Brüder im Blues


Zufall oder göttlicher Plan? Ausgerechnet in der Hohezeit des Zwei-Takters erlebt der Zwölf-Takter seine bislang prächtigste Blüte. Ob Gary Moore, U2, Santana oder Eric Clapton - alle holen sich jetzt die alten Blues-Haudegen von B. B. King bis John Lee Hooker ins Studio. Bei der Frage, ob es ihnen um die Wurzeln geht, oder ob den Pop-Größen schlicht nichts mehr anderes einfällt, bekam ME/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake den Blues.

JLee Lee Hooker, Boogie-Champ in der Ein-Akkord-Klasse, hat vor zwei Monaten sein erstes Video gedreht – im reifen Alter von 70 Jahren.

Vermutlich haben die meisten von uns inzwischen auch schon das Video zu Gary Moores neuer Single „Pretty Woman“ gesehen. Der hünenhafte schwarze Mann mit der Flying V, der sich ein Gitarren-Duell mit Moore liefert? Das ist Albert King. Mr. King ist 67 Jahre alt.

Ein weiterer King – Gerüchten zufolge Alberts Halbbruder – ist unlängst von einer mehrmonatigen Welttournee mit U2 zurückgekehrt. Noch nie zuvor hatte er vor so vielen Leuten gespielt: der große B. B. King, 64.

Im Januar gab Eric Clapton eine Reihe von Konzerten in der Royal Albert Hall. Einer seiner Gäste, verkündeten die Kritiker einstimmig, ließ „Slowhand“ tatsächlich ziemlich „slow“ aussehen: Buddy Guy, 54.

Was ist hier eigentlich los? Ein neues Blues-Revival, das ist es, das flächendeckendste seit dem Blues-Boom der Sechziger. Eine verspätete Würdigung der Männer, die Rock erst möglich machten. Zum Repertoire des verstorbenen Muddy Waters gehörte ein Stück mit dem Titel „The Blues Had A Baby And They Called It Rock And Roll“. Nun dürfen sich auch die Väter des Rock, zumindest diejenigen, die noch am Leben sind, ein Stück des Kuchens abschneiden.

Die Sache ins Rollen brachte letztes Jahr John Lee Hookers Album THE HEALER, erschienen auf dem winzigen Label Silvertone. Blues-Puristen konnten sich mit der Platte, auf der Hooker zusammen mit Samara, Bonnie Raitt, George Thorogood, Robert Cray, Los Lobos und Canned Heat zu hören ist, überhaupt nicht anfreunden. In einer Kritik wurde Silvertone beschuldigt. Hookers Musik „dem futschen Glanz prominenter Ai, hängeschikler“ geopfert zu haben. In Wirklichkeit war niemand dem großen Namen hinterhergelaufen. Sie alle hatten, unabhängig voneinander, den Wunsch geäußert, das Mikro mit John Lee teilen zu dürfen.

Während der letzten zehn Jahre hat sich Hooker mit den verschiedensten Genre-übergreifenden Projekten vergnügt. Er pfiff auf die im Country immer noch beinharte Rassentrennung und sang mit Hank Williams Jr. auf dessen Album MAJOR MOVES, trieb sich mit einer Rolle in Pete Townshends Musical IRON MAN in den Seitengassen des Broadway herum und hielt durch seine Beteiligung am Soundtrack zu Spielbergs „Die Farbe Lila“ schließlich auch noch Einzug in Hollywood.

Carlos Santana wiederum iieß sich von Hooker zu einer neo-klassischen Komposition für Bluesmann und Symphonieorchester inspirieren. Man stelle sich vor: befrackte Cellisten, die das legendäre Boogie-Woogie-Riff hemntersägen. (Santana: „Hookers Musik gehört zur klassischen Musik Amerikas. Und dieses Zeug muß erhalten bleiben. Mann!“)

In welchem Kontext auch immer: John Lee Hooker spielte fröhlich seinen einen Akkord, zerlegte ihn in kantige Rhythmen und stampfte zur Betonung mit dem Fuß. Kurzum, THE HEALER fiel durchaus nicht aus dem Rahmen Hooker’scher Aktivitäten, und das sauertöpfische Gebrummel der Puristen war eine vorhersehbare Reaktion.

Daß die Platte ein Hit werden könnte, hatte allerdings niemand erwartet. John Lee Hooker hatte nichts vorweisen können, was auch nur entfernt an einen Hit erinnerte, seit „Boom Boom“ 1962 in den US- Singles Charts bis auf Nummer 60 gekrabbelt war. THE HEALER machte es sich jedoch innerhalb kürzester Zeit in den amerikanischen Top 50 gemütlich und erreichte in den deutschen Charts einen sensationellen 18. Platz.

Unterdessen befand sich B. B. King auf Tour. Die Karriere von King, den manche für den einflußreichsten Gitarristen des Jahrhunderts halten, war eine unaufhörliche Berg- und Talfahrt. Als bettelarmer Teenager hatte er auf den Baumwollfeldern von Mississippi gearbeitet, 35 Cents für 100 Pfund – den Blues zu kriegen war unter solchen Bedingungen kein Problem.

Sein Aufstieg war dagegen ein langer, zäher Kampf. Bis Mitte der Sechziger spielte er ausschließlich vor schwarzen Zuhörern; weißen Gitarristen war er jedoch auch damals schon ein Begriff. Keine Blues-Platte ist je gründlicher studiert worden als LIVE AT THE REGAL, sie hat die Maßstäbe setzenden Spieler der Sechziger – Clapton, Beck. Hendrix, Peter Green, Mick Taylor und Johnny Winter – ebenso beeinflußt wie deren heutige Pendants, die Brüder Stevie Ray und Jimmy Vaughan oder Jeff Healey.

Und trotzdem: Noch vor drei Jahren hätten sich B. B. King und U2 wahrscheinlich wenig zu sagen gehabt. Blues war für das Quartett aus Dublin ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre musikalischen Roots reichten nicht tiefer als bis zu Patti Smith und dem ersten Television-Album. Für sie war der Blues ebenso hoffnungslos altmodisch wie die Heroen der Sechziger, beides Teil der Vergangenheit, die wegzufegen sie aufgebrochen waren.

Als die Band erwachsen und weltoffener wurde, legte sie auch Schritt für Schritt ihre musikalischen Scheuklappen ab. Eine zentrale Rolle dabei spielte die Freundschaft der U2-Masterminds Bono und The Edge zu Keith Richards. Als man sich zu privaten Jam-Sessions traf, mußten die Iren feststellen, daß ihnen das Handwerkzeug fehlte. Richards Repertoire umfaßte etwa tausend Blues-Songs – U2 kannten keinen einzigen. Sie begannen, ihre Hausaufgaben zu machen, kauften halbe Plattengeschäfte leer und betrieben musikgeschichtliche Studien. Als B. B. King zu einem Konzert nach Dublin kam, hatte sich der Wissensstand beträchtlich verbessert, und der Blues-Gitarrist war mehr als baff, die erfolgreichste Band der Welt nach seinem Auftritt in der Garderobe vorzufinden.

Schwer zu sagen, wer schüchterner war. Man beäugte sich lange in ehrfürchtiger Stille, doch schließlich bekamen sie den Mund auf. „Bono und ich hatten ein nettes Gespräch“, erinnert sich B. B., „und ich sagte zu ihm: „Wenn du demnächst einen Songs schreibst, denkst du dann an mich?'“ Bono ließ sich nicht zweimal bitten, verfaßte prompt „When Love Comes To Town“ und engagierte King für die letztjährige U2-Tournee.

King preist die Zusammenarbeit immer noch in den höchsten Tönen:

„Wir wurden ein großartiges Team. Nicht nur gut“.es war phantastisch. Phantastisch! Ich habe noch nie in meinem Leben so gerne mit jemandem gearbeitet.“ Ein Gefühlsüberschwang, der nur durch B. B.’s Bericht über das zweite große Ereignis des letzten Jahres etwas abgeschwächt wird, seiner Einladung ins Weiße Haus: „Mr. Bush kam für mich gleich nach dem Lieben Gott. Ihn zu treffen war ein unbeschreibliches Erlebnis, das einzige, was die Zusammenarbeit mit U2 in den Schallen stellte.“

Albert King, ein zäherer Bursche, war nicht sonderlich beeindruckt von dem Angebot, mit Gary Moore ins Studio zu gehen. Er reagierte genauso wie Albert Collins (57), der zweite Blues-Gigant auf Moores Album STILL GOT THE BLUES: „Gary wer???“ – Thin Lizzy (Moores ehemalige Gruppe) sind in der texanischen Blues-Szene etwa genauso bekannt wie böhmische Dörfer. Albert King verlangte einen Haufen Geld, und zu seiner Überraschung zückte Moore ohne mit der Wimper zu zucken die Brieftasche. Worauf Albert sich unverzüglich seine Gitarre schnappte, eine Concorde bestieg und noch am selben Abend im Studio eintraf, nicht gerade in der friedlichsten Stimmung. „Also, was geht hier ab? Was habt ihr zu bieten?“

Moore erklarte stotternd, man arbeite an einer Version von Kings altem Hit „Pretty Woman“. „Spiel mal!“ dröhnte King. Die Bandmaschinen setzten sich gehorsam in Bewegung – für etwa 60 Sekunden. „Halt das Band an, Mann!“ schrie der Bluesmann wütend.

„Es war sehr peinlich“, erinnert sich Moore. „In der ersten Zeile war ein Wort falsch. Statt ‚Sure as the rising sun‘ sang ich ‚She is the rising sun‘, und Albert ging an die Decke.“ King hatte außerdem etwas gegen das Bläser-Arrangement und bestand darauf, der Schlagzeuger würde den Beat verschleppen. „War selber mal Drummer. Mann. Ich kenn mich aus mit diesem Zeug.“ Gegen Ende der Session hatte man sich jedoch angefreundet, und Moore ist sicher, sein Geld gut angelegt zu haben. „Es hätte sich schon gelohnt, wenn er nur rübergekommen wäre und sich drei Tage mit mir unterhalten hätte.“

Moores neue Karriere als Bluesmann – im Mai begibt er sich mit seiner Band „Midnight Blues“ auf Europa-Tournee – ist, wie er offen zugibt, auf eine kreative Ladehemmung in seinem gewohnten Metier, dem Hardrock, zurückzuführen. Was macht man, wenn einem nichts mehr einfällt? Man spielt den Blues.

Moore hat seine Arbeit gewissenhaft erledigt, demonstriert die Ursprünge dieser Musik durch die Präsentation zweier Blues-Größen – und auch seine eigenen Beiträge, obwohl zwangsläufig nicht gerade authentisch, können sich daneben durchaus sehen lassen. STILL GOT THE BLUES ist wahrscheinlich das beste britische Blues-Album seit den großen Tagen von John Mayall. Trotzdem kann man sich natürlich fragen – Wer BRAUCHT so etwas?

Der schwarze Bluesmann Johnny Otis sieht die Angelegenheit ziemlich düster: „Sicher“, sagte ich zu Bob Hite von Canned Heat, einem sehr netten Mann, „sicher können Weiße den Blues nachsingen und nicht mal schlecht, aber kreativ sind sie nicht. Der Blues wird von Schwarzen gemacht.‘ Warum muß man dem schwarzen Mann auch noch das letzte Spiel aus der Hand nehmen?“

Eine gerechtfertigte Frage. Eine andere Frage ist auch nicht uninteressant: Warum finden sich schwarze Blueser immer erst dann im Scheinwerferlicht wieder, wenn weiße Rockstars befinden, die Zeit sei reif für ein weiteres dieser periodischen Revivals? Das plattenkonsumierende Publikum, unfähig oder ungewillt, nach den Originalen Ausschau zu halten, trifft dabei mehr Schuld als die Musiker.

Als die Rolling Stones in den Sechzigern nach Chicago kamen, um in den Chess-Studios. der Heimat des Blues, aufzunehmen, hofften sie. eines ihrer Idole zu treffen, zum Beispiel Muddy Waters, nach dessen Song „Rolling Stone“ sie sich benannt hatten. Und sie trafen ihn. Er stand auf einer Leiter und strich die Decke des Studios. So weit war es mit ihm gekommen.

Das von weißen englischen Bands und ihren amerikanischen Gegenstücken (Paul Butterfield, Mike Bloomfield, Canned Heat etc.) entfachte Interesse holte Muddy von seiner Leiter wieder herunter, aber – wie sich denken läßt – er verkaufte nie auch nur annähernd so viele Platten wie sie. Und selbst für die bekam er laut eigener Aussage nicht einmal Tantiemen. Erstarb 1983.

Der „echte“ Blues hat den großen Plattenfirmen selten das große Geld gebracht, weshalb es auch ermutigend ist, daß CBS gerade eine Doppel-CD mit allen 41 Aufnahmen herausgebracht hat. die Robert Johnson in seinem Leben gemacht hat. Noch überraschender ist die Nachricht, daß Virgin ein eigenes Blues-Label, Point Blank, ins Leben gerufen hat. das sich vor allem auf den modernen Blues konzentrieren soll. Als erstes wurde eine Band aus Chicago unter Vertrag genommen, die hypermodernen Chromleisten-Blueser The Kinsey Report.

Die Gebrüder Kinsey, Söhne des Blues-Sängers Big Daddy Kinsey, haben unter anderem ein Stück namens „Answering Machine“‚ im Programm, in dem sie berichten, wie schwierig es sein kann, wenn man seinen Börsen-Broker erreichen will, um ein paar Aktien abzustoßen – ein Problem, das sich seinerzeit auf den Baumwollfeldern vergleichsweise selten stellte.

Point Blank wird von dem langjährigen Blues-Enthusiasten John Wooler geleitet, der auch die Verbindung zwischen Albert Collins und Gary Moore herstellte. Wooler hofft, daß Moores STILL GOT THE BLUES das öffentliche Interesse soweit wekken wird, daß sich die Leute auch einmal dem real thing zuwenden. Jeff Healeys meteorenhafter Aufstieg hat bereits geholfen, und auch die kürzliche US-Tour von Stevie Ray Vaughan und der Jeff-Beck-Group hat einmal mehr gezeigt, daß die Blues-Gitarre so lebendig ist wie eh und je.

„Warum passiert das Ganze gerade jetzt?“ lautet die (rhetorische) Frage von Gary Moore. „Ich glaube, es ist ein Zeichen der Zeit – diese Musik befriedigt das Bedürfnis nach emotionalem Inhalt und einer Kraft, die dich bewegen kann. Die Achtziger wurden größtenteils von Musik dominiert, bei der man nicht zuzuhören brauchte. Dire Straits. New Age. Bequeme Lehnstuhl-Musik. Blues dagegen ist echt und intensiv.“

Rein technisch gesehen, ist der Blues auch „einfacher“ zu spielen als viele der in letzter Zeit entstandenen Hardrock-Formen. Die notenstrotzende Fretboard-Gymnastik eines Yngwie Malmsteen und seiner Jünger deutet in die entgegengesetzte Richtung, hin zu bombastischer Paganini-Virtuosität. Moores Blues-Statement ist auch eine Reaktion auf solche Entwicklungen. Eric Clapton, der sein eigenes Blues-Album im Dezember aufnehmen will, ist auf seiner Seite, argumentiert, daß der Blues „fähig ist, jede emotionale Schattierung auszudrücken“, und skizziert die Essenz seiner „Slowhand“-Philosophie: „Du bist ein um so besserer Musiker, je weniger Noten du spielst. „

Und obendrein bietet der Blues dem angegrauten Rockstar einen weiteren Vorteil: daß man mit ihm in Würde alt werden kann. Was John Lee Hooker mit jedem gebrummelten Ton beweist.