Elton John frei Haus


Ein Spätsommertag im New Yorker- Central Park: neun Kameras filmeri ein Elton John-Konzert vor 400.000 Zuschauem. Eine Kamera thront auf einem riesigen Kran, eine andere schwebt in einem Hubschrauber hoch über der Szenerie. Gedreht wird hier allerdings nicht für Hollywood und nicht für NBC, CBS, BBC oder ZDF - gedreht wird hier mit einer sechsstelligen Dollarsumme der bislang aufwendigste Streifen für Besitzer von Video-Recordern.

Bislang schien Video hauptsächlich ein Spaß für Film-Freaks zu sein, die zwischen perversen Pornos und Herzensbrechern à la „Doktor Schiwago“ alles auf VHS- und Betamax-Kassetten erwerben können, was das Auge begehrt. Die Rockmusik stieg erst spät in dieses neue Medium ein, nutzt es nun aber offenbar umso intensiver.

Seine Feuerprobe in der Musikszene bestand das neue Medium vor einem knappen Dreivierteljahr. Da sendete der ARD „Musikladen“ ein Video mit dem Song „Fade To Grey“ von der bis dahin gänzlich unbekannten Band Visage. Drei Wochen später stand die Single auf Platz 1 der deutschen Verkaufs-Hitparade ein Blitzerfolg, wie es ihn bei uns nur ganz selten gibt. Steve Strange und Visage waren zu diesem Zeitpunkt weder auf Tournee, noch gab es größere Features über sie im Funk und in der Presse. Der Erfolg basierte ausschließlich auf der TV-Ausstrahlung, auf der Präsentation eines ungemein gutgemachten Videos in einer Sendung, die ansonsten nur Live-Auftritte mit Playback im Programm hat.

Für die Plattenindustrie und viele Musiker war dieser Video-Durchbruch auf dem nach den USA zweitgrößten Plattenmarkt der Welt ein elektrisierendes Ereignis. Seit zwei, drei Jahren sinken weltweit fast überall die Plattenumsätze; die ganze Branche sucht händeringend das Licht am Ende des Tunnels. Video scheint einen Ausweg aus der Krise zu eröffnen – nicht nur als Stimulanz für den Plattenkauf, sondern auch als eigenständiges audiovisuelles Medium. Viele Rock- und Pop-Konsumenten wiederum hat das Visage-Video auf den Geschmack gebracht, ihre Musik zuhause nicht mehr nur eindimensional – übers Ohr – zu genießen. Ein Trend, der auch angesichts der speziell für die Bundesrepublik symptomatischen Unterrepräsentation von Rockmusik im Fernsehen (siehe ME 10/81) gut in die Zeit paßt.

Rock im Kino hat schon eine lange Tradition – bereits Mitte der fünfziger Jahre sorgte der Film „Rock Around The Clock“ mit Bill Haley & den Comets für Aufregung, weil die Rock’n’Roll-Fans aus Begeisterung für Haley und aus Frustration über ihren tristen Lebensalltag reihenweise die Kinosessel zertrümmerten. Filme wie „Woodstock“, „Gimme Shelter“ mit den Stones, „Tommy“ mit den Who oder „Pink Floyd in Pompeji“ haben sich seitdem als treibende Kraft der Rockgeschichte entpuppt – und ein Großteil von ihnen wurde jetzt auf Video überspielt und wird in Kaufhäusern, Plattenläden oder Video-Fachgeschäften als handliche VHS- oder Betamax-Kassette angeboten. Der Preis für diese Video-Filme liegt zwischen 100 und 200 DM und richtet sich nach der Kassettenlänge: 30 Minuten gibt es für rund 100 Mark, 60 Minuten für 150 Mark und 90 Minuten für etwa 180 Mark. Viele Läden verleihen Videos jedoch auch, und dann muß für eine Leihzeit von einigen Tagen oder ein paar Wochen nur noch ein Viertel oder Fünftel des Kaufpreises bezahlt werden. Video-Recorder, die ebenso wie das Fernsehgerät für den Augenschmaus notwendig sind, kosten 2000 Mark und mehr: Das neue Medium ist also nicht billig und momentan wohl nur für jenen Teil des Rockvolkes erschwinglich, der schon mit Elvis oder den Beatles großgeworden und seitdem in gutbezahlte Jobs hineingewachsen ist.Oder aber der Papa zahlt’s.

Entsprechend sieht auch das Programm aus, mit dem derzeit Vertriebsfirmen wie „Videoring“, „PolyGram Video“ (Hamburg), „VAF“ (Frankfurt), „Atlas Videothek“ (Duisburg), „Rainbow/VCL“ (Frankfurt), „Video-Filmversand“ (Govi-Hamburg) oder „ME-Video“ (7809 Simonswald; „ME“ steht für Manfred Eichelhardt und hat nichts mit dem Musik Express zu tun!) in Deutschland den Handel beliefern. Neben den schon erwähnten Musikfilmen findet man da seitenweise Video-Mitschnitte von Konzerten etablierter Gruppen: Chicago, den Kinks, Linda Ronstadt, Rod Stewart, die Beach Boys, Chuck Berry, Cream, Thin Lizzy, ELO, Santana, Who, Black Sabbath, Elton John, lO cc und die Beatles in New York, in Washington, in Tokio. Relativ dünn dagegen ist noch das Angebot an aktueller Musik: Hier werden zum Beispiel angeboten die Boomtown Rats live, der Kultfilm „Breaking Glass“ mit Hazel O’Connor oder der Mitschnitt vom „Reggae Sunsplash“ des Jahres 1979 mit Bob Marley, Tnird World, Peter Tosh und Burning Spear. „Video In Concert“ überschreibt eine Vertriebsfirma folgerichtig diesen Ausschnitt aus ihrem Katalog: eine Alternative für all jene, die nicht mehr bereit sind, 50 bis 70 DM für einen einzigen Konzertbesuch mit der Freundin oder dem Freund hinzulegen oder die keine Lust mehr haben, immer drei bis vier Jahre auf das nächste Pink Floyd oder Rolling Stones-Konzert zu warten.

Das bloße Abfilmen von Live-Auftritten ist indes bei weitem der langweiligste Aspekt des neuen Mediums. Viel interessanter wird es da, wo die kreative Avantgarde der Rockmusiker Video als eigenständiges Medium begreift und mit der Kamera ebenso virtuous umgeht wie mit dem Mikrofon oder der Gitarre. Seit Genesis „The Lamb Lies Down On Broadway“ inszenierte, seit Eberhard Schoener mit Laserstrahlen „Video-Magic“

in den Konzerthallen zelebrierte, seit Frank Zappa „2000 Motels“ in Szene setzte, liegt die Synthese von akustischem und visuellem Rock bereits in der Luft. Video ist der passende Träger für dieses Experiment: Dank moderner Elektronik kann der Musiker mit relativ geringem technischem Aufwand arbeiten, wo immer er will; Hollywood mit seinem gewaltigen Aufwand an Menschen, Maschinen und Geld braucht er nicht mehr. Er kann die Video-Technologie nutzen, um einen neuen Song ganz auf seine Art zu illustrieren, um die akustische Komposition durch eine völlig eigenständige optische Komposition zu ergänzen.

In den vergangenen Jahren sind bereits eine ganze Reihe brillanter Videos auf diese Weise entstanden. Einen legendären Ruf zum Beispiel hat das erste Devo-Video, in dem die Band zu den Klängen von Jocko Homo“, „Secret Agent Man“ und „Satisfaction“ roboterhaft durch Fabriken und eine sterbende Stadtlandschaft irrt; das wahrhaft bezaubende Video, das die Buggles zu den Klängen von „Video Killed The Radio Star“ fertigten; die Baliett-Szenen, mit denen die Talking Heads ihr Video von „Crosseyed And Painless“ schmückten; die traumhaften Sequenzen, mit denen Steve Strange sein „Fade To Grey“ oder Ultravox ihr „Vienna“ per Video populär machten. Die besten Videos solcher Machart sind ohne Zweifel Vorboten einer neuen audiovisuellen Kunstrichtung und stammen von New Wave-Interpreten aus Großbritannien. Amerika dagegen kommt in diesem Bereich – Ausnahmen wie Devo oder die Talking Heads bestätigen die Regel – vorläufig noch nicht über die seichte Ebene von Werbespots hinaus.

Deutschland hinkt der Entwicklung noch hinterher, obwohl seit kurzem Musiker der neuen deutschen Welle mit immer besseren Produktionen zeigen, daß Video auch ihr Medium ist.

Finanziers dieser Videos, die in der Regel einen Song umfassen und technisch meist hervorragend ausfallen, sind fast immer Plattenfirmen. Sie legen jeweils 15.000 bis 25.000 DM auf den Tisch, um ihre Künstler per Video zeitgemäß promoten zu können.

Hergestellt werden die Videos aber von den Künstlern selbst in Zusammenarbeit mit Videofilmern, die speziell in England das neue Medium innerhalb kürzester Zeit auf ein unerwartet hohes Niveau geschraubt haben und Kunst produzieren, obwohl ihre Auftraggeber lediglich ein brauchbares Werbemittel verlangen. Diese Ehe von Kunst und Kommerz hat jedoch einen Haken: Vielen Fernsehanstalten ist sie nicht seriös genug – und deshalb verstauben nicht wenige der ausgezeichneten Videos in den Archiven der Plattenfirmen anstatt über die Fernsehschirme zu flimmern.

Kaum Probleme mit ihren Videos haben Plattenfirmen in Großbritannien, Belgien oder USA, wo kommerzielle Sender oder Kabelstationen gerne zugreifen. Deutschland bildet den anderen Pol: Hier fürchten die öffentlich-rechtlichen Anstalten bekanntlich alles, was nach Privatindustrie riecht, mehr als der Teufel das Weihwasser; Nur ein einziges TV-Programm – Steffi Schoeners „Pop Stop“ im dritten Kanal von Bayern und Baden-Würtemberg – setzt die kostenlosen Industrie-Videos ständig ein und gilt auch deshalb als aktuellstes und bestes Rock-Programm im Deutschen Fernsehen. Hin

und wieder läuft auch ein Industrie-Video im „Beat Club“ (III. Programm Nordkette) oder im „Musikladen“ – ansonsten Fehlanzeige.

Daß man hier noch einen Schatz heben kann, entdecken inzwischen jedoch immer mehr kommerzielle Video-Vertriebsfirmen. Mehrere von ihnen verhandeln bereits mit der Platterundustrie, um deren Promotion-Videos jedermann zugänglich zu machen. Unternehmen wie „PolyGram Video“, „RCA“ oder „Rainbow“ denken an Video-Sampler, für die sie bei den Plattenfirmen jeweils die neuesten Hits auf Video einkaufen. Vorgesehen sind auch Eigenproduktionen. In Frankfurt entsteht auf dem Reißbrett zur Zeit eine ganze Video-Zeitung, die „Playboy“-Leser im Visier hat und in Zukunft regelmäßig Kassetten mit Kurzfilmen, Werbung, nackten Mädchen und Edelrock nach Art von Blondie oder Robert Palmer anbieten will. Bereits aus den Kinderschuhen heraus ist das Projekt, Video-Sampler in Discotheken unterzubringen, die sie dann ihren Gästen zeigen: die Hamburger Firma „Video Disco“ beliefert bereits 150 deutsche Discos mit einem Querschnitt durch die Video-Archive der Plattenindustrie.

Der Handel mit den Discotheken funktioniert ganz einfach, da die Plattenindustrie ihre Videos in diesem Fall als reine Werbemittel deklariert (schließlich holen sich viele Leute in den Discos Anregungen für den Plattenkauf) und deshalb kaum Probleme bekommt mit Tantiemen, Künstlerverträgen und so weiter. Ganz anders sieht es jedoch bei den Video-Vertreibern aus, die ihre Ware ganz normal im Kaufhaus anbieten. Da wollen wie bei jeder Schallplatte die Künstler, die Musikverlage und die Plattenfirmen mitverdienen. Rechtlich betritt man Neuland, beispielhafte Absprachen oder Vereinbarungen existieren noch nicht. In den Lizenzverträgen, die deutsche Plattenfirmen mit ausländischen Partnern wie A&M, Island, Virgin oder Motown abgeschlossen haben, sind Video-Rechte fast immer ausgeschlossen. Ebenso sieht es bei Verträgen aus, die direkt mit Musikern vereinbart wurden. Das Video-Geschäft ist zwar noch jung, aber den Braten haben die Musiker schon seit langem gerochen. Grace Jones etwa wird immer ärgerlich, wenn das Fernsehen sie länger als ein paar Minuten filmt, denn ihre Videos produziert sie lieber in Eigenregie.

Um all diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, gründen immer mehr Plattenfirmen eigene Video-Divisions. Denn wenn ein Video zum Beispiel in Deutschland 2000mal verkauft wird, erreicht der Gewinn bereits eine interessante Größenordnung. Und die Plattenindustrie würde nur zu gerne all ihre teuer produzierten Promotion-Videos auf den Markt werten, vorausgesetzt, der Platten verkauf leidet darunter nicht noch mehr. Die Verkaufszahl von 2.000 Stück pro Video ist sogar realistisch, denn exakt soviele Exemplare wurden bislang vom Video mit Elton John im Central Park in der Bundesrepublik abgesetzt. In England dagegen läuft das Geschäft weniger gut: Dort rangiert ein Motörhead-Video in der Video-Hitparade, obwohl davon bloß 500 Stück über den Ladentisch wanderten.

Das englische Beispiel deutet an, daß sich hinter dem Video-Boom noch eine Rechnung mit vielen Unbekannten verbirgt. Die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage auch in Deutschland läßt offen, ob die Nachfrage nach teuren Video-Recordern und teuren Video-Kassetten in den nächsten Jahren weiter steigt. Nur rasch kletternde Absätze werden die Hardware wie die Software jedoch billiger und damit für einen größeren Kundenkreis erschwinglich machen. Im Musiksektor ist zudem die Digitaltechnik auf dem Vormarsch, und nach der Umrüstung der Aufnahmestudios folgen in den kommenden Jahren die „Digitalisierung“ der Schallplatte selbst sowie der Abspielgeräte bei den Verbrauchern. Rockfans, die ihre Stereo-Anlage dann auf den neuesten technischen Stand bringen möchten, sollten schon jetzt anfangen zu sparen.

Serienreif für den europäischen Markt (in den USA bekommt man sie schon) ist schließlich auch die Bildplatte nach dem Sony-System, die später einmal zum gleichen Preis wie eine gewöhnliche Langspielplatte verkauft werden soll, obwohl sie gleichzeitig akustische Stereoqualität und optische Video-Qualität bietet. Ohnehin spricht vieles dafür, daß die Bildplatte als perfekte Synthese von digitaler Schallplatte und Video den Sieg im audiovisuellen Rennen der achtziger Jahre davontragen könnte. Die heutigen Video-Systeme VHS und Betamax waren dann nur die Vorstufe einer weitergreifenden technologischen Innovation. Warten wir also ab, ob die Buggles vor drei Jahren tatsächlich die richtige Vision hatten, als sie ihr „Video Killed The Radio Star“ komponierten.