Boom Box


Die Hip-Hop-Kolumne von Davide Bortot

Weit über hundert Millionen Nutzer zählt der digitale Nachrichtendienst Twitter, Tendenz rapide steigend. Man möchte also meinen, dass der Beitritt eines weiteren Tweetbrettfahrers kaum eine Nachricht wert sei. Falsch gemeint. Als Ende Juli der Rapper Kanye West seine Anmeldung bei Twitter bekannt gab, drehte die Gemeinde am Rad, als sei soeben der Allmächtige persönlich herabgestiegen, um das Volk künftig direkt mit Neuigkeiten zu versorgen, ohne den lästigen Umweg über Steintafeln und Zimmerleute. Das ist natürlich Unfug. Kanye West ist nicht der Allmächtige, ganz im Gegenteil. Zwar fand er binnen weniger Wochen hunderttausende Hörige und bedachte im Gegenzug nur einen einzigen User mit seiner digitalen Aufmerksamkeit – mit den selbstironisch-salbungsvollen Worten „you are the chosen one“. In Wahrheit aber ist @kanyewest wie @jederanderedeppdadraußen. Seine Tweets sind selbstverliebt, anmaßend, vorschnell, sinnentleert, überflüssig und in brillanter Weise unterhaltsam. Sie sind: der pure Pop.

Mal protzt er mit europäischem Edelnippes aus Garderobe und Garage. Mal beantwortet er trotzig Fragen, die ihm keiner gestellt hat. Dann wieder versteigt er sich zu abenteuerlichen Thesen über die Kunst, die Liebe, das Leben und den Produzenten Swizz Beatz, den er aus nicht näher spezifizierten Gründen für den größten Rap-Musiker unserer Zeit hält. Tatsächlich ist er das aber längst selbst. Er war nie ein magischer Sampleschnipsler, seine Reime rumpeln noch heute mehr als dass sie fließen. Aber seine Ambitionen gehen weiter, als Hip-Hop je zu träumen wagte. Auf seiner College-Trilogie vollzog er einen Gewaltmarsch durch Gospelkirchen, Orchestergräben und Stadionrockarenen. Dann nahm er auf Hawaii entrückte Liebeslieder für Roboter auf. Weil es ihm dort so gut gefiel, hat er nun noch all seine persönlichen Helden aus der goldenen Ära des Hip-Hop dazugeholt, um mit großer Geste den Kreis zu schließen: RZA, Q-Tip, Pete Rock, dazu Jay-Z, Lil Wayne, Eminem. Kanye Wests neues Album (derzeit terminiert für November) ist als eine Verneigung vor der Hip-Hop-Kultur konzipiert. Ein Superalbum einer Supergroup aus Superegos. Ein Haufen Bordstein-Millionäre auf Klassenfahrt am Sandstrand von Honolulu. Wer einmal kurz die Augen schließt, um sich den ganzen Spaß auf der Retina zergehen zu lassen, versteht plötzlich, wie der Mann tickt. „You can’t look at a glass half full or half empty if it’s overflowing“ schrieb er kürzlich auf Twitter. Eine bemerkenswert alberne Schwarzweißsicht. Aber halt inszeniert von Tom Ford. Soll noch mal einer sagen, die Welt ließe sich nicht in 140 Zeichen erklären.