„ES BRICHT MIR IMMER NOCH DAS HERZ.“ DAVE GROHL


Sicher, es mag ein monumentales Mahnmal innerer Zerrissenheit sein, aber wann immer ich an IN UTERO denke, stellen sich bei mir ganz andere Assoziationen ein: Ich höre zwar, wie die Band ihre kollektive Weisheit in die Waagschale wirft, um Cobains dunkle Dämonen ans Licht der Realität zu locken und sehe vor meinem inneren Auge doch nur das Foto eines Mannes, dessen Arsch in Flammen steht. Unser Staunen angesichts eines Kunstwerks führt nun mal schnell dazu, die allzu menschlichen Prozesse zu verdrängen, die der Entstehung des Kunstwerks vorausgehen. Anders gesagt: Ständig nur Cobains „dunkle Seite“ in den Vordergrund zu zerren, wird seinem Andenken mit Sicherheit nicht gerecht. Er war es schließlich, der Produzent Steve Albini dazu animierte, sich mitten in der Nacht ans Telefon zu setzen und nichts ahnende Zeitgenossen mit Scherzanrufen zu terrorisieren. Er war es, der sich totlachte, als Dave Grohl Isopropanol auf seine Arschbacken rieb und dann abfackelte, damit sich Albini seine Zigarre anzünden konnte.

Nirvana verehrten Albini, aber sein Ruf als cholerischer Zeitgenosse muss ihnen im Vorfeld auch auf dem Magen gelegen haben. Sie waren eine ehemalige Punkband, die sich plötzlich im Mainstream wiederfand – während er den gesamten musikindustriellen Komplex abgrundtief hasste. „Ich war schon ein bisschen nervös, ob die Sessions wirklich glatt über die Bühne gehen würden“, gibt Grohl heute zu. „Aber er ist einfach ein brillanter Typ mit einem völlig abseitigen Humor. Es war jedenfalls das erste Mal, dass ich im Studio jemanden traf, der’s wirklich draufh atte.“

Warum fiel die Wahl für IN UTERO auf Steve Albini?

DAVE GROHL: Zunächst und vor allem: wegen des Sounds. Wir liebten GOAT von The Jesus Lizard, wir liebten das erste Breeders-Album, wir liebten SURFER ROSA von den Pixies. Es hatte viel mit dem Drum-Sound zu tun und dem natürlichen Klang, der all diesen Alben gemein war. Als wir mit NEVERMIND anfingen, hatten wir eigentlich genau diesen Sound im Ohr. NEVERMIND entwickelte sich dann in eine völlig andere Richtung, aber wir wollten noch immer mit Steve arbeiten. Nach NEVERMIND klickte irgendwas in Kurts Kopf: Er war der Überzeugung, dass das Album nicht den wahren Sound der Band wiedergab. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass ihm dieser unglaubliche Erfolg unangenehm war, aber das klangliche Resultat von NEVERMIND spielte definitiv auch eine Rolle. Über Nacht war aus diesem kleinen, glücklichen „bundle of love“ ein „monster freakout“ geworden. Eine der wundervollen Eigenschaften von IN UTERO ist die, dass es die Entwicklung der Band zu diesem Zeitpunkt exakt widerspiegelt.

Wie würdest du die Zeit charakterisieren, in der diese Songs geschrieben wurden?

Als NEVERMIND durch die Decke ging, traten wir sofort auf die Bremse. Im Februar ’92 hörten wir auf, mit dem Album zu touren. Kurt war zwar schon mal in der Rehab gewesen, warf aber so viel Drogen ein, dass ich dachte: „Ob wir je noch einmal zusammenkommen werden, um gemeinsam Songs zu schreiben?“ Krist und Kurt kamen dann tatsächlich im Frühjahr ’92 zu mir nach Hause, um „Oh, The Guilt“ aufzunehmen, die als Split-Single zusammen mit einer Nummer von Jesus Lizard erschien. Inzwischen wurde weitaus mehr Wert auf Spontaneität gelegt – der Sound war erheblich rauer. An diesem Tag spielte uns Kurt auch die Riffs von „Farmer Frances“ und „Very Ape“ vor. Und ich dachte mir: „Dann wird’s also wohl doch noch ein weiteres Nirvana-Album geben.“ Aber diesmal schlossen wir uns nicht wochenlang in einen Proberaum ein, wie wir es vor NEVERMIND getan hatten. Wir hatten nur eine Handvoll lockerer Proben, bei denen eigentlich nur gejammt wurde. Auch die Demos aus Rio sind nichts als Jams. Kurt hatte inzwischen Pavement entdeckt, was sich als wichtiger Einfluss herausstellen sollte.

Was war dein Bauchgefühl, als die Arbeit an IN UTERO abgeschlossen war?

Ich erinnere mich, dass ich das Tape Ian MacKaye (Seattle-Szene-Guru – Anm. d. A.) vorspielte – und bei „Scentless Apprentice“ hörte er die Zeile: „You can’t fire me ‚cos I quit“. Er schaute mich an und meinte: „Dave, das klingt ganz schön abgefuckt.“ Mir war es bis dahin gar nicht so recht ins Bewusstsein gekommen, doch als ich die Lyrics in Ruhe las, wurde mir klar, dass sie von einem wirklich düsteren Ort kommen mussten. Es war also nicht immer leicht, das Album zu hören, aber ich liebte den Sound. Ich hatte mir immer gewünscht, meine Drums von Steve Albini aufnehmen zu lassen.

Legtet ihr euch ins Zeug, um bei ihm Eindruck zu schinden?

Keine Frage, wir wollten von ihm respektiert werden – er war schließlich eins unserer Idole. Aber natürlich war da auch immer dieses Schuldbewusstsein des alten Punkrockers, der plötzlich in einer Multi-Platinum-Band spielt. Wir hofften, dass sich unser Held mit dieser Tatsache anfreunden konnte.

Wir können nun den Albini-Mix mit dem Litt-Remix vergleichen. Welche Version ist dir lieber?

Es gibt subtile Unterschiede, aber selbst wenn Scott eine Albini-Aufnahme mischte, klang sie immer noch wie Steve. Es gab da wohl auch ein Abkommen, das uns verbot, die Aufnahmen überhaupt noch zu verändern, nachdem wir das Studio verlassen hatten. Ich glaube, dass wir schlicht und einfach vergaßen, das Ding zu unterschreiben. Kurt und Steve kriegten sich deswegen wohl eine Weile in die Haare -was mich überraschte, weil wir wirklich bestens miteinander klargekommen waren.

Für die „In Utero“-Tour verstärkte Pat Smear die Band. Gab er neue Impulse?

Es war vor allem eine große Dosis Lebensfreude und Positivität, die Pat der Band in den letzten Monaten verpasste. Wir hatten ja schon länger einen zweiten Gitarristen ins Auge gefasst. Wir sprachen mit Steve Turner, wir sprachen mit Buzz Osborne, aber natürlich wollten wir nicht der Auslöser sein, dass sich Mudhoney oder die Melvins deswegen auflösten. Bei einem Trip nach Los Angeles hatte Kurt den „SST Superstore“ besucht, wo Pat damals beschäftigt war. Sie hatten spontan einen guten Draht. Bei einer der ersten Proben versuchten wir, „The Man Who Sold The World“ zu spielen – und wir drei kriegten es einfach nicht gebacken. Bis Pat sagte: „Nein, man muss es einfach so spielen.“ Und ich dachte noch: „Endlich gibt’s einen richtigen Musiker in der Band!“ Mit Pat an Bord entspannte sich die Situation jedenfalls erheblich: Kurt und Courtney lebten in ihrer Welt, Krist und ich in einer anderen – und Pat schaffte es tatsächlich, zwischen beiden Welten eine Brücke zu schlagen – für eine Weile zumindest.

Die Tour muss für alle eine psychische Belastung gewesen sein.

Ich kann nicht ermessen, wie groß bei Kurt der Wunsch war, in großen Hallen zu spielen und die ganze Welt zu bereisen. Ich weiß nur, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Heimweh hatte. Und ich glaube, so ging’s den meisten von uns. Aber dann sah man Pat und dachte sich: „Wow, der Typ kreuzt hier in der Uniform eines Flugzeug-Stewards auf – so schlimm kann es also gar nicht sein.“

Was hast du aus IN UTERO gelernt?

Es war das erste Album für mich, das wirklich mit dieser „dark side“ in Berührung kam. Ich erinnere mich an die Konflikte, ich erinnere mich an diese ganze Unentschlossenheit. Ich brauche nur „Pennyroyal Tea“ oder „All Apologies“ zu hören – und schon kriechen all diese Situationen aus meinem Gedächtnis. Nachdem Kurt gestorben war, sah ich mir im Sommer das Lollapalooza-Festival in Detroit an. Damals erkannte mich noch niemand, und ich saß inmitten von 30 000 Zuschauern in diesem riesigen Amphitheater und wartete auf die nächste Band. Plötzlich kam „All Apologies“ über die PA. Das ganze Publikum sang mit, während ich Tränen in den Augen hatte. Es war noch alles so frisch: Wir hatten Kurt verloren – und das Album hatte eine ungeheure emotionale Wirkung auf mich gehabt. Es fällt mir noch immer schwer, die Platte zu hören. Ich weiß Albinis Aufnahme und unsere Leistung zu schätzen, aber letztlich bricht’s mir noch immer das Herz, dass dies unser letztes Album war. Weil ich glaube, wir hatten unser Pulver noch nicht verschossen.