Discover America


Was waren das für Zeiten, als der hiesige Hipster nur über den Kanal zu jumpen brauchte, um mitten im heißesten Musikgeschehen zu landen. Heute scheint England, die ehemalige Pop-Hochburg, komplett in den Underground versunken, während alles, was die US-Szene bevölkert, unversehens im Rampenlicht strahlt.

Bands, die (zum Teil schon jahrelang) für zufriedenstellende Umsätze im Independent-Lager sorgten, sind heute brennende Themen in den Chefetagen großer, internationaler Plattenfirmen. Und dabei geht es nicht mehr nur um den schnellsten Zugriff auf das nächstbeste Nirvana-Abziehbildchen. Die Industrie hat erkannt, daß es verschiedenste Gruppen und Stile gibt, die einen funktionierenden und lebendigen Fankreis bedienen und nur eines zündenden Funkens bedürfen, um auch Millionen plattenkaufender Teenager in Ekstase zu versetzen. Warum mit kostspieligen Aktionen Stars aus dem Boden hypen, wenn es da draußen schon gestandene, wetterfeste Pflänzchen gibt? Und von dieser Spezies finden sich in der Weite Amerikas einfach mehr Exemplare als auf britischem Terrain, wo die trendsetzende Presse auch schon mal Bands in großen Titelstories anzupreisen pflegt, die noch nicht einmal eine Single herausgebracht haben. Selbst John Peel, BBC-Urgestein und Gottvater der britischen Underground-Szene, muß gegenüber seinen alten Erbfeinden vom Rolling Stone zugeben:

„Die englische Musik besteht zur Zeit zu einem unglaublich hohen Anteil aus Mist. Innovationen kommen, soweit es die Gitarre betrifft, nur noch aus Amerika.“

Fünf US-Bands auf dem Sprung Kennst Du das Land, wo die Gitarren glühen? Junge Bands aus Amerika setzen heute die Zeichen der Zeit, während England in Belang- losigkeit versinkt. Talentschmiede USA: ME/Sounds präsentiert fünf heiße Eisen Soul Asylum

Die Biographie Wer den US-Underground der letzten Dekade verfolgt hat, für den ist Soul Asylum kein neuer Name. Gegründet in den frühen 80ern in Minneapolis, galten sie in der Anfangszeit als melodiösere, weniger schwergewichtige Ausgabe von arrivierten Hardcore-Helden wie Hüsker Du (deren Bob Mould sie damals auch produzierte). Verblüffend: In der langen Bandgeschichte hat es seit acht Jahren keinen Besetzungswechsel gegeben. Dave Pirner (voc, g), Dan Murphy (g, voc), Karl Mueller (b) und Grant Young (dr) bilden eine Einheit, in der für Ego-Trips absolut kein Platz ist. Bis zu 300 Konzertauftritte pro Jahr absolviert das Quartett — doch was andere Bands gestreßt und entnervt auseinanderbrechen läßt, hat Soul Asylum nur stärker gemacht.

Dabei sah es schon so aus, als würden sie dasselbe Schicksal erleiden wie so viele hoffnungsvolle Indie-Bands: Labels kamen und gingen, Platten erhielten gute Kritiken, waren aber schwer erhältlich und verkauften dementsprechend wenig. Nach dem geflopten Debüt bei A&M (die Firma verweigerte jegliche Unterstützung, nachdem die Band kurz vorher ein klassisches LP-Cover des Labeleigners Herb Alpert persifliert hatte), waren Soul Asylum auf der Talsohle angelangt. Doch die fast selbstmörderische Methode, in jedem noch so kleinen Nest mindestens zweimal live aufgetreten zu sein, zahlte sich schließlich doch aus: Ihr Publikum ist nicht älter geworden, sondern wesentlich jünger. „Where willyou be in 1993“, fragte Pirner auf „Never Really Been“ von der ’86er LP „Made To Be Broken“. Diese Frage hat er sich selbst am besten beantwortet: Weltweit in den Charts.

Die Discographie Say What You Will (1984), Made To Be Broken (1986), While You Were Out (1987), Clam Dip & Other Delights (1988), Hang Time (1988), Soul Asylum And The Horse They Rode In On (1990), Grave Dancers Union (1992) Die Fakten Von ihrem letzten Album „Grave Dancers Union“ haben Soul Asylum bislang 1,5 Mio. Exemplare verkauft, die Single „Runaway Train“ läuft auf MTV diesseits und jenseits des Atlantiks rund um die Uhr. Und auch die höchste amerikanische Musikmedienauszeichnung haben sie schon erhalten: Sie waren auf dem Cover des Rolling Stone.

Die Kritikerstimmen „Amerikas beste Live Band“ (Spin) Das Selbstverständnis „Es ist eben so, daß ich keinen Menschen kenne, der mir wichtiger als Musik ist. Das ist etwas, was ich selbst meinen besten Freunden nicht erklären kann.“ (Dave Pirner) „Wenn ich mir die Top 50 ansehe, dann weiß ich, daß wir härter gearbeitet haben als die ganzen anderen Bands.“ (Dan Murphy) ¿

Die Einordnung Soul Asylum bieten die gute alte Mischung aus Rock und Seelenpein, die anscheinend jeden Trend überlebt.

Die Eigenheiten Wer erlebt hat, wie Pirner als Derwisch über die Bühne wirbelt — das ist Rock, wie er leibt und lebt! Und auch für die Zwischentöne hat er den richtigen Augenaufschlag: Als sanfte Version eines Axl Rose mit Tiefgang ist er der ideale Kandidat für ziellose Muttergefühle.

Die Zukunft Soul Asylum sind lange genug dabei, um jetzt nicht den Boden zu verlieren und begeistern Fans von 15 bis 40. Mit ihrem Image als ehrliche Arbeiter könnten sie zur größten weißen Rockband für Amerikas schweigende Mehrheit werden.

Die Tour 11. 10. Berlin, 12. 10. Bielefeld, 13. 10. Bremen. 14. 10. Hamburg, 16. 10. München, 17. 10. Frankfurt, 18.10. Stuttgart, 19. 10. Bonn

Smashing Pumpkins

Die Biographie Die Smashing Pumpkins sind das Ziehkind ihres Frontmanns Billy Corgan. Aufgewachsen in einer defekten Familie in Chicago suchte er schon früh Trost bei seiner Gitarre und träumte davon, mit einer tollen Band zum Star zu werden. Heute sind seine Phantasien kurz davor, Realität zu werden, was der Tatsache zu verdanken ist, daß er mit Gitarrist James Iha, Bassistin D’Arcy und Jimmy Drummer Chanberun die Musiker traf, die willens und in der Lage waren, seine präzisen, doch eher introvertierten Vorstellungen widerspruchslos in die Tat umzusetzen. Die erste LP geriet in ihrer Mischung aus angefunkten Rhythmen, unheilsschwangeren Rock-Gitarren und träumerischen Passagen noch etwas holprig, dazu drohte die Band mehr als einmal, wegen Corgans diktatorischem Gehabe auseinanderzubrechen. Unter allergrößtem psychischen Druck (Freundin weg. Wohnung weg) hat Corgan sich und seine Sklaven nun zur Höchstleistung gepeitscht. Seit „Siamese Dreams“ ist Sigmund Freud wieder ein wichtiger Name im Rock-Lexikon.

Die Discoqraphie Gish (1991), Siamese Dreams (1993) Die Fakten Von ihrem ersten Album „Gish“ verkauften die Smashing Pumpkins beachtliche 500000 Stück weltweit, doch „Siamese Dream“ scheint ihr großer Durchbruch zu werden: Bereits drei Wochen nach Veröffentlichung waren fast 600 000 Exemplare verkauft.

Die Kritikerstimmen „Bei den Smashing Pumpkins muß jeder Gitarrenlauf eine seelische Reinigung sein und jeder Song ein Grund, sein Leben zu ändern.“ (Pulse!) „Diese Band wird explodieren — auf die eine oder andere Weise.“ (Select) Das Selbstverständnis „Ich glaube nicht, daß man leiden muß, um große Kunst zu machen. Nur bei uns ist das leider so.“ (DÄrcy) „Wir sind hemmungslos ehrüch in unserer Selbstoffenbarung, und das ist unsere besondere Qualität.“ (Billy Corgan) Die Einordnung Smashing Pumpkins sind keine Band, die sich gängiger Rock-Schemata bedient. Musikalische Vorbilder haben sie keine, doch erinnert ihr emotional aufgeladener, leicht paranoider Stil in seiner Originalität an eine innerlich gedämpfte Version der einstigen Independent-Helden The Pixies — deren Bandchef Black Francis es ebensowenig ertragen konnte, wenn seine attraktive Bassistin ihm die Show zu stehlen drohte.

Die Eigenheiten Wie ihre Songs zu atemlosen Höhepunkten kommen und danach in Moll-Akkorden erschlaffen, ist mit üblichen Rock-Posen nicht zu vergleichen. Wo andere aus 30 Jahren Rock-Geschichte das ultimative Erfolgsriff herauszudestiUieren suchen, ist die Gitarre für Billy Corgan nichts anderes als ein großes Fragezeichen nach dem Sinn der eigenen Existenz.

Die Zukunft „Wenn diese Platte nichts wird, bedeutet das auch das Ende der Smashing Pumpkins.“‚ (Billy Corgan) Ob er damit ausverkaufte Stadien meint oder nur ein klein wenig Anerkennung — man wird es wissen, wenn er die nächste Selbstmordabsicht verkündet.

Rage Against The Machine

Die Biographie Wie ein Meteorit tauchten Rage Against The Machine aus heiterem Himmel auf und schlugen in die US-Crossover-Szene em. Vorher in verschiedenen, politisch orientierten Hardcore-Bands in Los Angeles aktiv, konnten Zach De La Rocha (voc), Tom Morello (g). Timmy C. (b) und Brad Wilk (dr) bereits von einer ersten, selbstproduzierten Demo-Cassette (1991) über 5000 Exemplare absetzen. Perry Farrell (Ex-Jane’s Addiction, jetzt Porno For Pyros) war von dem Tape begeistert und hievte sie 1992 erstmals in sein Lollapalooza-Programm. wo sie für höchste Aktivität in den „Mosh-Pits“ sorgten. Vertreter aller Plattenfirmen mußten samt ihrer Scheckbücher überrumpelt Schlange stehen. Und der Band gelang es, die geballte Wut ihrer Live-Auftritte fast unverschnitten auf Platte zu bannen. Resultat: Flächenbrand.

Die Discographie „Rage Against T. Machine“ (1993) Die Fakten Von ihrem Debüt haben sie bislang 500000 Stück verkauft, und auf MTV sind sie mit der Single „Killing In The Name“ Stammgäste.

Die Kritikerstimmen „Die perfekte Mischung aus Black Sabbath und Black America.“ (Creem) „Ideal für Lollapalooza — auch wenn sie Molotov-Cocktails allen anderen Drinks vorziehen.“ (AW) Das Selbstverständnis „Die Message ist für uns das Wichtigste. Sie gibt unserer Musik all die Kraft.“ (Tom Morello) „Der Name Rage Against The Machine heißt Wut auf das System, Wut auf die Polizei, Wut auf den organisierten Staat, der nur die Oberschicht füttert, und auf alles andere, was dich unterdrückt.“ (Zach De La Rocha) Die Einordnung In ihrer radikalen politischen Haltung lehnen sich RATM deutlich an die amerikanische Studentenbewegung der sechziger Jahre an. die von „zivilem Ungehorsam“ als Verteidigung gegen die „verabscheuungwürdige Maschinerie“ sprach — massenwirksame Mitgröhlzeilen wie „Fuck you, I won’t do what you told me“ knüpfen genau dort wieder an. ¿

Dazu kombinieren die Musiker, die alle strikt lasterfrei leben (Keine Drogen! Kein Alkohol!), nur die härtesten neuzeitlichen Musikstile: HipHop und Hardcore.

Die Eigenheiten RATM kamen zur richtigen Zeit an den richtigen Ort. Golfkrieg. L.A.-Riots und die Clinton-Wahl hatten die US-Jugend politisiert. Mit ihrem kompromißlosen Sound und den durchweg gerappten Texten trifft die Band die Stimmung auf den Straßen amerikanischer Großstädte, ohne sich dabei als moralinsaure Prediger aufzuspielen.

Die Zukunft Musikalisch kommt RATM eine ähnliche Bedeutung zu wie den frühen Red Hot Chilli Peppers. Mit schierer Rockenergie und tanzbaren Beats entwikkeln sie ein Crossover-Potential, das ihnen international zum Durchbruch verhelfen wird, auch wenn ihre Musik nie ein flächendeckendes Thema für Autoradios und Jugendzimmer werden dürfte.

Stone Temple Pilots

Die Biographie Vor gut 18 Monaten hießen Stone Temple Pilots noch Mighty Joe Young und waren eine der etwa 10000 austauschbaren Bands, die allabendlich die zahllosen Rock-Clubs von Los Angeles beschallten. Als Scott Weiland (voc), Bassist Robert DeLeo und Drummer Eric Kretz einen neuen Gitarristen suchten, bot sich Roberts Bruder Dean DeLeo an. Dieser wohnte allerdings in San Diego, was dazu führte, daß die Band der frustrierenden Sunset Strip-Szene entfliehen konnte. Aber auch das kann nicht erklären, warum ausgerechnet diese Band der Tretmühle entronnen ist, und gleich im ersten Versuch in die Hitparaden schoß.

Die Dlscographie Core(1992) Die Fakten In den USA hat sich „Core“ bereits über eine Million mal verkauft, aus dem MTV-Programm sind die Stone Temple Pilots nicht mehr wegzudenken.

Die Kritikerstimmen „Zugegeben — beim ersten Hören denkt man an einen vergessenen Pearl Jam Song, nur klingt die Stimme mehr nach Kurt Cobain und der Chorus stärker nach Soundgarden.“ (Spin) „Stone Temple Pilots verhalten sich zu Seattle wie die Monkees zu Liverpool.“

(Hamburger Morgenpost) Das Selbstverständnis „Jeder klaut doch von jedem. Man nimmt das, was einen einmal bewegt hat, und versucht, eine eigene Version davon zu erfinden. Es ist wie eine Nahrungskette.“ (Weiland) Die Einordnung Der Stil der Stone Temple Pilots basiert größtenteils auf einem einzigen Riff: Ozzy Osbournes „Crazy Train“ von 1982. Trotz Weilands unbestreitbarer Fähigkeit, solch gut abgehangenem Durchschnitts-Rock lebendige Schattierungen einzuhauchen, haben die Stone Temple Pilots ihren Erfolg viel der image-bildenden Macht von MTV zu verdanken.

Die Eigenheiten Weiland wirkt wie eine Kreuzung aus einem Blade Runner-Replikanten und einem etwas intelligenteren Billy Idol. Damit revitalisiert er das Image des bösen Buben im Rock’n’Roll auf provokante Art: Die Vergewaltigungsphantasie, die er in Text und Video von „Sex Type Thing“ artikuliert, hatte umgehend publicity-trächtige Kontroversen zur Folge, bei denen sich sämtliche feministischen Organisationen der USA öffentlich zu Wort meldeten.

Die Zukunft Grunge gestorben? Auf keinen Fall! Mit ihrer von allem überschwenglischen Trubel und Underground-Credibility gereinigten Reißbrett-Version sind die STP auf clevere Weise in die Lücke gesprungen, die Nirvana, Pearl Jam etc. dank verspäteter Neuveröffentlichungen offen ließen. Ob die Band auf lange Sicht genügend Substanz besitzt, muß sich erst noch herausstellen.

Lemonheads

Die Biographie Mehr aus Jux gründeten zwei Schulfreunde aus der Gegend von Boston 1985 ihre erste Band. Benjamin Deily und Evan Dando bolzten abwechselnd auf Gitarre und Schlagzeug herum und nannten sich Lemonheads. Deily. anfangs der dominierende Songschreiber, schied ’88 aus und verhalf auf diese Weise Dandos bislang schlummernden Talenten zum Durchbruch. Ständige Besetzungsprobleme zwangen Dando dazu, die Band im Stile eines Ein-Mann-Unternehmens weiterzuführen. Doch anstelle die vielseitigen Dienste von Studiomusikern in Anspruch zu nehmen, blieb er seiner ursprünglichen Idee treu: ein paar Gitarrenakkorde. Bass und Schlagzeug genügen ihm für seinen einfachen, erzählerischen Stil.

Die Discographie Hate Your Fnends (1986). Creator (1987), Lick (1988), Lovey (1990). It’s A Shame About Ray (1992). Come On Feel The Lemonheads (1993) Die Fakten Evans Dandos Popstar-verdächtiges Gesicht flimmert oft im MTV-Programm und auch das amerikanische Trendsetter-Magazin „Interview“ hat ihn schon zum Cover-Modell auserkoren.

Die Kritikerstimmen „Es ist diese wunderschöne blonde Traurigkeit…“ (Sassy) „Ein Meister des erhabenen Power-Pop.“ (Interview) Das Selbstverständnis „1983. auf der Highschool, fiel mir auf. daß Rock’n’Roll gar nicht tot war. Man brauchte nicht nur den alten Kram zu hören. Es gab neue Sachen, so wie die Replacements und Hüsker Du. Das brachte mich auf die Idee, daß ich sowas auch machen kann.“ (Evan Dando) Die Einordnung Die Einordnung Im Vordergrund steht der wohlstrukturierte, aber einfache Song. Kaum eine Lemonheads-Nummer überschreitet die Drei-Minuten-Grenze und Platz für ausgiebige Gitarrenarbeit gibt es höchstens bei Konzertzugaben. Damit bewegt sich die Band in der Tradition klassischer Single-Bands wie Creedence Clearwater Revival oder Guess Who.

Die Eigenheiten Evan Dando ist der sensible Sunnyboy. dessen Foto auch Cornflakes-Packungen zieren könnte. Dazu verfügt er über eine Stimme, die jeden Telefonsex-Charmeur vor Neid erblassen läßt.

Die Zukunft Diesem Mann stehen alle Türen offen — wenn er nur will.

Die Tour (mit Soul Asylum) 11. 10. Berlin, 12. 10. Bielefeld. 13.20. Bremen, 16. 10. München. 17.10. Frankfurt. 18.10. Stuttgart, 19.10. Bonn