Der Saft ist raus


Stecker raus, Dollars rein: MTVs unplugged brachte nicht nur hohe Einschaltquoten — es mauserte sich in kurzer Zeit zum Zauberwort für ungeahnte Platten- Umsätze. Doch der guten Idee, Play- back-müde Rockstars auf den goldenen Boden des Handwerks zurückzubringen, droht nun der Ausverkauf. Hinz und Kunz klampft ohne Kabel, der Platten- Markt wird überschwemmt mit saftlosem Geplänkel. ME/Sounds fordert: Wir wollen unseren Stecker wiederhaben!

Romantisch hätte sie beginnen können, die Geschichte über die Geschichte von „unplugged“. Zum Beispiel mit einer bettelarmen Band, die nichts außer ein paar zerschrammten Akustik-Gitarren besaß und die ein barmherziger Musikredakteurs J Ritter ins Fernsehen holte — was sie über Nacht nicht nur weltberühmt, sondern auch steinreich werden ließ. Doch das Leben ist selten romantisch, und das Musik-Business-Leben ist es so gut wie nie. Und auch die Invasion der Steckerfresser, die mittlerweile als Werbesticker „unplugged“ von jeder auch noch so eiernden Platte prangt (Hauptsache, eine Wanderklampfe spielt mit), begann als knallharte Produktions-Idee. Und deshalb beginnt die Geschichte von „unplugged“ auch mit einem MTV-Produzenten namens Alex Colelti — und seiner Idee.

Die Idee war simpel — und stammte nicht von Coletti. Der hat sie nur ausgebaut — zu einer Produktion. Zwei Video-Macher namens Bob Small und Jim Burns legten ihm eines Tages die besagte Idee auf den Tisch. „Unplugged“ hatten sie die genannt, und im großen und ganzen bestand sie daraus, ein paar New Yorker Songwriter in einem Raum einzuschließen, sie rumjammen zu lassen und die Resultate zu filmen. 1989 war das, und Alex Coletti, dem MTV-Produzenten, gefiel diese verrückte Idee, die alle anderen abgelehnt hatten. Der damals 28jährige ging den entscheidenden Schritt weiter: Es gehört nicht viel dazu, Songwriter aufWesterngitarren jammen zu lassen — das machen sie sowieso den lieben langen Tag. Aber wenn man den anderen die Stecker („Plugs“) rausziehen würde, den Playback-verwöhnten Pop-Stars, den technik-protzenden Rock-Bands und den dezibel-debilen Heavy-Metal-Fetzern — das, dachte sich Coletti, das wäre etwas ganz anderes… >¿

„Anfangs haben wir selbst nicht daran geglaubt“, erinnert sich Coletti an die mühsamen Gehversuche im Januar 1990. Nach langem Hin und Her hatten die MTV-Macher damals Syd Straw und die Kult-Popper“.Squeeze“ für die erste“.unplugged“-Show verpflichtet. „Es war ein einziges Chaos! Diffordund Tülbrook von .Squeeze’kamen ins Studio und hatten ihre elektrischen Gitarren umgehängt. Ich bin dann zu ihnen hin und hab etwas von .Also Jungs, ääh, wißt Ihr, … die Show soll… ääh, soll eine akustische Show werden.‘ Und dann konnte man die kleinen Lichter über ihren Köpfen angehen sehen! ,Ohh — Unplugged! Deshalb heißt die Show so!'“

Was Difford und Tillbrook damals nur mühsam kapierten, gehört heute längst zum Grundwortschatz jedes Teenagers zwischen Rotterdam und Tokio. „Unplugged“ ist innerhalb kürzester Zeit zu MTVs erfolgreichster Sendung geworden. Die unglaubliche Resonanz auf das frische Rohkost-Angebot inmitten fader Musik-Konserven hat selbst Coletti überrascht: „Wir hatten gehofft, daß es da draußen vielleicht ein paar wirkliche Musikfans gibt, die sowas interessieren könnte. Und plötzlich diese Einschaltquoten! Ich glaube, dieser Run ist eine Reaktion auf die ganze elektronische Musik, auf all diese Samplings und den ganzen Kram. Die Leute wollten wieder richtige Menschen beim Musikmachen sehen. „

Wo ein Markt ist. lassen die entsprechenden Produkte nicht langa auf sich warten. Inzwischen teilt sich die Musik-Welt auf — in diejenigen, die es schon gemacht haben und in diejenigen, die es unbedingt noch machen wollen. Was für Pop- und Rock-Bands früher ein Live-Album war. ist heute der einstündige akustische Auftritt vor hundertfünfzig Studio-Gästen. Ellenlang ist mittlerweile die Liste der Absolventen (z. B. Elton John, Aerosmith, The Cure, McCartney, R.E.M., Sting, L.L. Cool J) und noch länger die Liste derer, die gerne noch wollen. „Wir brauchen längst nicht mehr nach Bands zu suchen“, meint Alex Coletti. „die Gruppen stehen mittlerweile Schlange. „

„Mittlerweile“ — dieses Wort verwendet Coletti seit dem 24. Februar 1993. An diesem Tag sackte Eric Clapton acht „Grammys“ für sein während einer MTV-„unplugged“-Show mitgeschnittenes Album ein und wurde mit fünf Millionen verkauften Exemplaren zu Claptons späten Karriere-Höhepunkt.

Die Tatsache, daß Erics „unplugged“ den besten Clapton seit langem zeigte, lenkte den Blick schlagartig auch wieder auf jenen Aspekt, den dessen Macher von Anfang an betont hatten: Bei „unplugged“ trennt sich die Spreu vom Weizen. Ohne Stecker überlebt nur der, der wirklich was kann. „Man kann nichts, gar nichts kaschieren“, freut sich Coletti.

Nichts zu kaschieren hatten zum Beispiel unerwarteterweise Roxette, die im Januar dieses Jahres selbst bei Kritikern einen respektablen Eindruck hinterließen. Oder Mariah Carey, die zeigte, wie gut selbst 150 Zentimeter Frau singen können. Oder die Hühnerstall-Rapper von Arrested Development, die stromlos noch besser hiphoppten als mit Turnlable-Unterstützung. Oder Springsteen, der auch mit eingestöpselter Telecaster brachial-authentisch auftritt.

In all den Jahren, betont Alex Coletli immer wieder gerne, habe es nur zwei Bands gegeben, die effektiv nicht in der Lage gewesen wären.“.unplugged“ zu spielen. Namen will er nicht verraten. Wer’s verfolgt hat, weiß, wen er meinen muß: Beim Gepiepse von Slaughter & Winger im März ‚9 liefen selbst die Kamcralinsen vor Scham rot an, Madonna und Paula Abdul sind da schon klüger — sie lehnten in weiser Voraussicht die „unplugged“-Angebote ab.

Dabei läßt sich doch für den, der’s kann, die wirklich schnelle Mark machen. Genau drei Stunden hat Eric Clapton gebraucht, um seinen Million-Seiler aufzunehmen — den Stundenlohn kann man sich ausrechnen. „Ich würde lügen“, lacht Coletti, „wenn ich behaupten würde, daß nach Clapton nicht jeder, der bei ,unplugged‘ auftritt oder auftreten möchte, im Geiste schon die Kassen klingeln hört. „

Die klingelten auch bei Mariah Carey. die Ausschnitte aus ihrem unplugged-Auftritt im April 92 als EP auf den Markt brachte: Fünf der sechs nur mit Piano begleiteten Titel kamen in die Top 20. Oder Paul McCartnev:

„Das war das schnellste Album, das wir jemals eingespielt haben!“ Bei „Unplugged — the Official Bootleg“ hat sich McCartnev an seine Ankündigung gehalten, „nichts im Studio nachzubessern. All unsere Fehler sind zu hören“ — was hier vor allem deshalb tragisch endete, weil Pauls Frau Linda sowohl singen als auch die Maraca shaken durfte.

Was wieder einmal zeigt, daß kein auch noch so gutes Prinzip seine letzte Konsequenz verträgt. Vom Erfolg der MTV-Schiene und der ersten Welle von ,.unpluggeds“-CDs aufgeschreckt, glauben viele Rezessionsgebeutelten Platten-Manager, nun den Stein der Weisen gefunden zu haben. Die Folge: Der Markt wird überschwemmt mit Klimperklampfen-Platten. Als Gütesiegel hat „unplugged“ dann ausgedient. Matthias Reim hat den steckerlosen Bonus-Track schon auf der CD, die ersten „unplugged“-Sampler liegen bereits auf dem Wühltisch und auf Neil Youngs „Harvest Moon“ (die sowieso fast rein akustisch aufgenommen wurden prangt der nachträglich aufgeklebte „unplugged“-Sticker. Spätestens, wenn im Herbst die erste „Dubliners unplugged“ auftaucht, wird es Zeit, ihn wieder reinzustecken, den kleinen plug.