Es gibt dieses Paradies nicht


Gentleman will näher an die Roots. Jamaika hilft ihm dabei. Da er der Insel etwas zurückgeben möchte, kämpft er gegen Jamaika-Klischees aus der Werbung,

Auf Jamaika gibt es genug Musik, da müsste man eigentlich nicht noch extra Platz für jemanden von auswärts machen -auf der Bühne oder im Aufnahmestudio. Doch Tilmann Otto alias Gentleman ist es gelungen, sich in der Musikwelt des Inselstaates zu etablieren. Schon sein vor zwei Jahren veröffentlichtes und viel beachtetes Album journey to jah war vor allem das Ergebnis von ausgiebigen Aufenthalten in dem kleinen Land in der Karibik. Ohne große Überredungskünste gelang es dem Kölner, Kollaborationen mit Stars der Reggae- und Dancehall-Szene wie Bounty Killer, Capleton, Morgan Heritage oder Jack Radics klar zu machen. Ganz offensichtlich spürten die Jamaikaner, dass da jemand ist, der ihre Kultur schätzt und sich auch mit ihr identifiziert. Um das zu erkennen, muss man aber auch nicht lange forschen: Gentlemans Herz schlägt klar vernehmlich im Rhythmus des Reggae.

In seinem noch jungen Leben hat der 30-jährige Musiker schon einiges von der Welt gesehen. Indien, Afrika oder die USA beeindruckten ihn auf Reisen in gleichem Maß. Sein erster Trip führte ihn aber 1991 nach Jamaika. Als Schuljunge hatte er über Geschwister die Musik von Dennis Brown (dessen Album WOLF & LEOPARDS sieht er als Auslöser für seine Reggae-Liebe), Peter Tosh, Barrington Levy und Bob Marley entdeckt. Wenig später war für ihn klar, dass er als Volljähriger zuerst in das Geburtsland dieser Musik reisen muss. Was er dort erlebte, prägt ihn bis heute. „In Jamaika habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie wichtig Musik für Menschen sein kann. Sie stellt dort einen Lebenshalt, nicht nur Amüsement dar. In dieser Hinsicht können sich Industrieländer von den ärmeren eine Scheibe abschneiden. Bei uns in Europa dreht sich die Welt so schnell, herrscht Überkonsum und blickt niemand mit Freude auf elementare Dinge des Lebens.“ Ebenso konsumkritisch fiel auch Gentlemans neue Single „Superior“ aus. „Wir haben das Video in Los Angeles gedreht, wo es offenkundig nur um Glitzerwelt und Glamour, aber nicht um wirkliche Substanz geht. Gleichzeitig ist es ein politischer Song, der direkte Fragen an Politiker stellt: Warum müssen Bomben auf arabische Länderfallen? Warum sterben Menschen in Afrika? Warum kämpfen Weltführer nur noch um die Supermacht, nicht für die Menschen?“ Die Single mit Botschaft geht Gentlemans drittem Studioalbum voraus: confidence. Den Titel sollte man nach Aussage des Sängers nicht so sehr mit Vertrauen, Überzeugung oder gar Selbstvertrauen übersetzen. Gentleman gehe es um den Ausdruck von Zuversicht als Antithese zu Zukunftsangst und destruktiven Schwingungen im Allgemeinen. „Ich hatte auch schon Existenzängste in der Vergangenheit, etwa als ich Ausbildung und Schule abgebrochen habe. Anfangs hätte ich nicht darauf gewettet, einmal von Musik leben zu können. Aber ich spürte ein Grundvertrauen in die Sache und hatte keine Erwartungshaltung. Wenn ich im Gefühl des Moments bleibe und daraus meine Musik entwickle, bin ich glücklich. „

Um seiner positiven Botschaft möglichst authentisch Ausdruck zu verleihen, hat sich Gentleman während der Entstehung von CONFIDENCE wieder häufig in dem Land seiner Inspiration aufgehalten. Es sei ihm wichtig, regelmäßig in Jamaika präsent zu sein, live zu spielen oder Interviews zu geben, denn wer dort Fuß fasst, werde, so glaubt er, in der gesamten Welt wahrgenommen. Jamaika leistete als Museninsel zudem ganze Arbeit: Wo sich Gentleman früher mühen musste, ein Album zu füllen, fliegen ihm die Ideen heute zu. Obwohl in Jamaika immer noch sehr beliebt, sind allerdings die Dancehall-Rhythmen aus dem Computer zugunsten des klassischen Reggae-Flairs gewichen. „Ganz ehrlich: Die Dancehall-Stücke auf meinen bisherigen beiden Alben kann ich mir heute nicht mehr anhören. Die RootsReggae-Sachen dagegen schon noch. Dancehall ist von den Sounds her viel vergänglicher. Außerdem geht es in den Texten zu dieser Musik häufig nur um Goldketten, Bitches und Autos, und solcheThemen sprechen mich nicht an. (…) Man muss Leute wie Bounty Killer allerdings auch verstehen. Der ist im Ghetto groß geworden, hat miterlebt, wie Freunde undVerwandte erschossen wurden „, stellt Gentleman heraus – dieses Jamaika, dessen Gewalt einen weitaus ruderen künstlerischen Ausdruck geradezu provoziert, ist nicht sein Jamaika. „Ich verurteile es auch nicht, wenn jemand über Pussys und Titten redet, aber was ich mit meiner Freundin im Schlafzimmer mache, behalte ich lieber für mich.‘ ‚Der Öffentlichkeit wird die Lebenspartnerin deshalb aber nicht vorenthalten. Tamika kann nämlich gut singen, weshalb sie im Song „Weary No More“ auf confidence als Gastvokalistin auftritt. Bei der Betrachtung musikalischer Stilnuancen wird deutlich, wie wenig Gentleman mit Trends anfangen kann. Das gilt nicht nur für die Musik, sondern auch in Bezug auf die gesamte Werbeindustrie, die in Jamaika nicht mehr als den Imageträger für einen Modetrend sieht. Es gibt kaum eine Sportabteilung, die nicht mit einer Garnitur in den Nationalfarben Jamaikas Kunden locken will. Das Land selbst hat von diesem Werbefeldzug gar nichts. „Es ist schlimm, wenn man sieht, wie durch Werbung und Mode bestimmte Klischees bedient werden. Durch die Staffelläufer im Puma-Spot oder den lachenden Rastamann unter Palmen wie in der Kitkat-Werbung entsteht das Bild von einem karibischen Paradies, in dem Friede, Freude, Eierkuchen herrschen. Aber es gibt dieses Paradies nicht. Jamaika gehört zur Dritten Welt, das politische System ist verkorkst, die Menschen hungern.“

Bei aller Konzentration auf die Karibik lässt Gentleman das Geschehen in seiner Heimat aber nicht kalt. Er registriert es mit Wohlwollen, wie die Reggaeszene in Deutschlands wächst. Seeed und die Sam Ragga Band gehören neben ihm schon zu den Pionieren, Talente wie D-Flame oder Nosliw melden Ambitionen an. „Das sind alles Leute, bei denen Musik aus dem Herzen kommt. Die Bands und Künstler verstehen sich auch alle ganz gut. Im Gegensatzzum HipHopgihtes im Reggaekein Konkurrenzdenken. Alle wissen, dass man zusammen viel mehr bewegen kann. Ich hoffe, das bleibt noch eine Weile so. „Gentleman selbst will daran arbeiten – als Talentschmied. Es begeistert ihn, wenn er Demobänder von 14-jährigen Reggaefans aus Buxtehude bekommt, die an ihrem Computer die unglaublichsten Dinge veranstalten. Solchen Nachwuchs will er zukünftig mit eigenen Signings für sein Label Bushhouse Music fördern. Noch fehlt ihm aber die Zeit, das gezielt zu tun. Erst einmal zieht der Kosmopolit wieder in die Welt hinaus, um dort Zuversicht zu verbreiten – im Rhythmus des Reggae.