Can


Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit sich die Kölner Gruppe von der Bühne verabschiedete. Ihr musikalisches Erbe aber lebt weiter – besonders bei jungen Bands in England. Zudem stellt sich bei näherem Hinsehen heraus, daß Can auch 1982 noch existiert wenn auch in unorthodoxer Form. Steve Lake schnürte seinen Rucksack und folgte ihren Spuren quer durch Europa. Als wir die Hamburger Markthalle betreten, in der heute abend Rip Füg & Panic auftreten, verklickere ich einem Freund gerade die Einzelheiten meines nächsten ME-Auftrages. „Ich soll etwas über Can schreiben, was aus ihnen geworden ist. Dabei habe ich seit Jahren keinen mehr von ihnen gesehen.“ Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, als sich eine kleine Gestalt direkt vor meiner Nase eine Marlboro anzündet Heller Wahnsinn! Jaki Liebezeit, Cans ehemaliger Drummer, was für ein Zufall. , Jaki braucht ein paar Minuten, um mich unterzubringen. „Du hast früher viel m ehr Haare gehabt, “ meint er schließlich. , Hatten wir doch alle Mitte der 70er,“ sage ich, worauf von ihm ein entschieden würdevolles „Nein“ kommt – vermutlich, um mir zu beweisen, daß er kein Modekasper sei. „Ich habe schon seit 1975 kurze Haare.“ Ich hatte vergessen, daß Can? schon immer Avantgarde waren. Jaki hält sich gerade wegen eines Fernsehtermins in Hamburg auf: Hin und wieder spielt er in Joachim Witts Band. Was ihn an diesem Dienstag in die Markthalle getrieben hat, ist ein Anflug von Nostalgie. Als er nämlich Neneh Cherry, Füg Füg’s Sängerin, zum letztenmal sah, war sie gerade drei Jahre alt Ihr Vater, der unf vergleichliche Jazz-Trompeter Don Cherry, hatte sie seinerzeit zu einem Can-Gig mitgebracht. „Neneh tritt heute abend nicht aul,“ muß ich ihn enttäuschen. „Sie ist in Schweden, sie erwartet ein Baby.“ Jaki reißt die Augen auf. „Kann das sein ? Sie kann doch höchstens… hm, ja, sie muß inzwischen 18 sein. Dann ist Don also schon Großvater. Hah!“ ¥dnder. wie die Zeit vergehtMit Can ist das nicht anders. Ich weiß nicht, welche Bedeutung die Band hierzulande tatsächlich hatte. In Kennerkreisen galten die Londoner live-Auftritte der Band jedenfalls stets als Offenbarung. Die Saat ging auf in Form von Bands, die aus ihrem Einfluß keinen Hehl machten: John Foxx‘ Ultravox, die Buzzcocks, Alternative TV, Public Image Ltd. und insbesondere Joy Division. Nun haben die meisten dieser Bands entweder schon das Zeitliche gesegnet oder sind in eine völlig andere Richtung mutiert. Schade irgendwie, denn wenn ich mir heute die frühen CAN-Aufnahmen anhöre (jetzt als DELAY 1968 veröffentlicht), kommen sie mir vor wie ein Fisch auf dem Trockenen, überhaupt nicht mehr im Einklang mit den nachwachsenden Musik -Trends. .Damals, 1968, meinten wir, das Material sei zur Veröffentlichung nicht genug,“ erklärt Jaki, „während es heute irgendwie schon wieder zu passen scheint.‘ Jaki versteht es, seinen Aussagen eine Bedeutung zu geben, als handele es sich um Zen-Sprüche, die du dir pflichtschuldigst erstmal durch den Kopf gehen läßt. Was wollte er bloß damit sagen? Daß sich der Standard der modernen Musik auf niedrigstem Niveau befindet? Oder daß wir uns heutzutage einfach nicht mehr so verrückt machen um Dinge wie »Technik“ und „Groove“ usw….? Ich persönlich würde weder dem einen noch dem anderen zustimmen. Vor drei oder vier Jahren hätte DELAY noch weitaus besser in die Landschaft gepaßt. Eine Woche ist im Popbusiness eben eine verdammt lange Zeit. Hört man DELAY gleich im Anschluß an – sagen wir – ABC’s LE-XICON OF LOVE oder TOO RYE-AY von Dexy’s Midnight Runners, so glaubt man an ein Echo aus einer anderen Zeit. Einer der Umstehenden fragt Jaki, ob Can irgendwann mal wieder zusammen spielen würden. ,Nein, „sagt er. Immerhin, Jaki lebt nach wie vor in dem ehemaligen Kino-Gebäude, in dem sich auch das Can-Studio befindet. Und er hat gut zu tun. Zusammen mit den Eurhythmics hat er gerade ein Album fertiggestellt, produziert von Conny Plank; er arbeitete zusammen mit Irmin Schmidt an der Musik für den neuen Film mit Marius Müller-Westernhagen – und von seiner Phantomband gibt es ebenfalls ein neues Album, gemischt vom ehemaligen Can-Bassisten Holger Czukay. Die Gruppe Can, so stellt sich heraus, ist eigentlich gar nicht eingegangen sie hat lediglich ihre Wurzeln weiter ausgebreitet. „Du bist älter geworden, Steve“, begrüßt mich Holger Czukay, als er am Kölner Bahnhof mein Gepäck aus dem Zug entgegennimmt. „Du siehst wirklich anders aus.“ Holger hingegen sieht noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte – bis auf die schrille Sonnenbrille. Er ist gut in Form, der Zapata-Bart unverändert, dasselbe spitzbübische Lächeln. Als wir uns zuletzt sahen, das muß 1975 gewesen sein, war ich doch tatsächlich mitten im Interview eingeschlafen. Nicht etwa, weil er mich gelangweilt hätte, um das gleich klarzustellen. Aber ein Jetlag und größere Mengen Retsina in einem griechischen Restaurant hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Ich war aus New York gekommen und geradewegs zum Can-Gig gefahren, im Anschluß daran dann noch zum Interview. Holger war weit davon entfernt, mein Verhalten übel zu nehmen (zumindest waren das ja schlechte Tischmanieren), reagierte entschlossen, marschierte zum nächsten Hotel und bezahlte mir ein Zimmer für die Nacht. Eine Geste, die ich ihm nie vergessen werde. An diesem schwülen Tag in Köln befindet er sich jedoch auf dem Kriegspfad. Er ist gerade zurück von einer fruchtlosen Geschäftsreise nach London, wo er nicht eines seiner Projekte an den Mann bringen konnte: Weder solo noch mit Jan Wobble noch mit der japanischen Sängerin Phew konnte er bei irgendeiner englischen Schallplattenfirma landen. „Es war echt zum Kotzen,“ meint er. „Diese Leute von den Plattenfirmen taugen ja nicht mal fürs Militär!“ Ich muß darüber lachen, aber Holger meint es bitterernst. „Nein, wirklich, diese sogenannten A&R-Leute sind es nicht m al wert, daß m an sie aul die Falklands schickt.“ Er kommt so richtig in Fahrt, also lehne ich mich entspannt zurück und lausche seinen Worten. Wenn bei Holger „Der Kommentar“ auf dem Programm steht, kommt diese Predigt so oder so ungeachtet der Frage, die du ursprünglich gestellt hast. Er hackt noch eine halbe Stunde lang auf der englischen Plattenindustrie herum. Haben diese Ignoranten überhaupt die leiseste Vorstellung davon, wieviel Arbeit er in seine Kompositionen steckt?! Sind sie sich darüber im klaren, daß er manchmal Jahre braucht, bis ein Stück vollendet ist?! Daß er sich sogar die Mühe macht, wildfremde Leute von der Straße zu holen, um ihnen seine Musik vorzuspielen?! Und all das, um sich von diesen Spinnern, diesen Schwachköpfen eine Abfuhr zu holen?! Das ist zuviel! Aber langsam regt er sich dann doch wieder ab. Kein Zweifel, England kann man in der Pfeife rauchen. Aber da gibt es ja glücklicherweise noch … Japan. Ah, das ist ein Land! Gefeiert hat man ihn dort und wie einen Künstler behandelt Die Leute verstehen seine Musik. Wundervolle Menschen dort! So sensibel. Wie Blumen. Und erst ihr Sinn für Humor! Holger ist nicht mehr zu bremsen. Als wäre er schon immer ein Japaner gewesen, der dies aber erst in dieser Minute herausgefunden hat. Er ist geradezu vernarrt in seine Sessions mit Phew, dieser unergründlichen Chanteuse aus Japan, die zusammen mit Holger und Conny Plank ein Album improvisierte. Vielleicht gibt’s da demnächst sogar ein paar Gigs. Mit Phew und Jah Wobble. “ Mit den beiden hatte ich wieder dasselbe Gefühl wie an-‚ fangs mit Can. Überhaupt keine Diskussionen um die Musik, Wobble und ich erzählen uns immer nur Witze.“ Holger fragt, ob ich Public Image mag. Ich sage, daß mir auf METAL BOX jene Sequenzen gefielen, die wie Second Hand-Can klingen. Aber Holger will nichts wissen von Gurus und Jüngern. „Manchmal klingen sie wie Can, das stimmt. Aber das ist, glaube ich, eher eine Sache des Feelings. Jaki und ich, wir stehen beide jedenfalls auf Public Image, wir sind uns darin einig, : daß FLO WERS OFROMANCE zu den besten Alben der letzten Jahre gehört.“ Über Jaki Liebezeit kommen wir nahtlos zum Thema Phantomband. „Also, Irmin und ich sind uns darin einig, daß wir nie Fans der Phantomband sein werden. Und als Jaki mich anriet und bat, ihre neue LP abzumischen, sagte ich (schmerzvolle Stimme) „Oh, Jaki, muß das wirklich sein?“ Und er: Ja, ich denke schon, da kriegst du mal he andere Perspektive.“ Holger erinnert sich lustvoll, wie er ins Studio kam, und die Musiker ihn instruierten, wie sie sich den Sound so vorstellten… aber .. .ha, ha, ha … er habe überhaupt nicht zugehört! Beim Gesang schnippelte er beispielsweise Worte raus und fügte sie zu völlig neuen Sätzen zusammen, nahm ganze drei Sekunden Percussion aus einer fünf Minuten langen Drumspur heraus und so weiter… Jaki meinte nur: ‚Hm… mir war noch gar nicht klar, daß man die Musik auch so hören kann…!‘ Und das… (Holger hat jetzt vor lauter Aufregung glänzende Augen) … ist genau das, was ich an Jaki so schätze. Er ist im besten Sinne des Wortes naiv, und diese Klarheit von ihm hat mich wirklich ungeheuer beeinflußt.“ „Ich weiß noch, als wir mit Can anfingen, da war ich so vollgestopft mit dem Wissen über diese ganze Moderne Neue Musik – Stockhausen und , so weiter – und konnte eigentlich noch immer nicht Boss spielen. Und Jaki meinte immer, Warum spielst du eigentlich im mer so viele Noten? Wahrscheinlich, weil du nach der richtigen suchst. Versuchs doch einfach mal mit einer, dann werden wir schon sehen, was passiert…‘ Was mich an DELA Y so fasziniert, ist die Tatsache, daß diePlatte ge rade die Periode von Can einlängt, in der wir alle entdeckten, wie wir miteinander Musik machen konnten, es besitzt echte Frische.“ Die dann – zumindest meiner Ansicht nach – irgendwann Mitte der 70er fahre versandete. Als die Besetzung nämlich durch Perkussionist Reebop Kwaku Bah und Bassist Rosko Gee erweitert wurde und Can gefährlich nahe daran war, sich in einen Tramc-Ersatz zu verwandeln. Der Gesang auf dem REACH OUT-Album beispielsweise war reinstes Winwood-Imitat. Mit dieser Platte erreichte die Band wohl ihren Tiefpunkt. Zu jener Zeit hatte sich Holger bereits bei Can ausgeblendet. „Also ich habe immer noch Kontakt zu den beiden, ich will ihnen auch nichts am Zeugflikken. Sie brachten durchaus ein ganz spezielles Feeling in die Musik, das sich live vermutlich besser durchsetzte als auf Platte. Für mich sind die ersten Can-Alben die besten, weil da noch so eine Wildheit zu spüren ist, eine gewisse Primitivität. Aber es gibt etwas sehr Wichtiges, was viele Bands erst kapieren müssen: PRIMITIV KANNST DU NUR EINMAL SEIN!Die Sex Pistols hatten das begriüen und hörten genau zum richtigen Zeitpunkt auf.“ Nächste Station: Nizza, Frankreich. Michael Karoli, der ehemalige Gitarrist von Can, holt mich ab. Das Haar steht ihm in kleinen Zipfeln vom Kopf ab. Er sieht aus, als habe er sich soeben aus dem Bett erhoben. Es ist gerade 18 Uhr. „Hello,“ sagt er schläfrig. “ Übrigens, was ich vergessen habe: Bist du eigentlich lunkie oder Alkoholiker?“ „Waaaas?‘ Die höchst originelle Begrüßung bringt mich doch leicht ins Schleudern. „Ein Junkie bin ich jedenfalls nicht.“ „Na gut,“ erwidert er, „dann gehn wir was trinken.“ Michael erklärt mir, daß er seinen Tag in 25 Stunden eingeteilt habe. Warum auch nicht. Jedenfalls kriegt er so eine Menge Sonnenaufgänge zu sehen, ehe er sich schlafen legt. Deshalb sind auch seine Augen auf Halbmast. Eine Stunde später sind wir in Cros d’Utelle, wo Michael zusammen mit seiner Frau Shirley in der weitläufigen Anlage einer Wassermühle aus dem 19. Jahrhundert lebt. Wir kommen bei Dunkelheit an, so daß mir die wahren Ausmaße erst bewußt werden, als ich am nächsten Morgen aufwache. Für einen Augenblick ist mir, als hätte es mich bereits in den Himmel verschlagen. Die zwei leben in einem Tal, Berge zur Rechten und zur Linken, die Farben schimmern in allen Schattierungen von grün bis grau – darüber im knallblauen Himmel duftig weiße Wolken. Durch den Besitz plätschert beruhigend ein Bach, das Geräusch wirkt wie Balsam, wie ein kühles Tuch auf der Stirn. Ich halte mich ein paar Tage hier auf, gehe mit dem Hund spazieren – zwischendrin stundenlange Gespräche mit Michael. Nachdem Can „neunzehnhundertirgendwann“ (keiner scheint die Chronologie so genau im Kopf zu haben) im Anschluß an eine Portugal-Tour von der Bühne abtraten, hat Michael nicht mehr live gespielt. Stattdessen investierte er seine Energie in die Restaurierung seiner neuen Bleibe und in die Einrichtung seines Studios. Seit Jahren schon bastelt er an einem Album – ein quälend langsamer Prozess, da er auch erst aus Fehlem lernen muß. Neben Karoli wird übrigens, die englische Sängerin Polly Eltes auf der Platte vertreten sein sie war seinerzeit Mitglied der Art-Rock Band The Moodies. Michael hatte sich schon vor Jahren dafür stark gemacht, daß Polly als Sängerin bei Can einsteigt, aber da gab es jede Menge gewichtiger Konkurrenten. Rückblickend erscheint es schon recht bizarr, daß ausgerechnet (der inzwischen verstorbene) Tim Hardin Interesse an dem Job bekundete. Ja, genau, Tim „If I Were A Carpenter“ Hardin. Ich habe Hardin einmal in London mit Can auftreten sehen und ich würde meine letzte Deutschmark dafür geben, wenn ich davon ein Tape auftreiben könnte. (Dies als Wink mit dem Zaunpfahl an alle Bootleg-Fanatiker.) Hardin hatte, glaube ich, „I Want More“ gehört und meinte daraufhin: „Die Gitarre ist fantastisch, aber der Gesang grauenvoll… sag‘ ihnen, daß ich das singe, wenn sie wollen.“ Tims ausgeklinkte Persönlichkeit schloß zu jener Zeit eine Zusammenarbeit leider aus. Aber sein Kommentar war bei MichaelKaroli, der bei diesem Stück sowohl für Gitarre als auch für Gesang verantwortlich war, nicht auf fruchtlosen Boden gefallen. Auf seinem neuen Album spielt er zwar Gitarre, Geige, Keyboards, Saxophon, Drums und Perkussion allesamt selbst die Vocals aber hat er Polly überlassen. Ich kann diese Produktion kaum beschreiben … ich fühle mich versucht, das Wort „organisch“ zu gebrauchen, wenn dieser Begriff nicht eher das Bild grauhäutiger Körnerfresser in alternativen Reformhäusern heraufbeschwören würde. Der Sound ist bestimmt durch zahlreiche Überspielungen, ist außergewöhnlich dicht – und Polly’s Gesang wirkt wie eine Sammlung surrealistischer Gemälde. Am stärksten hat mich jedoch die Farbigkeit der Instrumentierung gepackt. Denn hier klingt nichts im amateurhaften Sinne handgestrickt. Der schwache Punkt in derartigen Do-ityourself-Projekten liegt meistens bei den Drums. Aber Karoli hat diese Klippe ausgezeichnet umschifft. Das Drummen scheint für ihn zu einer Art Yoga-Übung geworden zu sein. Jeden Tag arbeitet er ein paar Stunden lang am Schlagzeug – und er klingt gut. Aufgrund der Schwierigkeit, Karolis 25-Stunden-Tag mit dem Zeitplan der Außenwelt in Einklang zu bringen, kam ich anderthalb Tage später als geplant in Avignon an. Aber Hildegard Schmidt stand gut gelaunt am Bahnhof. Über sie muß ich wirklich mal etwas Nettes loswerden. Sie war nämlich die einzige, die während dieser Can-Aktion nicht irgendwelche abfälligen Bemerkungen über mein Alter, meinen Zustand oder meine Laster machte. Als sie Irmin kennenlernte, war er auf dem besten Wege, einer der herausragendsten jungen deutschen Dirigenten zu werden. Sich selbst sah sie schon als künftige „Madame Chef d’Orchestre“. Stattdessen wurde sie nach diversen Windungen des Schicksals Manager einer Rockband und der Boss von Spoon Records, dem Label, das darauf behart, daß Can noch existiert. Hildegard scheint das so zu sehen : Wir sind so weit gekommen, haben so viel erreicht, warum verdammt nochmal aufgeben? Sie ist weiterhin wild-entschlossen, aus den vier Gründungsmitgliedern noch eine Can-LP rauszuholen – und ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß ihr das eines Tages auch gelingen wird. In der Zwischenzeit, da die Rechte am alten Can-Material nach und nach wieder an sie zurückfallen, baut sie sich über „Spoon“ ein einmaliges Archiv auf. So veröffentlichte das Label zum Beispiel gerade CANNAXIS, das erste Soloalbum von Holger Czukay, das lange vor MOVIES herauskam und inzwischen zum Sammlerstück geworden war. Das Label dient aber auch als Plattform für neue Projekte (z.B. mit dem Gitarristen Thomas Diethelm) und natürlich der Veröffentlichung von Irmins Filmmusiken. Die Schmidts wohnen in der Provence, in Roussilon, und zwar in einem Haus, das wunderschön zwischen sanften Hügeln gelegen ist. Als ich in diese Idylle hineinplatzte, schwebt Irmin gerade in den Sphären einer sinfonischen Komposition, die inzwischen Anfang November im Rahmen der Hamburger Musikwochen uraufgeführt wurde. Dieses Auftragswerk für den NDR ist Irrnins erste Orchester-Arbeit seit 1969. Michael Karoli übrigens war der Gitarrist in diesem Mammutwerk, ebenfalls dabei der Trompeter Manfred Schoof, Perkussionist Trilok Gurtu und ex-Soft Machine-Drummer John Marshall. Es galt die Untiefen zu vermeiden, in die sich diverse Klassik/Rock-Fusionisten in den vergangenen Jahren begeben haben. Wenn überhaupt jemand das Wissen, den Geschmack und die Erfahrung besitzt, so etwas in den Griff zu bekommen, dann ist es Irmin. Meines Wissens gibt es keinen anderen Rockmusiker, der über derart profunde Kenntnisse der Orchestermusik dieses Jahrhunderts verfügt. Die Wakemans, die Gary Brookers und all die anderen Konsorten scheinen nie irgendetwas von westlicher Musikkunst mitbekommen zu haben. Ich kann mir vorstellen, daß Irmin Schmidt ihren klebrigen Sinn für Romantik nur aus ironischer Distanz betrachten kann. Irmin zeigt mit die Partitur. Ich kann zumindest soviel erkennen, daß er die verschiedensten Kunstgriffe aus der Modernen Musik miteinander verknüpft hat. Die rhythmischen Passagen sind den Jazz- und Rockmusikem vorbehalten, „weil es immer unheimlich steil und bieder klingt, wenn du dem Orchester ein starkes Riff überläßt, einen Rockrhythmus… das klingt immer furchtbar plump und unbeholfen.“ Er ist glücklich, daß Michael Karoli für dieses Experiment zur Verfügung steht. „Ich möchte mit keinem anderen Gitarristen arbeiten …“ Dieser Gedankengang führt uns zu den anderen Mitgliedern von Can zurück, über die Irmin ebenfalls nur Positives zu berichten weiß. Irrnins LP FILMMUSIK 2 vereinigt zwar ein Can-Iine up, allerdings wurden die einzelnen Stükke in verschiedenen Studios eingespielt. Die Musiker waren nie an einem Ort zusammen. „Das war auch oft so, als wir die Can-Alben einspielten. Mir gefällt die Idee, unsere Band auf diese Art und Weise weiterexistieren zu lassen. “ Trotzdem hat die Vorstellung, wieder einmal ein Orchester zu dirigieren, wieder von ihm Besitz ergriffen. Komisch, auch Holger erzählte mir, daß er letztens wieder auf dem Klavier Beethoven gespielt habe. Es ist, als ob du mit deinen Eltern Frieden schließt, nachdem du die. notwendige Phase des Revoltierens abgeschlossen hast. Wie hatte es Holger doch ausgedrückt: „Primitiv kannst du nur einmal sein.“