Boy George : Chronik eines Chamäleons


Selbst Paradiesvögel haben klein angefangen. Boy George, schillerndes Aushängeschild des Culture Club, besitzt nicht erst seit gestern ein Faible für bizarre Verkleidungen. ME/Sounds zeigt zum ersten Mal private Bilder aus der Vergangenheit des Chamäleons: phantastische Make-ups und Maskeraden, mit denen Boy George schon vor Gründung in seiner Gruppe Furore machte.

Am 14. Juni 1961, dem Geburtstag unseres Knaben, ahnte noch niemand, daß später einmal Toaster durch die Küche fliegen würden, daß er in Katzen-Anzügen aus Lurex und verrückten Schuhen mit hohen Absätzen rumlaufen würde, daß er einmal von der Schule fliegen würde. In den ersten 15 Jahren beanspruchte George die Geduld seiner Eltern mehr als sie vertrugen. Als George noch zu jung war. um ernsthaft die Welt auf den Kopf zu stellen, gab’s fast täglich Ärger in der Familie. Er schwärmte damals für die Skinheads, liebte den „Clockwork Orange“-Look und gab sich provokativ wie der Hauptdarsteller des Films. Zur gleichenZeitentdeckte er seine Liebe zu Marc Bolan.

Er durchstöberte Boutiquen auf der Suche nach indianischen Klamotten, trug knallige T-Shirts und Schlabber-Hosen. In den Gottesdienst ging er im weiten Kamelhaarmantel, einem breitkrempigen Hut und in Schuhen mit hohen Absätzen. Er sah Konzerte von David Cassidy. David Essex und David Bowie – für Boy George Zeichen der Rebellion, ein Aufstand gegen die bedrückenden Verhältnisse zuhause. 12 Jahre war er damals alt.

„Meine Eitern zeigten niemals Gefühle für mich. Aber genau das war es. was ich wollte. Ich wollte meinen Vater küssen, doch er schob mich nur weg. Wenn er abends von der Arbeit kam. ließ er nur Aggressionen an uns aus. Ich haßte ihn damals.

Aber ich war nicht eins von den Kindern, die sich alles gefallen lassen. Da flogen gelegentlich die Fetzen. Ich war ganz schön störrisch als Kind. „

Typisch für die familiären Verhältnisse etwa folgendes Ereignis: George sollte für seinen Vater etwas besorgen.“.Ich weiß nicht mehr was. eine Kleinigkeit, vielleicht die Zeitung oder ein Bier, aber ich meinte nur: „Wenn du was willst, hol es doch selber.“ Da flippte er völlig aus. Ich rannte aus dem Haus, er hinter mir her. Die Verfolgungsjagd ging durch das ganze Viertel – bis er keine Puste mehr hatte.“

Aber es sollte noch schlimmer kommen.“.Es muß so um 1975 gewesen sein. Wieder kam es aus irgend einem Grund zum Krach. Erst setzte es Worte, dann Schläge. Ich verkroch mich im Badezimmer, verschloß die Tür von innen. Aber mein Vater gab nicht auf und trat gegen die Tür. bis sie krachend aufflog. „

Blutend rannte George zu einem Freund und kam zwei Wochen lang nicht nach Hause.

Die Mutter war es, die ihn anrief. „Aber ich wollte nicht wieder zurück. Erst als mein Vater ans Telefon kam und meinte, es sei alles gut. ließ ich mich überreden. Seit dem Tag ist auch alles klar zwischen uns. Er hatte sich total verändert. Es klingt komisch, aber seitdem kann ich ihn küssen.“

Zu diesem Wandel mag auch die Veränderung der Lebensumstände im Haus der O’Dowds beigetragen haben. Eine neue, größere Wohnung wurde bezogen – und auch die finanziellen Verhältnisse kamen langsam ins Lot. Hier in Shooters Hill, wie der Stadtteil von London hieß, lernte Boy George auch seine erste Freundin kennen – Tracie Birch. Es war kurz vor seinem 14. Geburtstag und sie veränderte ihn mehr als jeder andere Mensch zuvor.

Die Lehrer wollten ihren Augen nicht glauben, was sie plötzlich sahen. Da tauchte Boy George in der Schule mit orange gefärbten Haaren auf. trug weiße Sandalen und eine Krawatte, die in der Mitte durchgeschnitten war.

Wenn die Eltern glaubten. Boy George sei schwierig, dann war es für die Lehrer völlig unmöglich, mit ihm auszukommen. Für derartige Fälle hatte die Schule ein spezielles Zimmer, das „Greenhouse“, unter dem Dach der Schule. Hier beaufsichtigte statt eines Lehrers ein Psychologe die Schüler. Unterrichtet im eigentlichen Sinne wurden sie nicht, sondern durften machen, was sie wollten zeichnen, lesen oder einfach nur gammeln.

„Ich saß dort den ganzen Tag nur dumm rum“. erinnert sich Boy George. Selbst die Psychologen bekamen ihn nicht in den Griff. Die Schule wurde immer nervtötender für George. Er schwänzte immer häufiger, verbrachte seine Tage lieber in den umliegenden Wäldern. Am 6. Oktober 1976 fiel die endgültige Entscheidung – Boy George durfte die Schule nicht mehr betreten.

Von einer regelmäßigen Arbeit hielt der renitente Knabe zu dieser Zeit allerdings auch nicht besonders viel. Shaguarama’s. Louis, the Global Village. the Goldmine und Black Prince waren die Clubs in jener Zeit, in denen er sich weitaus lieber aufhielt.

Wenn er sich verspätete, um nach Hause zu kommen, übernachtete er einfach in einem abgestellten Zug am Waterloo Bahnhof. Hier lernte er seine neuen Freunde kennen, die seine Ideen in Sachen Moden und Maskeraden nachträglich beeinflußten. „Ich erinnere mich noch, als David Bowie mit dem Zug von einer Amerika-Tournee zurückkehrte. Wir warteten alle am Bahnhof, um ihn zu sehen. Soviel verrückte Leute in bunten Klamotten hatte ich noch nie auf einem Haufen gesehen.“

Ein Mädchen namens Jane war es, die ihn mit Troy bekanntmachte. Er bekam einen Job in einem Geschäft im Chelsea Antique Market, verkaufte dort Punk-Klamotten und Anzüge aus der Swing-Ära. Hier traf er unter anderem auch Bob Marley, der mit Troy befreundet war.

Es war eine Zeit, in der ständig etwas Neues in der Luft lag. Immer und irgendwo passierte etwas. Boy George lief wie eine lebende Litfaßsäule herum, trug um den Hals Hundeketten und statt Kleidern Plastiktüten.

Mal war er ein Punk, mal ein Ted. Schlägereien in den Clubs und auf der Straße standen nahezu auf der Tagesordnung Boy George machte ailes mit, verpaßte nichts, schminkte sein Gesicht grün oder blau, schockierte seine nichtsahnenden Mitmenschen und fiel aus dem Rahmen, wo immer er sich zeigte.

George war absolut angesagt, voll auf der Höhe seiner Zeit. Obwohl er kaum Geld in der Tasche hatte, war er in jedem Club das Ereignis – ein Typ. der schon von weitem die Aufmerksamkeit auf sich zog und jederzeit leicht Kontakt fand.

Kein Wunder, daß auch Malcolm McLaren, einer der Drahtzieher des Londoner Untergrunds, auf diesen Paradiesvogel aufmerksam wurde. Damals war er unter anderem Managen von Bow Wow Wow. „Er engagierte mich für Bow Wow Wow als Sänger, verpaßte mir den Namen Lieutenant Lush. Ich glaubte, das sei die Chance meines Lebens. „

Zunächst sah auch alles gut aus. Nach einigen Auftritten.‘ darunter in Manchester und im Londoner Rainbow. sollte es auf eine groß angelegte England-Tournee gehen. „Die Fans spielten verrückt. Als ich auf die Bühne kam, meinten viele, ich sei Annabella „.erzählt Boy George. Die englischen Musikjournalisten feierten ihn als kommenden Mann – aber Malcolm McLaren hatte seine Meinung schon wieder geändert. Die England-Tournee wurde abgeblasen.

„Bis heute weiß ich nicht genau, warum er mich überhaupt in der Gruppe haben wollte. Ich giaube, er war mit Annabella unzufrieden und wollte ihr einen Schuß vor den Bug verpassen. Die Rechnung scheint für ihn aufgegangen zu sein – denn so plötzlich wie er mich engagiert hatte, feuerte er mich auch wieder. „

An diesem Punkt bekam Georges Leben eine unverhoffte Wendung zum Positiven. Die renommierte Royal Shakespeare Company suchte für die Produktion des Theaterstücks „Naked Robots“ einen echten Punk; Boy George wurde von Freunden den Theaterleuten empfohlen. Als Maskenbildner am Theater wurde er dann gar fest engagiert.

Hier lernte er auch den Boutiquen-Besitzer und Modeschöpfer Peter Small kennen. Von ihm bekam er wenig spater einen Job als Dekorateur und die Chance, sein Talent als flippiger Modedesigner zu beweisen. George erwies sich auf diesem Gebiet als so einfallsreich und originell, daß er bald einen eigenen Laden, das „Foundry“ leiten durfte.

Und noch etwas wendete sich für ihn schließlich zum Guten. So kurz sein Mitwirken bei Bow Wow Wow auch gewesen war – die Talentsucher der Plattenfirma hatten das modische Chamäleon nicht vergessen.

Ashley Goodall von EMI war der erste, der dem nicht einmal 20jährigen einen Vertrag als Solist anbot. George lehnte damals noch ab. Die Idee begeisterte ihn nicht. Aufgewachsen in einer Familie, die trotz aller Schwierigkeiten zusammenhielt, war er es gewohnt, mit Leuten zusammenzuarbeiten, auf die er sich verlassen konnte. So konnte er sich einfach nicht dafür begeistern, im Alleingang eine Platte aufzunehmen.

Doch der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Musik wollte er machen. Doch dafür brauchte er eine Band. Wo sollte er sie finden?

Er fand sie – unter seinen Freunden in den Clubs und durch Mundpropaganda. Einmal auf den Geschmack gekommen, ließ er nun nicht mehr locker. Innerhalb weniger Monate stellte er eine Band auf die Beine: Der Culture Club war geboren. Modisch und musikalisch sollte die Gruppe von nun an genau das praktizieren, was Boy George ihnen in den vergangenen Jahren vorgelebt hatte: Ein kunterbuntes, hemmungsloses Vermischen von Stilen, ein ständiger Wandel durch wechselnde Moden und Maskeraden.

Im November 1982 schafften er und seine Freunde mit der dritten Single „Do You Really Want To Hurt Me?“ den Durchbruch. Aus dem belächelten Paradiesvogel war ein respektierter Musiker – und vor allem der Vorreiter einer neuen Mode geworden.