Liste

Die 100 besten Stimmen der Musikgeschichte


It's the singer, not the song: Das hier sind die 100 bisher besten Sängerinnen und Sänger aller Zeiten – von Ian Curtis und Michael Stipe über King Krule und Justin Vernon bis hin zu Aretha Franklin und Donna Summer – wenn es denn nach uns geht.

Der Soul von Aretha Franklin. Die Vielfalt von Freddie Mercury. Der Groll von Kurt Cobain: Die Stimme ist der Motor der Pop-Musik.  Nicht nur, weil sie uns etwas erzählt, eine Botschaft transportiert; sondern vor allem, weil sie Gefühle übermittelt, wie es kein Instrument vermag. Die 100 Sängerinnen und Sänger auf dieser Liste können das am besten – finden wir.

Im neuen Musikexpress: Die 100 besten Sängerinnen und Sänger, Drangsal vs. Die Nerven, Wes Andersons Welt u.v.m. – jetzt am Kiosk!

Texte: André Boße (ab), Davide Bortot (db), Oliver Götz (ogö), Steffen Greiner (sg), Jördis Hagemeier (jh) , Albert Koch (ko), Julia Lorenz (jl), Jochen Overbeck (jov), Stephan Rehm Rozanes (srr), Frank Sawatzki (fs), Annett Scheffel (as), Chris Weiß (cw), Sabine Winkler (sw)

>>> Die vollständige Liste mit den Plätzen 1 bis 100 gibt’s oben in unserer Bildergalerie. Die Top 10, inklusive Portrait, hier:

1. Freddie Mercury

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Die anhaltende Wirkmacht von Farrokh Bulsaras meist im Tenor gehaltener Singstimme lässt sich am besten an einem Minutenbruchteil nach seinem zu frühen Ableben festmachen: Beim Tribute-Konzert zu seinen Ehren am 20. April 1992 unterbricht der fast ebenso begnadete George Michael seine emotionale Fassung von „Somebody To Love“, gibt zum Ende des Breaks das Mikro an die Fans ab: 72 000 Besucher singen ihm das langgestreckte letzte „love“ notensicher entgegen. Michael bezeichnete den Song später als den schwierigsten, den er je zu singen hatte und den Moment als den überwältigendsten seiner Karriere.

Mercury selbst sagte einst über seine drei Oktaven umfassende Stimme, dass sie sich aus der Energie des Publikums speist: „Je besser sie sind, desto besser bin ich“, eine Aufwärtsspirale. Sein Lieblingssänger Robert Plant, einer der zahlreichen Gaststars an diesem Tag, bemerkte, dass viele der dargebotenen Songs vorab in andere Tonarten übertragen werden mussten, da kaum jemand Mercurys Platz einnehmen konnte. Obwohl Mercury selbst stets betonte, eine musikalische Hure zu sein, die Musik wie Einwegrasierer, Wegwerfpop machte, sind Queen auch 27 Jahre nach ihrem Ende eine der beliebtesten Bands der Welt.

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Der größte Rock’n’Roll-Stimmvirtuose aller Zeiten

Zuletzt stand ihr 1981 erschienenes GREATEST HITS in den Top 40 der UK-Charts, in seiner 815. Woche. Diesen Rekorderfolg hat die Gruppe in erster Linie Mercurys Stimme zu verdanken. 2016 ging ein Forscher-Team deren Zauber nach und kam zu dem Ergebnis, dass bei Mercurys Gesang die sogenannten Untertöne aktiviert wurden, die eine Oktave unterhalb des eigentlichen Tons erklingen und durch Kehlgesang entstehen. Die Studie bewies auch, dass Mercurys Stimmbänder mit 7,04 Hz deutlich mehr Schwingungen pro Sekunde als gewöhnlich erzeugten. Soso!

Von Natur aus gesegnet, hob ihn dennoch sein Facettenreichtum von allen anderen Sangestalenten ab. Roger Daltrey nannte ihn den größten Rock’n’Roll-Stimmvirtuosen aller Zeiten: „Er konnte seinen Stil von Zeile zu Zeile wechseln.“ Mercury überzeugt im Metal, im 50s-Rock, im Funk, in der Falsett-Disco, in der Music Hall, im Musical, in der Oper. Seine Stimme trug ihn als breitbeinigen Macho-Rocker, als überkandidelten Bonvivant, als ewig suchenden Liebhaber, als König der Welt und trotz aller Verzweiflung würdevoll über deren Ende hinaus, ganz getreu der „Innuendo“-Songzeile „You can be anything you want to be, just turn yourself into anything you think that you could ever be“. Freddie Mercury war als Sänger alles, was jeder andere gerne gewesen wäre. srr

  • Der Moment: Die mit der letztjährigen Deluxe-Wiederveröffentlichung von NEWS OF THE WORLD erschienene „Alternative Version“ von „It’s Late“: Nach kurzem, beiläufigem Einsingen entfacht Mercury einen gesanglichen Sturm, der einen aus jeglichem Zusammenhang reißt.

2. Aretha Franklin

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Aretha Franklin ist im Alter von 76 Jahren gestorben
Es gibt Sätze, die sich ganz von selbst sagen, wenn man Aretha Franklin heißt. Sätze wie: „Sänger zu sein, ist eine natürliche Begabung.“ Bei ihr war das wohl so: eine Gabe von irgendeinem Gott oder kosmischen Wesen. Die ungeheure Kraft ihrer Stimme hat ihr den unanfechtbaren Titel als „Queen Of Soul“ eingebracht. Diese Kraft – das ist nicht nur die Lautstärke. Das ist auch die blitzsaubere Technik, mit der sie von einem dunklen Raunen in die dünnen Lüfte eines vibrierenden Falsetts hinaufschießen kann. Die Feinheiten in der Intonierung. Und vor allem diese Selbstgewissheit, die in jedem Ton steckt: im Swagger von „Respect“ genauso wie in der zarten Romantik von „(You Make Me Feel Like) A Natural Woman“.

Ohne sie wäre keine Whitney Houston und keine Alicia Keys denkbar. Die Art und Weise, wie sie ihre Seele nach außen, in den Hall ihrer Stimme zu stülpen schien, erzählt von einer großen, verbindenden weiblichen Superkraft. Es macht etwas mit einer Frau (vielleicht auch mit einem Mann), wenn Aretha im Refrain von „Think“ singend skandiert: „Freedom, oh freedom, give yourself freedom!“ Eine Power, die sich wie in einem Energiestrahl auf uns überträgt. as

  • Der Moment: „Respect“: Der hitzige Furor in ihrer sich überschlagenden Stimme, wenn sie beim Buchstabieren – „R-E-S-P-“ – beim zweiten E ankommt – „Eee-C-T“.

3. Michael Jackson

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Welcher Künstler kann schon von sich behaupten, einzig und allein mit seiner Stimme einen eigenen und zugleich eigentümlichen Signature-Sound erfunden zu haben? Anstatt diese Frage nun mit einem enttäuschend schmächtigen Ergebnis zu beantworten, lohnt es sich, doch gleich der eigenen Kehle ein enthusiastisches „Ouh!“ zu entlocken. Michael Jackson zwickt sich dazu sogar noch öffentlichkeitswirksam und stimulierend in den Schritt. Hell yeah, so schreibt man Pop­geschichte!

Nicht umsonst wird dieser Mann als King bezeichnet, seine Herrschertugenden werden schon früh auf die Probe gestellt: Als in den 70er-Jahren Disco geboren wird, muss Michael sich an den Erfolgen anderer Wahnsinnskünstler des legendären Motown-Labels messen. Stevie Wonder, Marvin Gaye: hervorragende Sänger – das ist schon vor seiner Weltkarriere streberhaft im amerikanischen Soul-Pop-Kanon der 70er notiert.

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Den Erfolg der Kollegen stellt Michael Jackson trotzdem in den Schatten. Von Natur aus scheint er das zu besitzen, wonach Jahrzehnte später in Castingshows krampfhaft gesucht wird: ein Gesamtpaket. Seine übermenschlichen Tanz-Skills sorgen nicht erst seit dem Game-Changer-Video zu ­„Thriller“ für offene Münder – niemals aber wollen sie darüber hinwegtäuschen, welch begnadeter, leidenschaftlicher Sänger er war.

Seine Karriere beginnt in den 60er- und 70er-Jahren kraftvoll mit Afro und paillettenbesetzter Schlaghose in Soul und Disco. Er erfindet den R’n’B der 80er, füllt in den 90er-Jahren schließlich die ganz großen Stadien mit epochalem Weltverbesserer-Pop und zarter Engelsstimme – sie wird später von Kritikern zu Unrecht als seelenloses Pop-Produkt angeprangert. Vorwürfe des Kindesmissbrauchs, verantwortungslos aus Hotelzimmerfenstern gehaltene Babys, Tablettensucht: So düster manches Lebenskapitel des zerbrechlichen, widersprüchlichen Michael auch sein mag, sein musikalisches Schaffen wurde dadurch am Ende, auch postum, niemals  in Misskredit gebracht.  jh

  • Der Moment: Das besonders lange und leidenschaftliche „Ooouuhhh!“ in Sekunde 15 von „Don’t Stop ’Til You Get Enough“ – wie er es fühlt!

4. Al Green

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Al Green war der letzte Soulstar der alten Schule. Seine Musik war zunächst ein Abziehbild von Sam Cooke und Co., wurde aber in den 70er-Jahren weicher, zärtlicher – und damit passgenauer zu seiner Stimme. Er legte so den Grundstein  zu dem, was später als Modern Soul bezeichnet wurde.

Wo der Soul in den 60er-Jahren kraftvoll gesungen zu werden hatte, mindestens intensiv, war bei Green: alles easy, gerne auch länger als bis dahin üblich in der Kopfstimme. Damit setzte er Impulse – für Disco, ­Prince, aber auch für zeitgenössische Soulsänger wie D’Angelo, der Greenes „I’m Glad You’re Mine“ gut coverte. jov

  • Der Moment: Diese völlig unerwarteten Schreie in „Take Me To The River“.

5. Björk

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Man wird kaum ein Live­video finden, in dem sie jeden Ton genau trifft. Sie kann ins Krächzen geraten, auf den Gipfeln straucheln, kippen, in der tieferen Strophe bröseln ihr manchmal ein paar Noten weg, sie atmet schneidend und riskiert beim nächsten lauten Gellen, dass der folgende Ton erstirbt.

Björk war nie das Kind, das schön geübt hat. Das Ex-Hippie-Mädchen, den Ex-Punk, die Pop-Avantgardistin singen zu hören, ist immer eine Grenzerfahrung, weil sie keinen Song kennt, der sie nicht an ihre Grenzen bringt. Vor ihr versteckt sich die Routine in einem Unterwasservulkan. ogö

  • Der Moment: „Vökuró“, live nur mit Cembalo und Chor in der Langholtskirkja in Reykjavík (2008; findet man leicht auf YouTube): ein isländisches Volkslied versteht die ganze Welt.

6. Nina Simone

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Nicht nur hatte Nina ­Simone eine der unverkennbaren Stimmen des Jazz, sie setzte ihr Instrument auch so ein, dass sie sich niemals einem musikalischen Stil anpasste. Ein Song von Nina Simone ist immer ein Song von Nina Simone, dann erst ist er Jazz, Rhythm & Blues, Gospel oder Soul.

In den 60er-Jahren wird sie eine der ersten Bürgerrechtlerinnen der Popmusik: Klagelieder in den Tiefen ihres Baritons. In ihrem weiteren Leben erweist sich Nina Simone aber als größter Feind ihrer selbst. Auf der Bühne wie im Leben ist sie zu erratisch und konfrontativ. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2003 bleibt sie auf diese Weise aber immer auch black and proud, sie selbst. cw

  • Der Moment: Am Ende von „Before Sunset“ legt Julie Delpy nach einer langen, durchredeten Nacht „Just In Time“ von Nina Simone auf. Danach ist alles gut.

7. Kate Bush

https://www.youtube.com/watch?v=BW3gKKiTvjs

Wuthering Heights“, der erste selbstverfasste Song, mit dem eine Sängerin je auf Platz eins der UK-Charts stand, gleicht einem Wunder: Wie konnte Kate Bush mit 18 Jahren so einen komplexen Song schreiben (gut, die Hook mag sie zuvor in Barry ­Manilows ­„Mandy“ gehört haben)?

Vor allem: Wie konnte sie so früh einen derart eigenwilligen Gesangsstil haben? Es schien, als drängten die Geister aus Jahrhunderten durch Bushs Lippen, alle zur selben Zeit! Diese Brüche mit Hörgewohnheiten imponierten Johnny Rotten so sehr, dass er Bush ein Lied schrieb, das sie dankend ablehnte „Bird In Hand“. srr

  • Der Moment: Das Outro von „Wuthering Heights“, in dem Bushs Gesangsmelodie sich in Streichern und einem Gitarren­solo auflöst, als stiege sie in den Himmel auf.

8. Otis Redding

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Er hatte nur ein paar wenige Jahre, um die Wucht einer ganzen Lebensspanne in die Tonspuren einer Handvoll Studioalben zu pressen, bevor er mit 26 bei einem Flugzeugabsturz starb. Sein Gesang – das war nicht einfach eine schöne Stimme. Das waren pure, heiß eingeschmolzene Gefühle.

Es liegt etwas Angreifbares in seiner rauen und zugleich raspelweichen Stimme, das einen ohne jede Vernunft trifft: Etwas, das einen beim Hören von „These Arms Of Mine“ wieder in einen dünnhäutigen, gefühlsdurchfluteten Teenager verwandeln kann. Bei jedem anderen Sänger wäre diese Stehblues-Ballade schnulzig gewesen. Bei ihm ist sie ein erhabener Klassiker. as

  • Der Moment: das atemlose Finale von „Try A Little Tenderness“.

9. Frank Sinatra

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Einer, dessen erstes Studioalbum THE VOICE OF FRANK SINATRA heißt, sollte auch abliefern. Und in der Tat erfüllte Frank Sinatra den Titel der 1946 veröffentlichten Platte; ach, mehr als das: Er erfand nicht die Gattung des Crooners, aber prägte ihr Wirkprinzip: Sinatra hatte eine große Stimme, aber er inkludierte in seinen Gesang stets ein gewisses Understatement.

Sogar in „My Way“, wo er vorm finalen Vorhang seines Lebens steht, reizt er die Stimme nicht voll aus. Bescheiden singt er von seinen „Regrets“, die Stimme immer im Gleichschritt mit den Streichern. Wie ein Rennradler, der nur auf 80 Prozent seiner Kraft fährt und deshalb erholt ins Ziel kommt, bereit für ein Gläschen. jov

  • Der Moment: In „Fly Me To The Moon“ schwillt seine Stimme auf und ab wie ein Blasinstrument.

10. Stevie Wonder

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Quer durch die 70er-Jahre riss Stevie Wonder (nicht nur) für Soul, Funk und R’n’B neue Horizonte auf – musikalisch, auch inhaltlich. Doch tatsächlich sind uns seine Gesangsperformances der 60er, herausgestellt im Motown-Sound, beinahe geläufiger. Dabei entfaltete sich mit seiner künstlerischen Freiheit auch seine Stimme.

Man kann ihn auf Alben wie SONGS IN THE KEY OF LIFE oder ­TALKING BOOK damit experimentieren hören, er lässt sie klingeln, fliegen, presst sie, setzt Punches, überführt Techniken aus Jazz und Gospel. Aber egal welche Farbe, und das ist das wahre Wonder-Wonder, am Ende vermag sie nie etwas anderes auszudrücken als Lebensfreude. ogö

  • Der Moment: Hier ist er punchy wie selten, Lead- und Backing­vocals befeuern sich gegenseitig – sie kommen beide von Stevie: ­„Living For The City“ (1973).

>>> Die weiteren Plätze 11 bis 100 findet Ihr in unserer Bildergalerie (oben).

Die gesamte Liste in ihrer vollen Printpracht sowie einen einleitenden Text über die Psychologie hinter den Stimmen findet Ihr in der Musikexpress-Ausgabe 05/2018.