Erinnerungen


Der Zug hatte Verspätung und ich wusste, dass ich meinen Anschluss nach Hamburg verpassen würde. Das war eigentlich nicht tragisch, denn niemand erwartete mich, aber zwei Stunden auf einem nasskalten Bahnsteig zu warten, erschien mir dennoch kein Vergnügen. In zehn Minuten musste der Zug in Bremen sein. Ich war nervös und in mir war eine Spannung, die sich auch nicht mit Zigaretten betäuben liess. Ich dachte nicht gern an Bremen und hatte versucht, alle Erinnerungen, die mich an diese Stadt verknüpften, aus meinem Gedächtnis zu streichen. Es war mir nicht gelungen. Als der Zug hielt, nahm ich meinen Koffer und zog meinen Mantel an. Draussen blieb ich einen Augenblick unschlüssig stehen und hielt die Hand vor die Augen. Es schneite und der Wind trieb die Flocken in mein Gesicht. Sie verfingen sich in meinen Wimpern. Ich wartete, bis der Zug abgefahren war, dann suchte ich einen Fahrplan. „Joe“, dachte ich. „Hier hab‘ ich mit ihm gestanden, genau vor einem Jahr“. Ich versuchte, mich an sein Gesicht zu erinnern. Es gelang mir nicht. Ich erinnerte mich an seine Haarfarbe, wusste, dass seine Augen in der Sonne hellgrün waren und in der Nacht dunkelbraun, fast schwarz. Ich konnte noch genau beschreiben, was er an jenem Tag getragen hatte, als er mich zum Zug brachte. Als er mir die Hand gab und der Zug abfuhr und ich mich von Minute zu Minute mehr von ihm entfernte, glaubte ich, es nicht mehr ertragen zu können. Aber ich ertrug es, weil er es so wollte. Er hatte ein anderes Mädchen. Ich konnte aus dem Fahrplan nicht ganz schlau werden und fragte einen Schaffner nach der nächsten Zugverbindung. „In zwei Stunden geht der nächste“, antwortete er. Langsam verliess ich den Bahnhof. Auf den Strassen war der Schnee geschmolzen und hatte sich in Matsch verwandelt. Es war kalt und ich steckte die Hände in die Manteltaschen. Sie waren feucht und wärmten mich nicht. Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich hielt die Ungewissheit nicht mehr aus, ich musste ihn einfach wiedersehen. Rasch lief ich die Strasse entlang und fand bald das Haus in dem er wohnte. Alles war ganz anders, er wohnte im sechsten Stock und als ich oben war, blieb ich ein paar Minuten lang regungslos stehen und holte Luft. Ich war nervös und bereute meinen voreiligen Entschluss. An seiner Tür befand sich kein Namensschild. Auch damals hatte sein Name nicht an der Tür gestanden. Ich klingelte. Es rührte sich nichts. Ich klingelte zum zweitenmal. „Er wird nicht zu Hause sein“, dachte ich. „Es war dumm von mir, anzunehmen, er wäre hier…“ Als ich gehen wollte, wurde plötzlich von innen die Tür aufgerissen. Ein Hund bellte und sprang an mir hoch. Da stand er und starrte mich an. Er rief seinem Hund etwas zu, der sofort von mir abliess und ins Haus trottete. Seine Haare waren zerzaust, er sah müde und abgespannt aus. „Du .. .?“ Er war überrascht und doch merkte ich, dass er sich freute, mich zu sehen. Er liess mich hinein, ich blieb ein paar Sekunden in der Türöffnung stehen. Das Zimmer hatte sich nicht verändert und doch schien alles ganz anders zu sein. Auch Joe war nervös. Er steckte sich eine Zigarette an, nahm ein paar kurze, rasche Züge und warf sie dann achtlos in den Aschenbecher. „Schön, dass du gekommen bist“, sagte er plötzlich unvermittelt. „Ich habe oft an Dich gedacht, in der letzten Zeit.. .“ Das war eine Lüge, ich wusste, dass er nicht mehr an mich gedacht hatte, ich war nicht mehr interessant für ihn, er hatte mit mir Schluss gemacht. „Ich kann nicht lange bleiben“, sagte ich und sah auf die Uhr. Er lächelte. „Du hast niemals viel Zeit gehabt“. Ich wusste nicht, was er damit meinte und schwieg. Ich sah ihn an und merkte, dass wir uns fremd geworden waren. Joe versuchte ein ungezwungenes Gespräch in Gange zu bringen und erzählte mir von seinen Plänen, von seinen Freundinnen und von all den Dingen, die ihn interessierten. Er redete zu schnell und zu laut. Er übertrieb und gab an. Als er merkte, dass er keinen Eindruck auf mich machte, setzte er sich zu mir und nahm meine Hand. „Du hast kalte Finger“, sagte er und ich versuchte, ihm meine Hände zu entziehen. „Mir ist auch kalt“, sagte ich. „Warum bist du gekommen?“ fragte er plötzlich unvermittelt. „Ich zuckte mit der Schulter. „Keine Ahnung. .. ich wollte wissen, ob ich noch etwas für dich empfinde“, antwortete ich dann wahrheitsgetreu. „Und …?“ er sah mich erwartungsvoll an. „Ich glaube, ich empfinde nichts mehr!“ „Hab ich mich verändert?“ Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Nein, du hast dich nicht verändert, es liegt an mir“. Ich sah auf die Uhr, es machte ihn nervös und irritierte ihn. „Lass‘ das“, sagte er. Ich wusste, es befriedigte ihn nicht, dass ich so kühl war, er wollte Eindruck machen. Er hatte immer bekommen, was er wollte und ich hatte ihn und seine Eitelkeit verletzt. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr zu reden, ich wollte nicht, dass er über mich oder unser Verhältnis zueinander sprach. Ich wollte meine Ruhe haben und wünschte, auf dem Bahnsteig geblieben zu sein. Er legte eine Platte auf und ich versuchte, die Musik zu erkennen. Ich liess mich treiben und dachte an nichts. Noch immer sass er neben mir und noch immer hielt er meine Hand. In mir war alles leer. Ich fühlte nichts mehr. Gleichzeitig war ich traurig, weil ich nichts mehr für ihn empfand. Ich stand auf, es hatte keinen Sinn mehr. „Du kannst jetzt noch nicht gehen“, sagte er ohne Überzeugung. „Ich lachte. „Willst du mich festhalten?“ „Natürlich nicht“, antwortete er beleidigt. „Bedeute ich dir wirklich nichts mehr?“ Als ich nichts sagte, stand er auf. „Du hast dich verändert…“ „Ich weiss“, entgegnete ich und lächelte.

DER ABSCHIED Joe bestand darauf, mich zum Bahnhof zu bringen und so liefen wir schweigend nebeneinander her. Ein leichter Wind strich durch die Strassen, es hatte aufgehört zu neien. Ich vermochte keinen klaren Gedanken mehr zu fassen, ausser: „Das ist ein Abschied für immer, ich werde ihn nie wiedersehn“. Der Gedanke hätte mir eigentlich weh tun müssen, aber ich empfand eher Erleichterung. Ich wusste. diesmal würde er an mich denken und ich glaubte ihm, als er mir versprach zu schreiben. Doch ich wusste, dass mir seine Briefe nichts mehr bedeuten würden.

Als der Zug abfuhr und er mir noch einmal die Hand drückte, winkte ich, bis ich nur noch einen kleinen schwarzen Punkt am Ende des Bahnsteiges erkennen konnte. Ich wusste, dass Bremen keine Bedeutung mehr für mich haben würde. Und auch der Name Joe würde mir kein Herzklopfen mehr verursachen.

EIN NEUER BEGINN Ich lehnte mich zurück und musterte die Menschen, die mit mir im Abteil sassen. Mir gegenüber sass ein Knabe, der mich beobachtete. Er hatte lange braune Locken und grosse Augen. Er trug eine Jeans und einen Mantel aus braunem Lammfell. Er war mir sympathisch. Er lächelte mich an und hielt mir seine Zigaretten vor die Nase. „Rauchst du?“ Ich nahm eine Zigarette und zündete sie mit dem Feuerzeug an. das er mir hinhielt. Für einen Bruchteil einer Sekunde berührten sich unsere Hände, es war wie ein elektrischer Stromschlag. Ich nahm ein paar tiefe Züge und sah aus dem Fenster. Bremen lag jetzt weit hinter mir und die Erinnerungen gehörten jetzt der Vergangenheit an. In ein paar Wochen würde ich kaum noch daran denken. Ich lächelte meinem Gegenüber zu und stellte befriedigt fest, dass er mein Lächeln erwiderte. „Ich will ihn kennenlernen“, nahm ich mir plötzlich vor und wusste, dass das ein neuer Anfang war.