Der Sänger, nicht der Song


„Rolling down the road…“ – kehlige Stimme, heißer Atem, wirre Haarmähne. „Rollin‘ down the road…“ – metallene Gitarrenklänge, dumpfer Trommelwirbel, stampfende Füße.

„Rollin‘ down the road…“ – reflektierendes Licht, ekstatische Bewegungen, wachsende Begeisterung. ,.

„Rollin‘ down the road…“

Sie durchquerte mit großen, schnellen Schritten den Raum. Sie trug nichts in der Hand, keinen Autogrammblock, keinen Kugelschreiber. Ihre Haare flatterten ein wenig hinter ihr her. Er sah sie auf sich zukommen, langbeinig und blond.

Er spürte diese Abwehrreaktion in sich aufsteigen, ein Gefühl, das konstant in ihm war und immer dann deutlich wurde, wenn hübsche Mädchen sich ihm näherten. Fans. Autogramme und Geschrei, jedesmal das Gleiche. Alles süße Puppen zum Vernaschen, die man so schwer wieder los wurde und die unheimlich an den Nerven zerrten, auf die Dauer jedenfalls. Er war misstrauisch gegenüber hübschen Mädchen. Sie waren entweder laut und dumm oder aber selbstsicher und kalt. Mit keiner von beiden Arten konnte er fertig werden. Er hatte schlechte Erfahrungen gemacht und war wenig geneigt, diesen schlechten Erfahrungen noch weitere hinzufügen. Er zündete sich eine Zigarette an.

ZUTRITT VERBOTEN …

Sie blieb vor ihm stehen. Eine Sekunde lang überlegte er, mit welchen Tricks sie wohl in diesen Raum hinter die Bühne gelangt sein mochte. Vielleicht Presse? Aber sie hatte nichts zum Schreiben bei sich. Er sah sie an.

Sie heftete ihre großen, hellen Augen auf ihn, ohne zu lächeln. Ihm kam dieser Blick vertraut vor. Julia hatte ihn immer so angesehen. Julia!

Dieses Mädchen stand hier mit den gleichen Augen und der gleichen Haltung wie Julia vor ihm. Der Gedanke an sie versetzte ihm einen Stich in die Magengegend. Er empfand ihn als unangenehm und traurig. „Ich heiße Annette“, begann das Mädchen unvermittelt. „Na, das macht ja nichts“, sagte er. „Und Du,“ fuhr sie unbeirrt fort, „wie heißt Du, wenn Du von Deinem Künstlernahmen einmal absiehst?“ „Ralph.“

Zum ersten Mal nannte er einem fremden Mädchen seinen richtigen Namen. Er hatte das spontan und ohne Überlegung getan – jetzt ärgerte es ihn. „Hör mal, Annette“, fuhr er sie unwirsch an, „willst Du nicht endlich zur Sache kommen? Du willst ein Autogramm oder Photo von mir? Oder wolltest Du nur einmal guten Tag sagen? Wer zum Teufel hat Dich hier eigentlich reingelassen? Kannst Du das Schild an der Tür lesen? Unbefugten Zutritt verboten!“

„Du musst Dich nicht so aufregen“, sagte sie freundlich. „Okay, Du hast recht, aber geh jetzt.“ „Ich möchte gern den Text von dem Song haben, den Du so unheimlich gut gesungen hat. Dann werde ich auch gehen.“

Ihre Stimme klang entschlossen. Sie sprach mit einer Bestimmtheit, mit der Julia zu sprechen pflegte … Julia. Julia. Julia.

Er drückte seine Zigarette aus und zündete eine neue an.

Annettes Art, ihn dabei zu beobachten und ihn mit ihren großen, hellen Augen zu betrachten, machte ihn befangen. Sie stand da so ruhig und friedfertig fremd und vertraut. Er hatte Lust, sie zu küssen. „Was also ist mit dem Text“, fragte sie leise.

Er fühlte eine vage Art von Enttäuschung. Sie war nicht seinetwegen gekommen. Sie wollte nur den Text. Sonst nichts.

„Du kannst ihn nicht haben“, sagte er. „Warum nicht?“

„Ich will ihn Dir nicht geben. Ich will nicht.“

„Gut“, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

Er sprang auf und hielt sie am Arm fest. „Bist Du traurig darüber?“ „Natürlich. Aber wenn Du ihn mir nicht geben willst, ist das nicht zu ändern.“ „Ich will nicht, dass Du jetzt weggehst, das ist alles.“

Sie hob den Kopf und sah ihn verwundert an.

„Willst Du mir sagen, warum?“ „Vielleicht. Wollen wir uns zusammen besaufen?“ Sie nickte.

Er ergriff ihre Hand, und zog sie, ehe sie recht begriffen hatte, mit sich fort. Ein Abend war gerettet! Als sie auf die Straße hinaustraten, hoffte er, dass er dieses Mädchen etwas länger behalten konnte als nur für einen Abend …

DER GROßE AUFTRITT

Eine unangenehme Hitze lag in dem kleinen Raum hinter der Bühne, in dem sich viel zu viel Menschen aufhielten, als dass man noch richtig hätte atmen können. Andy, Bernd und Paul bauten die Instrumente auf. Sie hatten neue Songs in ihrem Programm. Tagelang geübt, geändert und neu arrangiert. Die Sache sah gut aus. Andy hatte gesagt, dass dieser Abend ein Bombenerfolg werden würde. Der Plattenproduzent hatte von einer Langspielplatte gesprochen. Annette hatte für diesen Abend den großen Durchbruch prophezeit. Er stellte sich vor den Spiegel und kämmte sich nervös. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er wieder Lampenfieber. Annette brachte ihm eine angerauchte Zigarette. „Du musst Dich beeilen, Ihr seid gleich dran.“

Er nickte. „Holst Du mir einen Schluck Bier?“ „Ja.“

Ihre Stimme klang ruhig – eigentlich mehr beruhigend als ruhig. Sie verschwand, um das Bier zu holen. Er setzte sich auf den einzigen freien Hocker und wartete. Drei Gestalten erschienen in der Tür. Er sah flüchtig hin und erkannte erst auf den zweiten Blick zwei alte Bekannte von ihm. Er wollte aufstehen und ihnen entgegengehen, um sie zu begrüßen, als er Julia entdeckte, die hinter den beiden den Raum betrat. Er sah sie auf sich zukommen, langbeinig und blond, und ihre Haare flatterten ein wenig hinter ihr“ her. Er spürte, wie mit jedem Schritt, den sie näher kam, aus seiner Überraschung Ablehnung wurde. Ablehnung Julia gegenüber und Ablehnung gegenüber der Erinnerung, die plötzlich so penetrant deutlich wurde, dass er Lust hatte, wegzulaufen. „Wenn Du Sänger wirst“ hatte sie damals gesagt, „dann ist es mit uns aus. Ich will keinen Sänger als Freund. Du wirst ständig andere Mädchen haben. Ich mache das nicht mit. Entscheide Dich“.

Er hatte sich schnell entschieden. Er hatte an seine Karriere geglaubt und war bereit gewesen, andere Dinge dafür aufzugeben. Auch Julia. Aber es war schwer gewesen, und er hatte nie verstanden, warum sie ihn vor diese Entscheidung gestellt hatte. Er hatte vergeblich versucht, sie umzustimmen. Er erinnert sich sehr deutlich an diese miese Situation, als sie Schluss mit ihm machte, während Bernd, Andy und Paul draußen auf ihn warteten, um ihn auf seihe erste Tour mitzunehmen… Sie blieb vor ihm stehen, sagte kein Wort der Begrüßung oder Erklärung. Er wunderte sich nicht über ihre Haltung. Er kannte sie, er kannte alle ihre Mienen und Gesten, auch ihr Schweigen. Dieses Schweigen schien ihm bedrohlich. Er hatte die böse Vermutung, dass sie gekommen war, um Vergangenes rückgängig zu machen. Es tat ihm leid um sie. Sie war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war.

Sie sah seiner Annette ähnlich. Und ihre Rechnung würde nicht aufgehen.

„Deine Augen sind grauer geworden, Julia.“

Sie wollte etwas sagen, aber er wollte sie nicht hören. Er stand auf und drückte seine Zigarette aus. „Es ist besser, Du gehst wieder, Engel. Ich muss mich auf meinen Auftritt konzentrieren. Es ist wirklich besser…“ Er ließ sie stehen. Wo blieb Annette mit seinem Bier? „Andy, hast Du Annette gesehen?“ „Komm, Junge, wir warten auf Dich! Es ist dein Auftritt!“

„Ich habe Dich gefragt, wo Annette ist!“ „Das ist doch letzt egal! Willst Du denn Deinen verdammten Auftritt versäumen? Nun komm!“

Andy packte ihn am Arm und versuchte, ihn mit sich auf die Bühne zu zerren. Hier war etwas faul. Verdammt, er kannte auch Andy. Er riss sich los, stolperte, fing sich wieder. „Was ist los, Andy?“ „Okay“, sagte der mit resignierender Stimme. Er zog einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche hervor und reichte ihn Ralph. „Ich habe Julia im Flur getroffen. Ich glaube, ich war ein schlechter Ersatz für sie. Man kann nicht eine Person durch eine ähnliche ersetzen. Du musst verstehen, dass ich da nicht mehr mitspielen kann. Ich komme nicht zurück. Viel Erfolg und versäume Deinen Auftritt nicht. Annette.“

„Rollin‘ down the road …“ heisere Stimme, Rhythmus im Blut, verzerrtes Gesicht.

„Rollin down the road …“ du musst gehen, Engel, ich komme nicht zurück, versäume Deinen Auftritt nicht. „Rollin down the road…“ grelle Scheinwerfer, begeistertes Publikum, Geräusche, Betäubung.