Der Wolf ist frei


Er hätte vielleicht Profisportler werden können, aber wem Gott solch eine Stimme gibt, der hat gar keine andere Wahl als Sänger zu werden. Mit fast 40 Jahren fühlt sich Mark Lanegan nun fit genug für einen Neuanfang in jeder Hinsicht.

Im Restaurant des Hamburger Hotels Atlantic sitzt ein ungemein entspannter Mark Lanegan. der sich auch von dem unaufhörlich schreienden Kleinkind zwei Tische hinter uns nicht aus der Ruhe bringen lässt. Er schafft es sogar, den Eindruck zu vermitteln, als wäre er wirklich gerne hier, um Journalisten Rede und Antwort stehen. Dabei hätte er zum Zeitpunkt seiner Promoreise durch Europa mit der Rock’n’Roll-Legende MC5 auf Tour sein sollen. „Gut, ich wäre heute natürlich lieber mit den MC5 auf der Buh ne „. gibt er zu. „Die Chance, mit einer der großartigsten Bands aller Zeiten dort zu stehen, bekommt man nicht alle Tage. Aber ich bin ja auch deshalb nicht mehr bei den Queens Of The Stone Age, damit ich mich voll auf meine Platte konzentrieren kann. Da wäre es sehr inkonsequent und widersprüchlich gewesen, wenn ich dem Lockruf der MC5 gefolgt wäre“, sagt der von harten Drogen mittlerweile weitgehend kurierte Kettenraucher und zündet sich die erste filterlose Camelan.

Die MC5-Show-Besucher Werdens verschmerzen, die Freunde von Lanegans herzblutgetränktem Wüsten-Blues dürfen aufatmen. Mit sechs Monaten Verspätung und gut drei Jahre nach dem guten, jedoch nicht restlos überzeugenden fünften Soloalbum field songs beschert der Ex-Screaming-Trees-Sänger seinen Fans mit bubblegum sein bislang vielleicht intensivstes Werk. Und das ist angesichts solch ergreifender emotionaler Achterbahnfahrten wie whiskey for THE HOLYGHOST (19941 oder I’LL TAKE CARE of you (1999], wo Lanegan den Songs seiner Helden zusätzliche Leidenschaft eingehaucht hat. ein durchaus gewagtes Statement. Doch Vergleichen mit der Vergangenheit will der blasse Mann gerne aus dem Weg gehen, weshalb er seine Platten nun seit der im November vergangenen Jahres vorausgeschickten HERE COMES THAT WEIRD CHILL-EP nicht mehr als Mark Lanegan herausbringt. Nun steht auf den Covers „The Mark Lanegan Band“. „Der neue Name dient ausschließlich dem Zweck, eine Trennlinie zwischen den vorherigen Alben und den neuen Sachen zu ziehen. Die alten Platten waren genauso Mikes Arbeit wie es mein Verdienst war. Do schien es nur foir, ein neues Kapitel einzuläuten. Mit ‚Mike‘ ist sein langjähriger Zuarbeiter Mike Johnson (Ex-Dinosaur Jn] gemeint, derwegen eigener Projekte nicht mehr involviert sein wollte und diesmal nur als Leadgitarrist in dem Song „Hit The City zu hören ist. „Ein anderer Grund ist auch, dass ich mit einem neuen Namen mehr Freiheiten habe, die unterschiedlichsten Experimente zu wogen. „Was bedeuten würde, dass er sich tatsächlich um die Erwartungshaltungen von Fans und Medien schert.

„Nein, es geht dabei nicht um die Erwartungen von anderen Leuten, es geht nur um meine eigene Sichtweise. Wenn ich eine zu starre Idee von dem habe, was ich mache, kann es passieren, dass ich gewisse Sachen gar nicht ausprobiere. Desholb wollte ich meine Idee von meiner Musik verändern, und dazu gehört eben auch diese Äußerlichkeit. Ich will immer alles machen können, auch wenn es im krassen Gegensatz zu meinem bisherigen Schaffen steht.“ Den Limitierungen des Singer/ Songwriter-Genres ist Lanegan schon länger überdrüssig, aber der Zusatz ‚Band‘ bedeutet nicht, dass hinter bubblegum eine fest definierte Gruppe steht. Lanegan bedient sich aus dem gleichen Pool von Musikern, auf den auch die Queens Of The Stone Age, Mondo Generator oder die Desert Sessions zurückgreifen. „Meine Songs entstehen auf die gleiche Weise wie bei den Desert Sessions“, erklärt er den Spirit der Mark Lanegan Band. „Bei den Queens herrscht im Studio konzentrierte Anspannung, ich will dagegen heute einfach freierarbeiten, mit mehr Spaß, ohne genau zu wissen, wohin die Reise geht.“ Mark Lanegan macht somit da weiter, wo er nie aufgehört hat, und erfindet sich doch neu. Da sind leichte Industrial-Rock-Anklänge („Methamphetamine Blues“) genauso zulässig wie ein an Tom Waits erinnernder Song („Wedding Dress“! oder ein straighter Rocker ä la Iggy Pop LSideways In Reverse“]. Die illustren Gäste, denen er seine rohen Songideen zur weiteren Veredelung übergab, sorgten für ein Maximum an Vielfalt. Der Großteil seiner aktuellen Reisegefährten war übrigens auch bei der letzten Desert Session zugegen: Dean Ween IWeen], Dave Catching (Mondo Generator], Josh Homme und Troy van Leeuwen (Queens Of The Stone Age), PJ Harvey, Alain Johannes (Eleven) und Chris Goss (Masters Of Reality], Die beiden Letzteren haben mit Lanegan auch für den Gänsehaut erzeugenden Sound des Albums gesorgt. Die Produktion klingt trotz der allgegenwärtigen Melancholie warm, und ein leichtes Dauer-Vibrato erzeugt wohlige Gefühle in der Magengegend.

Die Liste der Credits lässt sich mit u.a. Nick Oliven und Motly McGuire IMondo Generator], Izzy Stradlin (Ex-Guns N’Roses), Duff McKagan (Velvet Revolver], Aldo Struyf [Millionaire], Joey Castillo (QOTSA) und Greg Dulli (Ex-Afghan Whigs) noch beliebig lange weiterführen. Ein weniger bekannter, aber recht häufig auftauchender Name stößt Lanegan im Nachhinein bitter auf: Seine Ex-Frau Wendy Rae Fowler bedient auf bubblegum Tasteninstrumente und hat zwei Songs auch ihre Stimme geliehen. „Sie singt bei ‚Bombed‘ und ausgerechnet bei ‚Wedding Dress‘, eine nicht sehr lustige Ironie des Schicksals, erzählt Mark mit gequältem Lächeln. Schon vor einigen Monaten haben sich die beiden getrennt, doch die Wunde ist noch längst nicht vernarbt. „Die ersten Tage nach dem Split sind natürlich die schlimmsten, aber ich habe auch jetzt noch viele unschöne Gedanken. Ein Grund, warum ich jetzt hier

bin, ist auch, dass ich es im Moment zu Hause nicht aushalten würde. Eine Trennung ist nie einfach, aber dieses Mal war ich immerhin mit der Frau verheiratet.“

Jetzt bleibt dem introvertierten Charismatiker mit dem Image des einsamen Wolfes wieder nur seine Musik als ewige Verlobte. Ihr kann er sich bedingungslos hingeben, und das tut er auch weiterhin überall dort, wo seine düstere Leidenschaft erwünscht ist. Seinen Beitrag zum kommenden QOTSA-Album hat er bereits eingespielt und auch auf Nick Oliveris für Herbst angekündigter Akustikplatte all is forgotten wird er zu hören sein. Wenn er von der Interviewreise wieder in die Wüste zurückkehrt, geht es sogleich ins Studio nach Joshua Tree, um mit seinem Freund Greg Dulli die Arbeiten am bereits zu drei Vierteln fertig gestellten Gutter-Twins-Album zu vollenden. Außerdem wird er mit Isobel Campbell (Ex-Belle & Sebastian], mit der er bereits einen Song für deren EP time ist just the same aufgenommen hatte, dieses Jahr noch „eine schöne Platte zusammen machen“.

Musikmachen bedeutet für Lanegan allerdings schon lange nicht mehr, auch die ungesunden Nebengeräusche des Rock’n’Roll bis zur Neige auszukosten. Schon auf den Touren mit den Queens sah man ihn backstage meist etwas abseits des Trubels, und die wilden Aftershow-Partys schienen ihn auch nie sonderlich zu interessieren. „Das stimmt, die Party nach der Show ist nicht unbedingt mein Ding. Drogen sind heute kaum noch ein Teil meines Lebens, und dafür danke ich Gott. Mir gefällt es auch viel besser, Dinge auf die Reihe zu bekommen. In gewisser Hinsicht haben meine Songs heute für mich den Platz der Drogen eingenommen. “ Nur von den Zigaretten kann er leider nicht lassen.“.Und das stört mich auch sehr. Das Rauchen steht meinem Bemühen um mehr Fitness im Weg. Erst dachte ich mir, warum soll ich überhaupt Laufen gehen, wenn ich so viele Zigaretten rauche? Aber dann habe ich festgestellt, dass man weniger raucht, wenn man laufen geht.“

Mark im Jogginganzug? Den nächsten Wüstenmarathon traut er sich allerdings noch nicht zu. „Soweit wird es wohl nicht kommen, aber mir reicht es auch schon, dass ich mich besser fühle. Früher war ich schließlich mal ein sehr athletischer, sportlicher Junge, der American Football und Baseball gespielt hat. Die Drogen und der Rock ’n Roll hoben eine große Sportlerkarriere verhindert.“