Kritik

Böse Nazis, gute Ärzte: Warum Ihr die 2. Staffel „Charité“ schauen solltet


Seit dem Wochenende komplett im Stream verfügbar, seit Dienstag wöchentlich im Free-TV: Die 2. Staffel „Charité“ erzählt weniger von der Geschichte des Krankenhauses, dafür mehr von Medizin und Menschlichkeit im Nationalsozialismus. Mit erneut hervorragendem Schauspielensemble, historischen und moralischen Bedenklichkeiten – und erschreckender Brutalität.

Die erste Staffel von „Charité“ war für die ARD ein voller Erfolg: In der deutsch-tschechischen Produktion wurde im Kern die Geschichte der deutschen Mediziner Rudolf Virchow, Robert Koch, Emil Behring und Paul Ehrlich erzählt, die Ende des 19. Jahrhunderts bahnbrechend an Impfstoffen gegen Tuberkulose und Diphtherie forschten und damit den Aufbau der Berliner Charité von einem Armenkrankenhaus zur weltweit hervorragenden Lehr- und Forschungsadresse begründeten. Allein die erste der im April und Mai 2017 ausgestrahlten sechs Folgen sahen 8,32 Millionen Zuschauer. Mit einem Marktanteil von 25,5 Prozent legte „Charité“ den erfolgreichsten deutschen Serien-Neustart seit über 25 Jahren hin. Eine zweite Staffel wurde prompt in Auftrag gegeben.

Anstatt wie in den anderen wertvollen deutschen Historien-Serien „Weißensee“ und „Ku‘ Damm 56“ setzt „Charité“ auch in der nun angelaufenen 2. Staffel nicht allein auf Fiktion, sondern auf die Nacherzählung geschichtlicher Personen, die von fiktiven ergänzt werden. Die sechs neuen, jeweils 45-minütigen Folgen spielen in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs und handeln vom berühmten deutschen Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (hervorragend: Ulrich Noethen), der 1923 Adolf Hitler an der Schulter operierte und ihn 1937 als „Grenzfall zwischen Genie und Wahnsinn“  und einen, der der „verrückteste Kriminelle der Welt“ werden könne, bezeichnete.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Die eigentliche Hauptrolle aber spielt wie in Staffel 1 eine junge Frau: Versuchte sich damals die Hilfswärterin Ida Lenze (Alicia von Rittberg) als Frau zu behaupten und Medizin studieren zu dürfen, sehen wir nun Newcomerin Mala Emde dabei zu, wie ihre Medizinstudentin Anni Waldhausen von ihrem Mann Artur (Artjom Gilz), selbst Kinderarzt, schwanger wird, Familie und Beruf vereinen will und selbst zu spät erkennt, Teil des NS-Regimes gewesen zu sein: Ihr Mann ließ Impfstoffe an behinderten Kindern testen und schickte sie in die Nervenklinik Wiesengrund, in der nachweislich Kinder gequält und getötet wurden. Auch ihre Tochter könnte behindert werden, entwickelt einen „Wasserkopf“ – und plötzlich muss Familie Waldhausen diesen Umstand vor dem System verheimlichen, in dem sie selbst operieren.

Menschlichkeit und Menschenverachtung

Auch in den weiteren Rollen ist die zweite Staffel „Charité“ beeindruckend und unverbraucht besetzt: Ob Annis Bruder Otto Marquardt (Jannik Schürmann), der sich als Kriegsrückkehrer und Famulant mit Pfleger Martin (Jacob Matschenz) anfreundet, ob Sauerbruchs zweite Frau Margot (Luise Wolfram, bekannt aus dem Bremer „Tatort“), ob Lukas Miko als Psychiatrieleiter und NS-Scherge Max de Crinis – das Ensemble lässt fast vergessen, dass es nicht nur die größte Stärke der 2. Staffel „Charité“ ist, sondern auch ihre größte Schwäche. Während in der ersten Staffel nämlich tatsächlich deutsche Medizingeschichte verfilmt wurde und das namensgebende Krankenhaus im Mittelpunkt stand, dient die Charité in den nun ausgestrahlten Folgen zu nicht viel mehr als zur Kulisse zur Dokumentation der NS-Gräuel und dem Versuch, darin Menschlichkeit und medizinische Ethik aufrechtzuerhalten. Alle richten sie sich ein im Regime, ob notgedrungen oder freiwillig.

Die zweite Staffel „Charité“ wurde wieder in Prag gedreht, was man auch an der Synchronisation diverser Nebenrollen bemerkt. Und sie ist in ihrer Unmittelbarkeit wieder sehr brutal: OP-Szenen offener Brustkörbe, Totgeburten, verbrannte, mit Bombensplittern übersäte Kinder, Kopfschüsse und so weiter sind nichts für schwache Nerven. Und zumindest die medizinischen Nahaufnahmen hätte es des Eindrucks wegen nicht gebraucht: Die Gewalt, der Ekel, die Sinnlosigkeit, die Menschenverachtung von Hitlers Regime einerseits, sowie die Genialität von Ferdinand Sauerbruch zwischen Koryphäe und Choleriker anderseits werden auch ohne Skalpelle und Blutspritzer schrecklich seh- und spürbar.

Die 2. Staffel „Charité“ ist in der ARD-Mediathek komplett im Stream zu sehen. Im Fernsehprogramm wurden am 19. Februar die ersten zwei Folgen ausgestrahlt, die weiteren vier sind jeweils dienstags um 20:15 Uhr in der ARD zu sehen.