Die Sängerin und Pianistin Tori Amos covert auf ihrer neuen CD Songs von Männern und sucht darin nach den Zeichen der Zeit.


Tori Arnos ist in Hochform. Sie erzählt von „Geschlechter-Eintopf“, „Labor-Männern“, dem „frechen Universum“, „Baby-Dämonen“ und der „Luzifer-Essenz“. „Das ist jetzt wirklich wichtig“, mahnt sie immer wieder eindringlich zur Aufmerksamkeit, während sie über die komplexen und vielschichtigen Hintergründe ihres aktuellen Albums „Strange Little Girls“ doziert. Bekleidet mit Rock und rosa Bluse hat sie sich auf der Couch in einer komplett weißen Suite im Londoner Sanderson Hotel niedergelassen, um über ihr Projekt zu sprechen – eine Sammlung von zwölf Interpretationen meist sehr bekannter Songs anderer Autoren, darunter auch „97′ Bonnie & Clyde“ von Eminem. „Lass mich das an einem Beispiel aus der griechischen Mythologie erklären“, sagt sie lächelnd. „An einem, mit dem wir alle vertraut sind: Demeter, Persephone und Hades…“

Die Intelligenz und der Wortschatz der 38-Jährigen sind atemberaubend. Einfache Fragen beantwortet Tori Arnos oft ausschweifend, behandelt in einem Atemzug Elfen, Auschwitz und Schamanen, ohne je den Faden zu verlieren. Mit ausladender Gestik und direktem Augenkontakt fesselt sie ihren Gegenüber, während sie ganze Sätze aus terminologischen Raritäten bildet. Auch wenn sie sich in langen Monologen und irritierend intimen Anekdoten verstrickt („Ich habe viel Zeit damit verbracht, bei Macht- und Sexspielen die Fürsten der Finsternis zu jagen…“), sie findet stets zum Thema zurück.

Zu ihrem neuen Album also. Wer es genießen will, muss es verstehen. Zwar hat jeder einzelne Song eine eigene – und im Bezug auf das Projekt neue – Bedeutung, doch ist vor allem das übergreifende Konzept relevant: Tori Arnos forscht mit „Strange Little Girls“ nach Unterschieden zwischen Mann und Frau. Mit einer ungewöhnlichen Methode: Jeder der zwölf Songs wurde von Männern geschrieben – und wird nun aus weiblicher Sicht interpretiert. Ohne auch nur ein Wort des Originaltextes zu verändern. Für jeden Song hat Tori in ihrer Fantasie einen weiblichen Charakter (inklusive eigenem Look – siehe Fotos) erschaffen, der sich den jeweiligen Text zu Eigen macht. „Das war so nicht geplant“, meint sie erstaunt und liefert eine Tori-typische Erklärung: „Ich dachte, ich kann einfach hinter die Augen dieser Männer kriechen – und schon verstehe ich, was sie gesagt haben. Aber man muss sich nach den spirituellen Gesetzen richten, da ist das Universum frech. Für jeden Mann musste ich eine neue Frau in mir aufnehmen.“ Eine Vorstellung von diesen Frauen, mit denen sich Tori Arnos nun „verbunden“ fühlt, bekam sie manchmal schon beim einmaligen Anhören eines Titels. Meist aber war mehr Einsatz vonnöten: „Ich habe ein Gremium von Sachverständigen einberufen“, schmunzelt sie, „Labor-Männer. Wir haben lange darüber diskutiert, was uns bei den Songs durch den Kopf geht, was sie für den Einzelnen bedeuten.“

Von diesen Diskussionsrunden inspiriert, ging Tori Arnos in ihr Studio im südwestenglischen Cornwall und gab den alten Titeln ein neues Feeling. Mit Erfolg: Betont eine Frau jedes einzelne düstere Wort von Slayers „Raining Blood mit geduldiger Achtsamkeit, entstehen völlig neue Assoziationen. „Wenn eine Frau Texte singt, die ein Mann geschrieben hat“, so Tori Arnos, „dann wird sie gewisse Worte anders betonen. Sie wird einigen Stellen eine neue Frequenz geben. So kann man verstehen, wie Frauen das hören, was Männer sagen. Das ist ein spannendes Forschungsprojekt – das reizt mich. Nur der umgekehrte Weg ist mir unmöglich: Was Männer hören, wenn wir Frauen reden, das kann ich nicht demonstrieren – nicht in diesem Leben“. So erhält auch Eminems „97′ Bonnie & Clyde“ (im Original auf „The Slim Shady LP“) durch Toris Stimme eine neue Perspektive. „Eminem interessiert sich in dem Song ausschließlich für den Vater, der seine Trau ermordet hat“, erläutert Tori. „Er erzählt vom Standpunkt des Täters, über die Tat und die Beziehung zu seiner Tochter. Mich hat dieses Werk fasziniert, weil es ein Thema aufgreift, das Tausende von Jahren alt ist: häusliche Gewalt. Ich wollte aber wissen, was die Mutter hört, die im Kofferraum im Sterben liegt. Sie weiß, dass ihre Tochter von dem Täter in die Sache reingezogen wird. Dass ihre Tochter ewig damit leben muss, zur Komplizin gemacht worden zu sein. Das interessiert mich an dem Song.“

Interesse zeigt Tori Arnos auch für eine Vielzahl anderer Themen. So wird Neil Youngs „Heart Of Gold“ in der lärmigen Lo-Fi-Version auf „Strange Little Girls“ plötzlich zur kritischen Betrachtung des westlichen Wirtschaftssystems. „Gold, verstehst du? Gold!“, sagt Tori eindringlich, als läge es auf der Hand. „Ich bin kein Gegner der freien Marktwirtschaft, aber wie wir alle wissen, hat sie ihre düsteren Seiten, jeder kann zwar jederzeit rechtfertigen, was er tut, aber keiner bedenkt die Konsequenzen, die es für unsere Kinder haben wird“, sagt sie und bricht nach einem Moment des gedankenverlorenen Schweigens plötzlich in Lachen aus: „Gott segne Neil! Ich habe gehört, dass er meine Version liebt.“

Mit dem neuen Konzeptalbum macht sich Tori Arnos verwundbar. „Tür meine eigenen Kompositionen gibt es kein Bewertungskriterium“, gibt sie zu bedenken. „Ich kann sagen: ‚Das sind meine Song-Babys, du musst sie nicht mögen.‘ Wenn ich aber Geschichten anderer Leute auswähle, dann muss alles stimmen. Jede Story muss kraftvoll sein, einen Aspekt unserer Zeit reflektieren.“ „Strange Little Girls“ hat nichts mit den Coverversionen wie „Smells Like Teen Spirit“ und „Angie“ zu tun, die Tori Arnos einst zum Zeitvertreib aufgenommen hat. Jeder der sorgfältig ausgewählten Songs ist ein wesentliches Puzzle-stück, das die LP „als Summe ihrer Teile“ zu einem Gesamtkunstwerk macht. Während Tori Arnos früher Inspiration für ihre Songs in persönlichen und hochgradig intimen Erfahrungen wie dem sexuellen Trauma einer bewaffneten Vergewaltigung („Little Earthquakes“-L.P), der schmerzlichen Trennung von ihrem langjährigen Partner Eric Rosse („Boys Eor Pele“) und der Fehlgeburt einer Tochter („From The Choirgirl Hotel“) fand, so nimmt sie heute erstmals den Standpunkt einer kritischen Beobachterin ein. Die Songs transportieren politische Botschaften. „Es war an der Zeit“, sagt sie mit einer Sorgenfalte auf der Stirn. „Nach den Gewaltausbrüchen an den amerikanischen Schulen haben mir meine Nichten und Neffen in E-Mails von ihrer Angst erzählt. Die Jugendlichen fühlen sich nicht mehr sicher.“

Gewalt in jeder erdenklichen Form, das ist ein Thema, mit dem sich Tori Arnos beschäftigt hat, seit sie selbst als junge Erwachsene Opfer eines Sexualverbrechens geworden war. So reagierte sie bereits im Winter 1997 empfindlich, als The Prodigy mit „Smack My Bitch Up“ scheinbar gleichgültig und unreflektiert frauenverachtende Gewalt vertonten. „Ich finde ‚Smack My Bitch Up‘ überhaupt nicht abgefahren“, kommentierte sie damals. „Wenn du so etwas äußerst, dann musst du auch dazu stehen. Dann bist du einfach ehrlich und sagst: ‚Okay, ich habe meine Freundin geschlagen, das ist mein Statement – liebe mich oder hasse mich.‘ Aber du kannst nicht die Menschen schockieren und dann nicht dazu stehen.“

Seit Tori Arnos im September 2000 ihre Tochter Natashya von Ehemann Mark Hawley zur Welt gebracht hat, hat sich diese Meinung noch gefestigt. „Wenn du ein Baby aufziehst“, sagte sie im Frühsommer, „dann hast du gezwungenermaßen täglich viele Stunden Zeit, um nachzudenken. Seit ich eine Tochter habe, lege ich mein Ohr auf die Erde und lausche, was die Menschen reden. Die neue Platte ist meine Reaktion auf das, was ich höre.“ Der misshandelten Mutter in Eminems Horror-Song wollte sie „die Chance geben, gehört zu werden“. Und gleichzeitig die Menschen wachrütteln: Sind Songwriter – wie die Künstlerin behauptet – das „Bewusstsein einer Zeit“, dann ist die Sammlung auf „Strange Little Girls“ in der Tat über weite Strecken schockierend.

Eine mystische und interessante Erklärung für die plötzliche Eskalation von scheinbar unmotivierten Gewalttaten an den Schulen der USA, wie sie Tori in ihrer Version von Bob Geldofs „I Don’t Like Mondays“ beschreibt, fand die Künstlerin bei den Indianern: „Ich habe glücklicherweise Zugang zu Schamanen, Medizinmännern und -frauen“, erzählt Tori, deren Großvater direkt von den Cherokee-Indianem abstammte. „Und die amerikanischen Ureinwohner“, so erzählt sie, „sehen in einer fehlenden Verbindung zu Mutter Erde den Grund für die Verantwortungslosigkeit, mit der Kids zu Waffen greifen. Wenn du dich mit dem Erdboden anlegst, dann legst du dich mit den Vorfahren an, du legst dich mit den Schatten-Kreaturen an. Wir reden hiervon Luzifer-Essenz“, sagt sie eindringlich, „damit sollte man sich lieber mal auseinander setzen.“

Kommerziell gesehen ist Tori Arnos mit „Strange Little Girls“ keine Kompromisse eingegangen. Songs wie „I’m Not In Love“ oder „Heart Of Gold“ mögen im Original in jedermanns Ohr sein – Toris intensive Verfremdungen eignen sich aber kaum zum Easy Listening. Ron Shapiro, der als General Manager von Atlantic Records für die Vermarktung der langjährigen Vertragskünstlerin Tori Arnos verantwortlich ist, wählt seine Worte mit Vorsicht: „Wenn man Songs aufnimmt, die vielen sehr am Herzen liegen, dann provoziert man extreme Reaktionen. Ich hoffe, dass diese positiv sein werden. Aber Tori ist mutig, sie fürchtet sich nicht. Sie provoziert, und Gott segne sie dafür.“

Auch wenn nach „Little Earthquakes“ und „Under The Pink“ keines ihrer Alben mehr Doppelplatin erreicht hat – Tori Arnos hat sich eine uneingeschränkte künstlerische Freiheit bewahrt, die in ihrem Geschäft alles andere als selbstverständlich ist. Mehrfach haben Toris Vertragspartner die Bitte an sie herangetragen, mit konformen, harmonischen Songs ein Massenpublikum zu erobern. Die Pianistin, die im Alter von elf Jahren wegen künstlerischen Eigensinns vom Konservatorium flog, war aber nie bereit, auch nur einen Millimeter von ihrer musikalischen Vision abzurücken. Es störte sie wenig, dass in den letzten Jahren einige Bewunderer keinen Zugang mehr fanden zu Werken wie „From The Choirgirl Hotel“ und „To Venus And Back“. Lind auch „Strange Little Girls“ klingt – jedenfalls beim ersten Anhören eher sperrig. Doch vielleicht finden abgewanderte Fans gerade mit diesem Album zu Arnos zurück. Denn ausgerechnet ihre Interpretationen fremder Songs machen aus „Strange Little Girls“ Toris persönlichstes Album seit Jahren. www.tori.com