An der Schule für Dichtung in Wien doziert Nick Cave über die Bedeutung der Traurigkeit


Leicht irritiert vom grellen Scheinwerferlicht nimmt er Platz, der Dichter, am wackeligen Klapptischlein mit Aschenbecher und Wasserglas, zieht sein Manuskript hervor, zündet sich erst mal eine Marlboro Light an und wartet geduldig, die Augen verborgen hinter den Gläsern seiner Sonnenbrille, auf das Ende des brandenden Beifalls. So wenig der tosende Applaus in die luftige Aula der Wiener Akademie der Künste zu passen scheint, so sehr entspricht der Jubel seinem Adressaten: Nick Cave nämlich ward geladen in die „Schule für Dichtung“ zu Wien, um seine Gedanken zum Wesen der Lyrik darzulegen. Nicht als Songwriter, sondern als lehrender Dichter tritt der 40jährige diesmal vor sein Publikum.Thema der Vorlesung: „Das Liebeslied und wie man es schreibt“. Der Mann ist ausgewiesener Experte, hat er doch nach eigenen Angaben bisher „hauptsächlich Liebeslieder geschrieben.“ Wir erinnern uns an seinen Roman „Und die Eselin sah den Engel“, erinnern uns an die schwarzblütige akustische Anthologie „The Boatman’s Call“- und rufen uns ins Gedächtnis, daß es hierum Poesie geht. Mehr noch: um das „edelste aller dichterischen Anliegen, die Schöpfung des großen Liebeslieds“. Konzentriert und mit eindringlicher Stimme entfaltet Nick Cave zunächst die Grundlagen seiner ganz privaten Poetologie.

Er erzählt von seinem Vater, einem Lehrer, den er gehaßt habe. Und daß er mit dem Schreiben deshalb begonnen habe, um „das schwarze Loch, diese Leere“ zu füllen, die der Tod des Vaters beim damals 19jährigen hinterlassen hat. Verzweiflung und Verlust als Motor künstlerischer Ausdruckskraft? Nick Cave unterstreicht diesen reichlich traditionellen Ansatz und legt nach: „Das Liebeslied ist niemals wirklich glücklich. Es muß sich zuallererst die Möglichkeit zum Schmerz zu eigen machen“, dann erhebt er die Stimme zu einem biblischen Poltern: Jene Lieder, die von Liebe reden, ohne in ihren Zeilen einen Schmerz oder einen Seufzer zu enthalten, sind keine Liebeslieder, sondern als Liebeslieder verkleideter Haß – man darf ihnen nicht trauen!“ Cave kratzt sich am Kopf, die tiefe Furche zwischen den Augenbrauen wird noch tiefer, und der Vortrag gewinnt bald an solch zorniger Wucht, daß ihm daß Publikum selbst den kategorischen Imperativ im Kern seiner Auslegungen widerspruchslos abkauft: „Das Liebeslied ist der Ton der Sorge selbst!“ So raunt der Australier über die schlecht beleuchteten Untiefen der Seele, preist das Liebeslied als metakommunikative Brücke zu Gott und beschwört die Kraft des Wortes, vermittels derer „der geliebte Mensch quasi neu erfunden werden kann“. Für den bekennenden Christen, der das alttestamentarische Hohelied Salomons für das größte Liebeslied aller Zeiten hält, ist die Traurigkeit der Urgrund allen Schaffens: „Bob Dylan hat sie schon immer. Leonard Cohen hat besonders mit ihr zu tun. Sie verfolgt Van Morisson wie ein schwarzer Hund, und obwohl er es versucht, entkommt er ihr nicht.Tom Waits und Neil Young können sie herbeirufen. Sie ist der Geist, der P.J. Harvey heimsucht. Meine Freunde von DirtyThree haben sie eimerweise. Spiritualized geilen sich an ihr auf. Die Tindersticks wollen sie mit aller Gewalt. Aber Trauer ist zu zerbrechlich, die immer schneller werdende Musikindustrie zu überleben.“

Gut und Böse, Haß und Liebe, Licht und Dunkel finden laut Cave im Liebeslied ihre einzig integrative, tief menschliche Darstellungsform. Nicht aber in der Welt der „modernen Popmusik, die vorgeblich mit dem Liebeslied zu tun hat, tatsächlich aber wenig mehr leistet, als Happen von vanillefarbener Babykotze in den Äther zu schleudern!“ Wendungen wie diese werden wie gelungene Songs beklatscht. Aus den 200 Liedern, die Cave selbst geschrieben hat, ragen seiner Meinung nach nur eine Handvoll wirklich gelungener Liebeslieder heraus: „Sie sind meine düsteren, gewalttätigen, dunkeläugigen Kinder. Sie sitzen finster und alleine da und spielen nicht mit den anderen Liedern.“ Vor allem eines wird an diesem Abend deutlich: Der Mann lebt in einem poetischen Kosmos. Der Mann kann davon erzählen. Der Mann ist besessen, besser, beseelt von der unglücklichen Idee der romantischen Liebe. Nick Cave ist also wahnsinnig, ein prophetisch glühender Künstler mit dem archaischen Herzen eines Predigers.