Titelgeschichte ME 10/2016

Bon Iver: Der Wald ist nicht genug


Als Justin Vernon sich in eine winterliche Holzhütte einschloss und ein schön trauriges Herzschmerzalbum aufnahm, wurde er zum bekanntesten Einsiedler des Pop. Plötzlich wollten alle mit dem Wunderknaben aus Wisconsin arbeiten. Nach Album Nummer zwei, einem Grammy und diversen Aufnahmen mit Kanye West war Vernon drauf und dran, seine Band Bon Iver für immer zu begraben – bis jetzt. Die Geschichte hinter dem Comeback des Jahres.

In Amerika, dem einzigen Musikmarkt, auf den es ankommt, hat Vernon alias Bon Iver jetzt den Durchbruch geschafft. Nicht wenige wollen mit ihm zusammenarbeiten, die meisten Credits heimst Kanye West ein, auch mit James Blake sitzt Vernon wiederholt an Songs. Jedes Mal unter dem Namen Bon Iver, jedoch immer bloß als Feature-Gast auf Alben anderer Künstler. Neues, eigenes Material von Bon Iver lässt seit dem zweiten Album auf sich warten. Eine Zwischendurchsingle, „Heavenly Father“, taucht 2014 auf dem Soundtrack zum Film „Wish I Was Here“ auf. Ansonsten ein halbes Jahrzehnt so gut wie kein Ton. Justin Vernon ist zwar fleißig, nimmt zudem noch Platten mit Volcano Choir, The Shouting Matches auf, sowie ein Album unter dem Namen Jason Feathers.

Aber für die eigene Band scheint ihm nicht mehr viel einzufallen. Vor fast genau vier Jahren, im September 2012, gibt Vernon dem lokalen Radiosender „Minnesota Public Radio“ ein Interview. Auf die Frage, was denn die Band so treibe, antwortet Vernon, er sei dabei, die Gruppe „zurückzufahren“: „Für mich ist das wie ein Wasserhahn. Man darf nicht vergessen, ihn irgendwann zuzudrehen. Die Band bekommt so viel Aufmerksamkeit, dass der Trubel hin und wieder zu sehr von der Musik ablenkt. Ich habe das Gefühl, dass ich mich davon abwenden muss, solange ich mich dafür noch interessiere. Nur so kann ich immer wieder darauf zurückkommen – wenn denn überhaupt – und mich neu dafür begeistern.“

Der „Wenn denn überhaupt“-Einschub veranlasste die Plattenfirma, rasch eine offizielle Mitteilung zu veröffentlichen, dass es sich nur um eingeschränkte Promo-Tätigkeiten ihres Künstlers handele, nicht aber das Aus der Band bedeuten würde. In der eingeschneiten Holzhütte hatte er etwas gefunden, das ihm den künstlerischen Weg bereiten würde: nämlich sich selbst. Das klingt reichlich pathetisch. Aber die Frage nach der eigenen Identität, oder zumindest nach dem Ich, mit dem man sein Leben im Hier und Jetzt leben möchte, können ja die wenigsten Menschen beantworten. Vernons Antwort lag natürlich in dieser selbst auferlegten Abgeschiedenheit, die alles Störende drumherum ausblenden ließ und ihm so den absoluten Fokus ermöglichte, etwas Außergewöhnliches wie das Debütalbum FOR EMMA, FOREVER AGO entstehen zu lassen.
Und auch die Heimatverbundenheit spielt eine wichtige Rolle. „Als er da am Strand von Portugal plötzlich anfing zu reden“, sagt Trever Hagen, „hatte ich das Gefühl, in ihm sei ein Knoten geplatzt.“

„Äußerlich ging es Justin Vernon offensichtlich nicht schlecht, aber innendrin stimmte irgendetwas nicht“ (Trever Hagen)

Trever Hagen ist der Opel-Fahrer vom Anfang dieser Geschichte. Er stammt auch aus Eau Claire. Vernon und Hagen kennen sich seit 25 Jahren, waren zusammen auf der Highschool, spielten in diversen Bands, sind so etwas wie beste Freunde. „Wir saßen in dem Auto und ich habe versucht, irgendetwas aus ihm herauszubekommen. Er hat nichts gesagt. Äußerlich ging es ihm offensichtlich nicht schlecht, aber innendrin stimmte irgendetwas nicht.“ Hagen sagt, es hätte mit Eau Claire zu tun. Aber natürlich sei es komplizierter. „Er lebt hier, er will hier sein. Und dann gibt es diesen Teil in ihm, der ihn woanders hintreibt, zu anderen Leuten. Er möchte ja hier bleiben, aber irgendwie hat er auch einen Teil an sich, der woanders hingehört.“
 Welche Kräfte zehren an einem, wenn man berühmt ist? „Vielleicht war die Episode am Strand von Portugal kein spezifisches Problem, sondern etwas, das ein viel größeres Ausmaß hat“, sagt Hagen weiter. Er sitzt auf dem Festivalgelände an einem Picknicktisch, während Jenny Lewis im Hintergrund auftritt. Er hat ein Bier in der einen, sein Telefon in der anderen Hand. Seine Arme sind gebräunt, Hagen wohnt in Lissabon mit seiner Ehefrau und seinen Schwiegereltern. „Als Justin nach Portugal kam, sind wir alle bei meinen Schwiegereltern geblieben. Er kam von einem Kurztrip aus Griechenland, den er machen wollte, um für sich zu sein. Was mir in dem Augenblick aber keine gute Idee schien.“ Er hätte sich ins beste Hotel von Lissabon einmieten können. Stattdessen bleibt Vernon bei den Hagens. „Mein Schwiegervater ist Chilene, wir saßen in der Küche, er hat für uns gekocht und ihn immer nur ‚Justino del bosco‘, Justin aus dem Wald, genannt. Er übernachtete im alten Kinderzimmer meiner Frau. Ich glaube, er hat sich nach einem Zuhause gesehnt.“

„Ich weiß noch den Moment, als Justin mich fragte, ob wir nicht zusammen in einer Band sein wollten“

Die Sommer als Kinder seien unschuldig gewesen, sagt Trever Hagen. In den Wäldern spielen, erste Zigaretten rauchen, sich über Mädchen unterhalten. Normaler Jungskram eben. „Ich weiß noch den Moment, als Justin mich fragte, ob wir nicht zusammen in einer Band sein wollten.“ Hagen ist hauptberuflich Doktor für Musiktheorie, er forscht an der Uni, in der Freizeit spielt er Trompete – damals in diversen Schülerbands, gemeinsam mit Vernon in der Gruppe Mount Vernon, und jetzt auch auf dem neuen Bon-Iver-Album. „Wir hatten ja immer nur im Kopf, Musik zu machen. Wenn dieser Traum mit einem Mal wahr wird, ist das ein Riesending, das man schultern muss. Und nach dem Grammy sind für Justin die Aufmerksamkeit und das Interesse durch die Decke gegangen. Er ist ein wahnsinnig kompetenter Musiker, das darf man nie vergessen. Wenn also jemand wie Kanye West ankommt und sagt: ‚Lass uns was aufnehmen‘, hat er kein Problem, in dieser Liga mitzuspielen.“

Warum Vernon sich mit Kanye West und James Blake so gut versteht

Ist 22, A MILLION das Album geworden, das er von Bon Iver nach fünf Jahren erwartet hat? „Ein knappes Jahr später saßen wir wieder im Auto zusammen, dieses Mal auf dem Weg zu einer Hochzeit von gemeinsamen Freunden. Justin sagte, er habe was Neues für mich. Er legte eine CD ein und spielte mir „10 dEAThbREasT“ vor, diesen Riesentrack. Nichts, was ich je so von ihm vorher gehört hätte. Als er 2015 noch einmal nach Portugal kam, arbeitete er an dreimal so vielen Stücken, wie jetzt auf dem Album sind.“

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Die neue Platte ist unverkennbar Bon Iver: sanft, harmonisch, und zugleich in vielen Momenten ganz woanders in ihrer Vielschichtigkeit, Auto-Tune-Versessenheit und dem Hang zum Überproduzierten. „Das ist sicher ein Grund, warum Justin sich mit Kanye und James Blake so gut versteht: Wenn er Musik hört oder macht, sucht er immer nach dem Neuen, dem Niedagewesenen. Sie alle teilen diese Vision, immer noch mehr aus Musik herauszuholen, sei es durch Instrumente oder Technologie.“ Wie die Beatles oder Brian Eno, sagt Trever Hagen, würden diese drei das Studio als Instrument an sich gebrauchen, um Dinge voranzutreiben und Neues zu entdecken.

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