Drei Männer und zwei Labels: Das Trio Ellinghaus, Beier und Liesenfeld hat City Slang und Bungalow weltweit als erfolgreiche Firmen etabliert.


Grasüberwachsene Schienen ziehen sich durch endlose Schotterwüsten und werden am Horizont von schwarzen Tunnelöffnungen verschluckt. Graffiti verbleichen auf den löchrigen Mauerresten, die Randbezirke Kreuzbergs laden nicht unbedingt zu einem Spaziergang ein. Wenn Christof Ellinghaus, Marcus Liesenfeld und Holger Beier nicht allzu früh am Morgen in die Skalitzerstraße 68 einbiegen, dann donnert die U 1 auf metallenen Stelzen über ihre Köpfe, und im zweiten Hinterhof wird Wäsche aufgehängt. Ein düsteres Treppenhaus windet sich rund um den kaputten Drahtseil-Aufzug. Durch eine Sperrholztür im vierten Stock treten die drei allmorgendlich in eine andere Welt: Ein helles Großraumbüro, in dem telefoniert, geräumt, getippt, diskutiert und gelacht wird. Telefon- und Modemkabel brechen in dicken Bündeln durch die Wände, verteilen sich in einem organisierten Chaos aus Plattenkisten, Posterrollen und Flyerbergen und verknüpfen die Schreibtische mit den Metropolen des Planeten. Holger Beier hat hier 1995 mit Marcus Liesenfeld Bungalow als kleines, aber international operierendes Label gegründet. Die Idee dazu hatten sie, nachdem die beiden visionären DIs als Mitbegründer der Club-Easy-Listening-Welle von etablierten Konzernen Angebote erhalten hatten, verstaubte Bänder aus deren 50er-Jahre Archiven zu veröffentlichen. Nach Beratungen mit dem City Slangerfahrenen Ellinghaus verwirklichte man stattdessen die eigene Vision: „Wir wollten lieber aktuelle Musik im Stil des alten Sounds rausbringen. Durch Christofs Hüte sind wir jetzt im Unterschied zum typischen Indie-Label professionell organisiert und arbeiten mit einer weltweiten Vertriebsstruktur“, meint Liesenfeld dankbar. Auch wenn Ellinghaus sich ein bißchen geschmeichelt fühlt, bestreitet er doch hartnäckig, ein gewitzter Geschäftsmann zu sein. Dabei hat er bereits zur Genüge bewiesen, nach den richtigen Prinzipien zu handeln: „Wenn wir nicht hinterherhinken wollen, müssen wir uns immer neu erfinden. Viele unserer Ideen werden nämlich ein ]ahr später von einem Major-Label abgekupfert. Schlechter, aber in größerem Stil. Deshalb sind wir grundsätzlich der Originalität verpflichtet.“ 1992 hat er lieber das finanzielle Risiko in Kauf genommen, auf eigene Faust City Slang großzumachen, statt seine Firma weiter als fremdbestimmtes Sublabel von Vielklang zu führen. Das Geheimnis des zehnjährigen Erfolges von City Slang ist weniger im betriebswirtschaftlichen Streben zu suchen („sonst wäre ich längst an der Börse“), sondern im treffsicheren Gespür von Ellinghaus: „Für das Signing von Bands gibt es die Hürde des persönlichen Geschmacks. Ich mach‘ immer nur Platten, die mir selbst gefallen.“ Jahre vor dem großen Hype hat er 1991 die Bedeutung von Hole erahnt. Die Band wurde gesignt. „Eines Tages sollen die Leute statt Lou Bega in Massen Salaryman kaufen“, wünscht er sich und grinst. „Sonst mach‘ ich halt irgendwann selber einen Sommer-Proll-Hit. Aber dann besser. Das sag‘ ich euch.“

DAUERFISCH – So Gut (4:27)

Irrwitz für das neue und jedes andere Millenium. Dauerfisch sind „Künstler Treu“ und „Künstler Abshagen“, zwei Großstadt-Querköpfe, die ihre verschrobenen Ideen nur mit Mühe in „Musik“ umsetzen können. Konventionelle Grenzen müssen dazu verlegt werden, deshalb klingt das zweite Album „Crime Of The Century“ gelegentlich wie der apokalyptische Amoklaufeines batteriebetriebenen Dreirad-Geisterfahrers auf dem Spielplatz der modernen E- und U-Musik. „Scheinsongwriting“ nennen sie das und drohen Journalisten, die ihre Musik als NDW bezeichnen wollen. Tun wir aber trotzdem, NDW als Neo-Digitale-Weltraummusik und „So Gut“ als Opener und Programm für die CD im ME.

YOSHINORI SUNAHARA – The New World Break (5:40)

Abgehobene Fluglinien-Ästhetik, Inflight Entertainment für den Kopf-Hörer. Yoshinori Sunahara hat sich von Japans erfolgreichster Techno-Combo „Denki Groove“ gelöst, um einen unterirdischen Flughafen für Tokyo zu designen (wirklich!) und gleich den passenden Lounge-Core dazu abzuliefern. Zurückgelehnter und doch gewichtiger Aiport-Funk aus dem „Pan Am – The Sound of ‚7Os“-Album.“The New World Break“ auf der ME/Sounds-CD.

MINA – Kupferfarben (9:12)

Jung, verdammt jung ist dieses Quartett aus der neuen Hauptstadt, großgeworden in einer zersägten Metropole, die seit 1989 in ihrer neuen Mitte eine pulsierende Jugend- und Popkultur aus den Kellerruinen wachsen sieht. Die Combo verbindet ihre Liebe zu AlternativeRock mit den Einflüßen der Berliner Basement-Club-Kultur. „Kupferfarben“ ist ein Marathon-Instrumental; pumpender Looping-Ambient mit handgespielten Instrumenten und Weltstadtseele, vertrieben und verspielt, verloren und verlebt. Visionäre Pop-Musik als Richtungsweiser auf der ME/Sounds-CD.

POP TARTS – Kindheit, Jugend, Sex (3:13)

„Des is unsa bestes Stück“, postuliert die 23jährige Julia, und los gehts: Krachender Schülerbandlärm mit überraschenden Wendungen, Lo-Fi Matsch und charme-haariger Ästhetik. Inspiriert von einem großen deutschen Teenie-Pickel-Magazin entstand der Text zu „Kindheit, Jugend, Sex“. Olgas Orgel tut das Übrige. In Japan sind PopTarts bereits ein Geheimtip. Auch die Beastie Boys und Helge Schneider haben das Girlie-Pop-Quartett um Tour-Support gebeten. Andy Warhol hätte seine Freude gehabt.

STEREO TOTAL – Beauty Case (2:44)

Gleich nochmal Trash-Pop aus der Oberliga: Stereo Total haben mit „My Melody“ ein Album abgeliefert, über das die beiden bis heute streiten. Sängerin Francoise Cactus besteht darauf, daß es ein Konzept-Album zum Thema Liebe sei, Brezel Göring schwört, es sei einfach eine Mädchenplatte. Egal, die Scheibe wurde achtspurig im heimischen Wohnzimmer aufgenommen und fast auf der ganzen Welt veröffentlicht. Stilvoll geschmacklos, konzentriert wahnsinnig, zu „Beauty Case“ auf der ME/Sounds-CD entsteht demnächst auch ein Liebes-Mädchen-Video.

LE HAMMOND INFERNO – Try To Overcome Your Speech Defects (3:28)

Carlos Santana hat es 1969 geschafft, ohne jegliche Albumveröffentlichung für das Woodstock-Festival gebucht zu werden. 30 Jahre später ist das Geschäft unübersichtlicher geworden, dennoch ist es den DJs und Bungalow Labelbossen Liesenfeld und Beier gelungen, sich ohne Debüt-Album einen Namen in Spanien, Italien und Japan zu machen. Auch bei der Lounge-Core Night in der höchsten Bar der Welt im 107ten Stock des New Yorker World Trade Centers haben die beiden aufgelegt, und in Deutschland hört man immer öfter „Sag‘ mal, kennst du diese Les, Le …, irgendwas mit Hammond?“. Der Geheimtipfaktor wird noch steigen, und zwar gehörig: Das Debüt-Album „Easy Leasing Superstar“ der Sample-verrückten Noise-Couch Seatbreaker kommt – aber nur in Japan. Exklusiv auf der CD im ME daraus der Titel „Try To Overcome Your Speech Defects“.

FANTASTIC PLASTIC MACHINE – Bachelor Pad (4:47)

Hinter Pizzicato Five ist FPM das bedeutendste Dance-Project aus Japan, und in diesem Sommer sorgt sein zweites Album für weltweite Aufmerksamkeit. Tomoyuki Tanaka ist der Mann mit dem Weitblick, mit viel Gefühl nutzt er sein Großhirn und mixt, remixt, bastelt und rebastelt Space-Brasil Bossa mit Breakbeats und Herzrhythmusstörungen. Architektonisch steht die Eleganz im Mittelpunkt der House-Bauten.“Bachelor Pad“ hat Style genug, um es auf unsere CD und die Filmusik zu „Austin Powers – The Spy Who Shagged Me“ geschafft zu haben.

TO ROCOCO ROT – Cars (2:56)

Aus der Mitte entspringt ein Daten-Fluß: Kreativität als Ergebnis innerer Ruhe und Harmonie. Kann Computermusik mehr bewegen, als die Beine? Offensichtlich. Das Post-Techno-Deutschland beheimatet mit Mouse On Mars, Kreidler und To Rococo Rot Projekte, die, statt sich hinter Kühle und Distanz zu verstecken, aufwärme und Charakter setzen. Ausgeschnittene Klangmuster, lesbar von vorne wie von hinten, genau wie der Name des Projekts „To Rococo Rot“. Gefühlvoller Heart-Beat für das Wassermann Zeitalter, programmiert von Plattenauflegern und Tüftlern, die in den goern endlich auch als Musiker bezeichnet werden dürfen. Seit 1995 sind Stefan Schneider, Robert und Ronald Lippok ein Team und werden im Inund Ausland als musikalische Vorausdenker gehandelt.

EXPERIMENTAL POP BAND – Stop (3:55)

Davey Woodward verwirklicht mit diesem Quartett seit vier Jahren seine Vision von britischem Retropop mit Gegenwartsbezug. Die Experimental Pop Band lehnt sich namentlich an The West Coast Pop Art Experimental Band an (obskures Projekt 1966-1969) und Tonbandmaschinen aufgenommen und dokumentiert das Talent der EPB, eingängige Songs mit Bestand zu schreiben.

SALARYMAN – Graze The Umbra (3:34)

Nach Captain Beefheart und den Flying Burrito Brothers endlich ein Vorreiter der vegetarischen Bandnamenfraktion? Der scheinbare Selleriebezug täuscht: Ein „Salaryman“ ist in Japan ein Büroangestellter, der grau seine Tage verlebt, bis zum „Karoshi“, dem bedient sich auch klangfarblich aus dem Malkasten der 60er Jahre. Damit machen sie sich keineswegs überflüssig, denn die Band ist in ihrem heimatlichen Kreativzentrum Bristol so vielen aktuellen Einflüssen ausgesetzt, daß das Gesamtwerk ein Melting-Pot aus Funk, Groove, Scratches, Loops und klassischem Songwriting ist. „Stop“ wurde letztes Jahr auf Tod durch Überarbeitung. So lautet auch der Albumtitel der Hemdundkrawatte-Combo aus Illinois, die einen Lebenslauf hat, der exemplarisch für die wirr-fragmentarische Splitterwelt der Gegenwartsmusikszene steht: Zehn Jahre lang bierstinkende Kleinhallenkonzerte mit ihrer Indierock-Band „Poster Children“, bis 1997 der Wille zur Veränderung stark genug war, um eine Verwandlung im Clark-Kentschen Sinne zu induzieren. Nach Zwei-Gitarren-Bass-Schlagzeug-Lärm produzieren sie als Salaryman heute die Filmmusik zu einem 3-D animierten Flash Gordon Remake aus dem Jahr 2034.

WHEAT – Don’t I Hold You (4:05)

Nur ein bißchen Musik machen wollen Wheat, für das ganze Drumherum haben sie wenig übrig. Interviews geben sie lieber nicht so gerne, auf den Putz hauen sie höchstens im Keller. Kein Wunder also, daß vielen entgehen wird, daß das angekündigte Album „Hope & Adams“ bereits der zweite Longplayer des Trios aus Massachusetts ist. Auf billigstem (teilweise Heilsarmee-) Equipment haben sie Songs eingespielt, die mit mehrmaligem Hören wachsen. Das ist poetische Langeweile, gepaart mit der gleichgültigen Präzision der Counting Crows. Wheat haben erstaunliches Potential wenn die drei nicht eines Tages vor Lustlosigkeit ganz aus dem Blickfeld verschwinden.

CALEXICO – Minas De Cobre (For Better Metal) (3:09)

„Ja, die Schwarzwald ist sehr schön. Ich habe ein paar hallucinogenic magic Cookies gegessen. Alles become mehr und mehr total bizarre.“ Joey Burns von Calexico prahlt gerne mit seinen Deutschkenntnissen, musikalisch ist ihm der amerikanische Süden näher. In Tuscon/Arizona vermischen Calexico Latin Jazz mit Mariachi-Bop und Wüstenfolk zu einem Soundtrack für ein Drehbuch in Bums‘ Kopf,ein Film soll noch kommen. Herb Alpert meets Tarantino, wunderbare Kakteen-Romantik, „Minas de Cobre“ aus dem mehrfach ausgezeichneten Tequilla-Album „The Black Light“ auf der CD im ME.

BUILT TO SPILL – Center Of The Universe (2:44)

Doug Martsch macht nicht lange rum, sondern haut einfach in die Saiten. Schlichter und selbstbewußter Seattle-Rock aus Idaho, ohne pseudointellektuelle post-Grunge Orientierungslosigkeit, ein musikalisches Statement, das zu klar und unverlogen ist, um veraltet zu sein. Built To Spill hat endlich ein gefestigtes Line-Up, was dem aktuellen Album „Keep It Like A Secret“ viel Homogenität verleiht. „Durch den neuen Aspekt der gemeinsamen Zusammenarbeit erscheint es mir dichter als alles, was BTS je gemacht haben“, meint Martsch. „Center Of The Universe“ auf der CD wäre eine Rock-Hymne, wenn es nicht melodisch viel zu vertrackt und intelligent wäre, als daß man mitgrölen könnte.

VIOLENT FEMMES – Gone Daddy Gone (3:09)

Die Violent Femmes auf der CD im ME? Heißt das…? Tatsächlich, 5 Jahre nach ihrer letzten Veröffentlichung wird die 80er Jahre Kultband für sexuell verwirrte Teenager gleich mehrere Alben auf den Markt werfen. Im Herbst kommt die Live-CD, der ME liefert mit „Gone Daddy Gone“ die Preview, später soll ein Studiowerk folgen. Das Trio aus Milwaukee gilt für viele als erste Alternative-Band, die trotz hohem Bekanntheitsgrad allerdings kommerziell nie sonderlich erfolgreich wurde. Ein Umstand, der sich im Herbst ändern könnte.